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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

773–775

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Greiling, Werner, Kohnle, Armin, u. Uwe Schirmer[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620.

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau Verlag 2015. 438 S. m. 34 Abb. = Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-412-50153-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Der Titel dieses Sammelbandes, hervorgegangen aus einer Tagung in Eisenach im Jahre 2014, ist natürlich plakativ – und wird glücklicherweise durch den Untertitel zurechtgerückt. Fast keiner der Autoren folgt plan dem Schema positiv/negativ. Woran sollte sich dies auch, außer in solch eindeutigen Fällen wie Luthers späten Judenschriften, bemessen? Welche gesellschaftlichen, welche theologischen Kriterien sollten hier angelegt werden? Gleichwohl ist damit eine Aufgabenstellung – die der nachhaltigen Differenzierung – angedeutet, der sich nur ein Autor recht konsequent verweigert: Ralf Frassek verfolgt in seinem Beitrag über das Eherecht (317–330) die Spur einer sehr simplen Erfolgsgeschichte: Das reformatorische Recht ist rational und »selbst nach heutigen Maßstäben« sachangemessen (329). Komplexere Fragestellungen wie die, warum er die Anerkennung von Ehescheidungen als neue Errungenschaft des evangelischen Eherechts beschreiben kann (327 f.), wo doch Luther gerade betonte, er lasse weniger Scheidungen zu als das kanonische Recht, sind diesem Aufsatz fremd. Man mag so vorgehen können – im vorliegenden Band ist der Beitrag, der sich mit der Fragestellung nicht einmal kritisch auseinandersetzt, ein Fremdkörper. Denn eben eine solche eindimensionale Geschichtsbetrachtung war nicht gefragt, sondern ein vorsichtiges Abwägen, das nach den komplexen Zusammenhängen jenseits der Erfolgsgeschichte fragt.
In der Regel wird hier auch nicht das Zwiespältige aus der Wirkungsgeschichte heraus entfaltet, wie es Stefan Gerber in seinem Beitrag über die Deutung der Reformation im 19. Jh. (401–422) und teilweise auch Georg Schmidt in seinem Beitrag zum Gehorsam (201–221) und zu den Judenschriften (109–133) tun. Nicht um die Wirkung geht es, sondern tatsächlich um die Implikationen, d. h. das, was aus der historisch rekonstruierbaren Konstellation des 16. Jh.s heraus beschreibbar ist. Der Rezensent gesteht, dass er sich gewünscht hätte, diese Fragestellung in einer ausführlichen Einleitung erläutert zu sehen – und vielleicht auch ein Summarium der vielen interessanten Einzelstudien lesen zu können.
Diese decken allerdings ein reiches Spektrum ab: das Armenwesen, die Verfestigung der Geschlechterrollen, der Rückgang der Frequenz deutscher Universitäten – mit der kurzzeitigen Ausnahme Tübingen (73) in den frühen 20er Jahren des 16. Jh.s –, das Schicksal von Mönchen und Nonnen, die erwähnten Judenschriften, die Bücherzensur (hier fasst Hans Peter Hasse, 135–148, seine einschlägigen Studien zusammen), die Entmündigung bäuerlicher Ge­meinden, die Obrigkeitsfixierung, der Konfessionszwang, Hexenwahn bzw. -verfolgung, Schwierigkeiten am Kunstmarkt, die Entwicklung des Niederdeutschen, der Katholizismus und die Situa-tion des Niederadels – das ist eine Menge von Themen, deren möglichen negativen Aspekten sich der Band stellt.
Nicht nur zu den Judenschriften gibt es dabei schon reichlich Literatur, sondern auch zu den ambivalenten Folgen der Reformation für die Stellung der Frau – dies resümiert Julia Schmidt-Funke in einem abwägenden Beitrag (29–53). An anderen Stellen steht der Verweis auf noch zu leistende Forschungsaufgaben im Vordergrund. So verweist Enno Bünz in seinem Beitrag zu Mönchen und Nonnen (81–108) darauf, dass die von ihm geschätzten annähernd 2500 Einzelschicksale (95) noch weitestgehend der Aufarbeitung harren. Während hier die negativen Folgen vor allem im Werdegang der betroffenen Individuen zu suchen sind, die mit einem Male ohne soziale Sicherung dastanden, findet Eike Wolgast in seinem Beitrag über die Konfessionswechsel in der Kurpfalz (223–253) eine überraschende Wendung: Weniger der hierdurch angezeigte Glaubenszwang, den er durchaus kontextualisierend relativiert (252), erscheint bei ihm als Negativum als die durch alle Wechsel hindurch nachlassende Kenntnis elementarer Glaubensinhalte (250).
Gelegentlich wird deutlich, dass Ambivalenz konkret das Auseinanderdriften in gegenteilige Schicksale bedeuten kann. So macht Andreas Tacke in seinem Beitrag über den Kunstmarkt (283–315) deutlich, dass es neben dem klaren Reformations-Gewinner Lukas Cranach auch dramatische Schicksale von Künstlern gab, denen der Markt wegbrach und die sich dann anderweitig verdingen mussten – ein Flugblatt skizziert einen ehemaligen Künstler als Landsknecht (299 f.). Eine geradezu (selbst)ironische Wendung kann die Frage nach den negativen Folgen der Reformation bei Josef Pilvousek annehmen, der in seinem Beitrag zu Trient (357–371) anfragt, ob man den gesamten neuzeitlichen Katholizismus als negative Folge der Reformation ansehen solle und aus welcher Sicht dann was negativ sei.
Die Einordnung dieser Entwicklungen in die im Untertitel angedeuteten langfristigen Transformationsprozesse kann sehr unterschiedlich ausfallen. Vorbildlich ist der Beitrag von Julia Mandry über das Armenwesen (11–37), die für eine Wahrnehmung der »ganz eigene[n] Fortschrittsenergie« des späten Mittelalters plädiert (24) und zeigt, wie der durch die reformatorische Armenfürsorge programmatisch vorangetriebene Rückgang der Spendenbereitschaft problematische Folgen zeitigte. Überhaupt wird die Wirkung der Reformation in den vorliegenden Studien häufig zugunsten der Betrachtung längerfristiger Entwicklungen deutlich abgefedert. Robert Gramsch sieht den Beitrag der Reformation zum Frequenzrückgang der Universitäten eher in der um sich greifenden Verunsicherung als in inhaltlichen Neuakzentuierungen; einen interessanten Nebenakzent hierzu setzt Andreas Lindner (149-161) mit dem Verweis, dass die Erfurter Universität nach der Reformation unter der Situation litt, dass sie nicht mit einem konfessionell konformen Hinterland verbunden war. Hier wäre noch ein Blick auf die Schulen, für die an anderen Orten Henning Schluß die hohe Ambivalenz der Reformation nachgezeichnet hat, ergänzend hilfreich gewesen.
Verschwindet bei Gramsch die Reformation fast als eigenständiger Faktor, so wird sie in anderen Beiträgen als eine Art Katalysator innerhalb einer Longue durée gewürdigt, etwa in Uwe Schirmers Beitrag zur Entrechtung der Bauern (163–200); bemerkenswert liest sich dieser Beitrag im Zusammenspiel mit Christoph Volkmars Studie über den Niederadel (373–400), für den die Reformation nachgerade als Bedrohung seiner Rechte erschien. Eine Katalysatorenwirkung, die wiederum im Gleichklang mit dem entstehenden Katholizismus wirksam werden kann, zeigt Kai Lehmann im Blick auf die Hexenfrage (255–282). Geradezu rehabilitiert gegenüber der in der Forschung begegnenden Verantwortung für negative Aspekte wird die Reformation im Beitrag von Haik Thomas Porada zum Niedergang des Niederdeutschen (331–355): »Der Untergang des Mittelniederdeutschen als Schriftsprache war eine Folge des Zusammenbruchs der Hanse, nicht der Reformation« (352).
Dieser kurze Überblick mag gezeigt haben: Der Band ist der Verführung des plakativen Titels nicht gefolgt, sondern bietet eine Fülle von Modellen für die Verhältnisbestimmung der Reformation zu ihrem unmittelbaren zeitlichen Kontext. Er ist Ausdruck der verfeinerten reformationshistorischen Debatte, die mit einfachen Alternativen, sie mögen nun negativ/positiv oder alt/neu heißen, nicht mehr auskommt.