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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

775–777

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Köhler, Joachim

Titel/Untertitel:

Luther!Biographie eines Befreiten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 408 S. m. Abb. Geb. EUR 22,90. ISBN 978-3-374-04420-7.

Rezensent:

Gerhard Müller

Joachim Köhler ist mit Biographien über Nietzsche und Wagner in weiten Kreisen bekannt geworden. Von Wagner zu Luther ist ein weiter Weg. Aber um diese Person geht es ihm, wie das unge-wöhnliche Ausrufungszeichen deutlich macht. K. hat sich in die umfangreiche Überlieferung der schriftlichen und mündlichen Quellen Luthers hervorragend eingearbeitet und auch die neuen Forschungen über ihn herangezogen. Neben der Weimarer Lutherausgabe wird besonders die neue Deutsch-Deutsche Studienausgabe herangezogen. Seine persönliche Deutung Luthers kommt nicht nur im Untertitel des Buches, sondern auch in seinem Vorwort zum Ausdruck, das er mit »Ein wahrhaft menschlicher Mensch« überschrieben hat. K. klagt über die Zunft, die »zu viel an ihm [Luther] auszusetzen hat, um ihn wirklich zu mögen«. Nun muss man ja nicht alle und alles »mögen«, womit man sich befasst, aber ihm gerecht zu werden, das ist den Fachleuten offenbar nicht immer gelungen. K.: »Die mutigen Worte […] in Worms […] sollen eher kleinlaut gewesen sein.« Apodiktisch: »Das ablehnende Bild, das man heute von ihm zeichnet, […] stimmt nicht. Nicht Fakten folgt es, sondern ideologischen Deutungsmustern.« Der »bissige Reformator« wird nicht verschwiegen. Aber dem wird entgegengehalten: Luther »brachte auch die Heiterkeit in die Religion zurück«. Seine »Kreuzzüge«, seine Kämpfe gegen seine Feinde, »lassen sich großenteils auf zeitbedingte Missverständnisse zurückführen«. K. macht deutlich, warum er dieses Buch geschrieben hat: Luther ist »nicht von gestern. Vor fünfhundert Jahren hat er Fragen beantwortet, denen wir uns heute wieder stellen müssen.« Das Werk ist in drei Teile gegliedert: »Bedrängnis«, »Befreiung« und »Bewahrung«. Zwölf Kapitel gibt es, drei in Teil 1, fünf in Teil 2 und vier in Teil 3. Der Hauptakzent liegt auch quantitativ auf Teil 2.
Das 1. Kapitel trägt den Titel »Der vorprogrammierte Sohn«. Vater Hans hatte als aufstrebender Unternehmer mit seinem Äl-testen viel vor und verfolgte seine Ziele autoritär. An die Mansfelder Schule hatte Martin schlechte Erinnerungen. Als er 1496 auf die Domschule in Magdeburg gehen konnte, war der »Terror der Rute« der »Macht des Wortes gewichen«. Aber bereits im folgenden Jahr musste er auf Geheiß des Vaters an die Georgenschule in Eisenach wechseln. Der Vater hielt ihn finanziell knapp, so dass er nicht nur zu singen, sondern auch zu betteln hatte. Seine Liebe zur Musik wurde hier geweckt, was er für die reformatorischen Gemeinden fruchtbar machen konnte. K. schildert Luthers Übergang an die Universität Erfurt 1501, sein Studium in der Artistenfakultät und den Beginn seines Studiums der Jurisprudenz 1505. Er reiste auftragsgemäß nach Mansfeld, wo der Vater deutlich machte, dass er bald heiraten könne. Auf der Rückreise dann das Gewitter bei Stotternheim und sein Eintritt in das Erfurter Augustinereremiten-kloster. Dadurch emanzipierte er sich vom Dirigat des Vaters, was der ihm lange nicht verzieh.
In Kapitel 2 landet Luther im »Fegefeuer«. K. zeichnet den »Studienabbrecher«, der Texte von Plautus und Vergil mit ins Kloster genommen hatte, als zwischen »Teufelsspuk und Himmelsgnade« lebend. Vor allem war ihm Christus »der unerbittlichste Richter«. Staupitz, der ihn 1506 kennenlernte, schätzte ihn sofort und förderte ihn. Staupitz war allerdings nicht »Ordensorganisator«, sondern zeitlich begrenzt lediglich zum Generalvikar für die Klöster seines Ordens in Deutschland und den Niederlanden gewählt worden. Auch war er nicht der »höchste(m) Ordenspolitiker«. Vergeblich bemühte er sich um die Einigung der observanten Klöster mit der Kongregation derer, die die Ordensregel nicht so streng auslegten. In dieser Sache war Luther als Begleiter eines älteren Klosterbruders in Rom 1511 bis 1512, wie K. im Anschluss an Hans Schneider richtig datiert. Ob Staupitz als Luthers Mentor und Beichtvater wirklich für ihn »zum wahren Vater« wurde, kann bezweifelt werden. Denn das Vaterbild von Luther konnte erst wieder positiv aussehen, als er Gott als »Vater« erkannt hatte. Staupitz befreite ihn jedoch aus dem »Teufelskreis der Selbstreflexion«. Luther musste nach seiner Priesterweihe wieder studieren, jetzt Theologie. Das Studium schloss er 1509 ab.
In Teil 2 geht es um das Hauptthema. Luther wird zum »Befreiten«, nachdem er durch die Schule der Anfechtungen gegangen war. Er erkennt »Gottes Gnade in Christus«, die die »ganze Person« erneuert. K. betont die Bedeutung der Mystik für den Befreiten. Luthers Blick ändert sich grundlegend: »Der Mensch dachte nicht, er wurde gedacht.« Vom »menschlichen Gott« wird gesprochen. K. weist nach, dass Staupitz ihn beim Ablassstreit beraten hat. Luther hatte den Ablass seit 1513 bekämpft. Aber Tetzels Auftreten ließ ihn an die Öffentlichkeit treten. Dies hatte seine bekannten Folgen. Luthers Theologie klärte sich: Wer Christus hat, hat alles. K. folgert: Luther griff »das souveräne Ich des modernen Menschen« an. Nicht die »Selbstsucht« hat das letzte Wort, sondern die Buße. Denn wer sich um sich selbst dreht, gerät in einen »Teufelskreis. Dieser führt in die selbst bewirkte Selbstzerstörung. Und die ist die wahre Hölle.« Mit solchen Sätzen gelingt es, die Bedeutung Luthers für uns zum Ausdruck zu bringen. Wo unsere »Verkrümmung« endet, endet auch »das Ich mit seinem Aktionismus und dem ewigen Lärm des Selbstgesprächs«. K. meint: »Zeitlebens hat Luther versucht, das Unsagbare zu sagen.« Ein Beispiel: »Glaube war […] eine Verwandlung, die immer neu aus der Verzweiflung am Glauben anheben musste.« Luther wird zitiert: »Der Glaube rechtfertigt, […] weil er […] den gegenwärtigen Christus […] ergreift und besitzt.« Im Verhör durch Cajetan war Luther nicht zum Widerruf bereit und musste vorsichtshalber überstürzt abreisen. K. spricht hier mit Recht von »großen Auftritten« und nennt neben diesem Verhör die Diskussion mit Johann Eck in Leipzig, die allerdings seine Distanz von der in Rom offiziell gültigen Theologie offenlegte. Wir erfahren, dass 1518 zweihundert deutsche Schriften und 1519 neunhundert erschienen sind oder dass 1521 Luthers Publikationen »bereits in über einer halben Million Exemplaren verbreitet« gewesen sein sollen. Jedenfalls stimmt: »Die ersten Gewinner der Reformation waren die Drucker.« Auch die Hauptschriften des Jahres 1520 werden analysiert. »Die Paradoxie der Freiheit« wurde schon damals nicht verstanden – aber heute häufig auch nicht. »Der Glaubende« ist »ein lebendes Paradox: ›Gerechter und Sünder zugleich‹«.
Der 3. Teil beginnt mit dem Verhör in Worms. K. legt hier Wert auf Luthers Standhaftigkeit. Er setzte es durch, seine Meinung erklären zu dürfen und nicht nur seine Ablehnung eines Widerrufs äußern zu können. Die Bedeutung, die Spalatin nach seiner Abreise aus Worms zukommt, wird betont – wobei dieser nicht immer im Sinne Luthers handelte. Auf der Wartburg habe Luther eine »zehnmonatige Gefangenschaft« durchgemacht. In Wahrheit hat er sich im Dezember 1521 einige Tage unerkannt in Wittenberg umgesehen. Geschützt wurde er auf der Wartburg aber natürlich. Die »Unruhen« in Wittenberg machten ihm Sorgen. K. zeigt, dass Luther jetzt den »dreieinigen Schöpfer« herausstellte, »der sich von seinen Geschöpfen bewegen ließ«. »Im Harnisch« ist ein Kapitel überschrieben, in dem es um Luthers Auseinandersetzung mit Müntzer geht. Über ihn heißt es: »Müntzers Ende […] bildete […] die letzte Konsequenz seiner Verwechslung von Wahn und Wirklichkeit.«
Auch die Antithese Luthers zu Erasmus’ »Vom freien Willen« wird analysiert, aber auch zugestanden: »Dieser humanistische Ansatz – des Erasmus, dass der Mensch sich dem Heil zuwenden kann oder auch nicht – prägte das Selbstverständnis der Moderne.« Zur Bekämpfung der Juden heißt es, dass es um das rechte Verständnis des Alten Testaments ging. Deswegen war hier eine Auseinandersetzung so schwer. Während Luthers Vater zu Martins Primiz ohne seine Frau gekommen war, brachte er sie zu Luthers Kirchgang und Hochzeitsfeier 1525 mit. Des Reformators Grobianismus wird nicht verschwiegen. Aber auch nicht Luthers Lieder, von denen gesagt wird: Sie »verbreiteten den Ruhm der Reformation (richtig: des Reformators) schneller als seine Druckschriften.« Nach dem Bericht über Luthers Sterben wendet sich K. dem Marburger Religionsgespräch (1529) zu. Er verteidigt Luthers Widerstand gegen Landgraf Philipp und Zwingli: Das Abendmahl verstand der Wittenberger »als bleibenden Inbegriff und Höhepunkt von Christi Leben«. Das Abendmahl » war das Evangelium«. Wie sich mit Martin Luther King der Satz verbindet »I have a dream«, so verbindet sich nach K. mit Luther das Wort: »Hoc est corpus me­um«. K. fasst zusammen: Luther erblickte »seine einzige Aufgabe […] darin, die Menschen von der Decke ihrer Blindheit zu befreien und ihre Augen zu öffnen für Gottes liebende Gegenwart«.
Über Luthers Sprachstil im Deutschen heißt es, man könnte ihn »beschwingt nennen«. Auch die Sprache K.s ist bewegend, ja mitreißend. Dass ein Literaturverzeichnis fehlt, ist beim Anliegen K.s nicht schwerwiegend. Nicht solche oder andere Kleinigkeiten wa­ren ihm wichtig. Er wollte vielmehr Verständnis wecken für sein Ausrufungszeichen im Titel. Mit Empathie ist sein Buch geschrieben. Ein kritischer Bericht, der in einer klaren Sprache zeigt, welche Beachtung Luther heute verdient.