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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

777–779

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Selderhuis, Herman J., u. Ernst-Joachim Waschke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und Rationalität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 317 S. = Refo500 Academic Studies, 17. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-55079-3.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die aus Anlass der 500. Wiederkehr der Promotion M. Luthers zum Doktor der Theologie (1512) abgehalten wurde. Er bietet auf unterschiedlichem Niveau eine bunte Vielfalt von meist überblicksartig abgehandelten Themen, die perspektivisch Wichtiges zur Diskussion stellen und auf Forschungsdesiderate hinweisen.
Ein erster Teil widmet sich den Wittenberger Kontexten.
H. G. Walther zeichnet in der nötigen Klarheit die erfolgreiche Etablierung der Leucorea im Rahmen der ernestinischen Universitätsgründungen nach. A. Kohnle und B. Kusche präsentieren einige vorwiegend den Forschungsstand resümierende Beobachtungen zu Strukturen und Personen, Ausstattung und Finanzierung, Räumlichkeiten und Lehrprofil der Wittenberger Theologischen Fakultät zwischen Gründung (1502) und dem vom Bibelhumanismus inspirierten reformatorischen Aufbruch um 1518. Weitere Studien etwa zum Lehrbetrieb und zum Promotionswesen scheinen dringend geboten. – V. Leppin geht in einem instruktiven Beitrag der Rolle der Disputationen in der Anfangsphase der Wittenberger reformatorischen Bewegung nach. Karlstadt und Luther griffen offenbar die von J. Eck in Disputationen vorgeführte »inszenatorische Zuspitzungstechnik« (52) auf, welche das eigene Re­formanliegen als Alternative zur herkömmlichen Lehre darzustellen erlaubte. – Den Rechtsgrundlagen und vor allem den im Sta-tutenbuch der Theologischen Fakultät detailliert niedergelegten Ri­tualen der Wittenberger theologischen Doktorpromotionen widmet sich erstmals der Beitrag von H. Lück und S. Weise. Im Anhang findet sich dankenswerterweise eine Edition des 1599 niedergeschriebenen, auf ältere Vorlagen zurückgehenden Textes aus dem Statutenbuch.
Der zweite Teil des Sammelbandes weitet die Perspektiven.
G. Frank schlägt mit seinen »philosophischen Aspekten der Reformation« kundig den Bogen von Luthers existenzerhellender Erfahrung mit dem biblischen Gotteswort und der Neubegründung der Bibelautorität zu M. Heideggers existentialer Interpretation und Fundamentalontologie sowie zu der nach W. Dilthey und H.-G. Gadamer im protestantischen Schriftprinzip wurzelnden neueren universalen Hermeneutik. Auch wenn der Reformation »kaum innovative Ansätze von Rationalität« (110) zuzuschreiben sind, wurden deren theologische Grundentscheidungen doch zu beachtlichen Triebkräften der Philosophie des 20. Jh.s. – M. Weichenhan widmet sich der Erneuerung der Wissenschaften unter der Perspektive der Beförderung der Astronomie als mathematischer Disziplin und deren anagogischer Funktion für die Gotteserkenntnis bei Ph. Melanchthon und dessen humanistischem Netzwerk (Wittenberg, Nürnberg, Basel). Dabei wird insbesondere den bereits im 15. Jh. angelegten Grundlinien nachgegangen, so dem platonistischen Erbe in Melanchthons De artibus liberalibus, der Funktion des Quadriviums und der Astronomie als propädeutischer »natürlicher« Theologie und der Bedeutung der Astronomie für die Gotteserkenntnis bei J. Regiomontan und dem wirkmächtigen Proömium des Ptolemaios zu dessen Almagest. Die Verbindung von mathematischer Astronomie und Theologie ermöglichte sowohl die Hochachtung gegenüber der divinatorischen Astrologie als auch die relativ schnelle Rezeption der mathematischen Inhalte der kopernikanischen Astronomie im 16. Jh. – P. Opitz erkundet auf übersichtliche Weise das Spannungsfeld von humanistischer Ra­tionalität und evangelischer Theologie in Zürich anhand von H. Bullingers Studienanleitung (P. Stotz [Hrsg.], Studiorum ratio, 1987) und C. Gessners enzyklopädischer »Rationa-lisierung« der Wirklichkeit auf schöpfungstheologischer Basis. – G. van den Brink skizziert die noch weithin offene Debattenlage zum Verhältnis von Reformation, Rationalität und moderner Wissenschaftsentwicklung, einmal im Blick auf das Luthertum und die frühe (Teil-)Rezeption des Kopernikanismus bei Melanchthon und dessen Umfeld, sodann im Blick auf den Calvinismus und neuere Thesen über den Zusammenhang von augustinisch-pessimistischer An­thropologie und intensiviertem Willen zur empirischen Forschung (P. Harrison). Zu Recht werden mehr komparative Ar­beiten eingefordert.
Ein dritter Teil des Bandes ist den »Auswirkungen« gewid-met – und das heißt hier vor allem den protestantischen Orthodoxien.
A. Goudriaan umreißt die Präsenz augustinischer Themen in der Vernunfttheorie der reformierten Orthodoxie. Dabei kommen neben der Illuminationslehre das Verhältnis von Vernunft und Erbsünde, die Befähigung zum rechten Denken (nach 2Kor 3,5) und die Priorität des Glaubens vor dem Erkennen zur Sprache. – J. Haga erörtert unter dem breiten Titel »Die Metaphysik der lutherischen Orthodoxie« die alte, vor allem von W. Sparn wegweisend behandelte Frage, wie die aristotelische Philosophie bzw. Metaphysik trotz der vehementen Kritik Luthers an deren spekulativen Ansprüchen gegen Ende des 16. Jh.s gerade aus theologischen, von Melanchthon ausgehenden Motiven zum Inbegriff lutherisch-orthodoxer Wissenschaftskultur werden konnte, bis sie im Zuge der fortschreitenden Emanzipation der Philosophie von der Theologie – verdeutlicht am Leipziger Jakob Thomasius, Lehrer von G. W. Leibniz – der Historisierung anheimfiel (»zweiter Auszug des Aristoteles aus der lutherischen Rationalität«, 235). – T. Rasmussen analysiert die Methodenlehre des noch wenig erforschten Kopenhagener Theologieprofessors und Melanchthonschülers N. Hemmingsen von 1555 als Beispiel theologischen Ringens mit der Frage der Rationalität auf dem Gebiet von Bibelauslegung und Predigt. Ratio und Bibeltext wurden hier zu den entscheidenden Größen der Theologie, die keiner älteren Bibelkommentare mehr bedurfte. – A. Szabó widmet sich dem interessanten, weithin vernachlässigten Spannungsfeld von reformatorischer Rationalität und der von hermetischen Traditionen mitbestimmten Renaissance-Wissenschaft, hier bei ungarischen reformierten Theologien um 1600. Grundlage bilden die vom Autor 2003 herausgegebenen Tagebuchnotizen des A. Molnár und andere Aufzeich-nungen zu Träumen und Wunderzeichen. Freilich tragen die psychologisierenden Erklärungsmuster (C. G. Jung) kaum zur historischen Kontextualisierung bei. – A. J. Beck skizziert auf sorgfäl-tige Weise das Verhältnis von Rationalität und Scholastik in der reformierten Orthodoxie. Schwerpunkte liegen bei B. Keckermann und dessen Ablehnung einer »doppelten Wahrheit« in Philosophie und Theologie sowie bei G. Voetius und J. Coccejus und deren Indienstnahme philosophischer Rationalität für den Offenbarungsglauben.
Zum Schluss bietet H. van den Belt anhand des 1625 von Leidener Theologieprofessoren auf der Basis von Disputationen herausgegebenen Handbuchs reformierter Dogmatik, der Synopsis purioris theologiae (3 Bde., 2014 ff.) einen knappen Einblick in die ältere theologische Spannungen signalisierenden An­passungsbemühungen des theologischen Unterrichts, wie sie sich nach der Synode von Dordrecht und der Verurteilung der Re­monstranten ergaben. Dazu zählte die Eingliederung der Prädes­tinationslehre in die Christologie und der Aufgabe weltlicher Obrigkeit in die Lehre der Kirche.
Der Anhang bietet eine Übersicht über die Disputationszyklen und ihre Themen zwischen 1596 und 1639. Der Band, der mit einem Namenregister schließt, bietet trotz mancher Unschärfen im Um­gang mit dem Begriff der Rationalität zweifellos Lesenswertes zum Thema in europäischer und interkonfessioneller Weite. Leider blieb einzelnen Beiträgen die nötige sprachliche Korrektur versagt (man lese nur den letzten Satz auf S. 227 und Anm. 4 auf derselben Seite).