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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

771–773

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dall’Asta, Matthias, Hein, Heidi, u. Christine Mundhenk[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Philipp Melanchthon in der Briefkultur des 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015. IV, 347 S. m. 10 Abb. = Akademiekonferenzen, 19. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-8253-6487-8.

Rezensent:

Nicole Kuropka

Der Sammelband trägt die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung (2013) anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Melanchthonforschungsstelle in Heidelberg zusammen. Diese dem Vortragsduktus folgende Aufsatzsammlung bietet dabei deutlich mehr, als der Titel auf den ersten Blick verrät.
In einem ersten Teil werden zahlreiche Aspekte der europäischen Briefkultur vor allem des 16. Jh.s thematisiert. Dall’Asta beleuchtet »Briefe als Quelle der Kulturgeschichte« und entschlüsselt Facetten der Briefkultur, wie deren Beziehung zur Malerei, zur Geschäftswelt, zu Gender-Studies und zu Briefbüchern des 15. und 16. Jh.s. Welchen konkreten Forschungsbeitrag die Arbeit mit der Korrespondenz südwestdeutscher Humanisten verspricht, legt Strohm in seinem Beitrag dar: Zu Unrecht sei ihre »theologiegeschichtliche Bedeutung« (37) bislang vernachlässigt worden. Nicht nur die Vielgestaltigkeit der Reformation sei aus diesen Korrespondenzen zu erheben, sondern am besonders aussagekräftigen Beispiel von Straßburg, Württemberg und der Kurpfalz auch das »Konfliktfeld lutherischer und reformierter Konfessionalisierung« (40) darzustellen. Um diese Prozesse und Mechanismen der Entwicklung aufzeigen zu können, muss dieser Theologen-Briefwechsel zuerst gefunden, gesammelt und erschlossen werden. Graff und Wilhelmi führen aus, welche modernen Forschungsschritte auf dem Weg zu einer derartigen Edition der ca. 14000 Briefe von 110 Autoren getätigt werden müssen und wie hier althergebrachte Forschung in Archiven und Bibliotheken vor Ort mit Online-Ressourcen und digitalen Techniken verknüpft werden können. Damit ist grundsätzlich die Frage nach der »digitalen Edition. Praktikabilität, Chancen und Risiken« (71) aufgeworfen, der sich Bolluck detailliert widmet. Auch wenn digitale Editionsprojekte zum Teil noch nicht in voller Gänze ausgereift scheinen, lägen ihre Vorteile und Besonderheiten darin, dass die elektronische Erfassung Codierungsebenen ermögliche, um »ganz unterschiedliche Ausgaben und Features zu generieren« (74) – und der Nutzer könne entscheiden, welches Wissen er abrufe. Zahlreiche digitale Briefeditionen werden vorgestellt, aber auch die komplexen Herausforderungen an Technik und Editoren am Beispiel des Editionsprojektes zu den Magdeburger Zenturien aufgezeigt. Dass die Bedeutung dieser digitalen Revolution nicht nur in der Zugänglichkeit ungeahnten Quellenmateriales liegt, erläutert Hotson am Beispiel des europäischen Projektes »Reassembling the Republic Letters«, das für die Zeit von 1500–1800 interdisziplinär und grenzüberschreitend anvisiert, die europäische Kommunikationsgeschichte der Gelehrtenwelt mitsamt ihres in Vergessenheit geratenen europäischen Gemeinschaftsgefühls wieder abzubilden, indem die zahlreichen lokalen Forschungsansätze durch eine gemeinsame digitale Infrastruktur in dem COST-Netzwerk koordiniert werden.
In einem zweiten Teil wird auf die persönlichen Beziehungen von Melanchthon zum späten Luther (Mundhenk), zu Karl V. (Brendle), zu Joachim Camerarius (Woitkowitz) und zu antiken wie zeitgenössischen Dichtern (Kühlmann) fokussiert. In den 1540er Jahren thematisiere Melanchthon in seinen Briefen vor allem den Konflikt zwischen Luther und den Schweizern aufgrund des neu aufbrechenden Abendmahlsstreites, wobei sich dieser Konflikt auch auf die Beurteilung des Kölner Reformationsversuches auswirkte. Luther erhielt in dieser Zeit von Melanchthon den Decknamen Perikles, jenes schillernden Politikers, der sich vor allem durch Beredsamkeit, aber auch durch seinen Zorn auszeichnete. Melanchthons Beziehung zu Karl V. »war lange Zeit von Sympathie und Respekt zueinander geprägt« (159), was aber auf der realistischen politischen Einschätzung Melanchthons beruhe, dass auch ein evangelischer Staat letztlich »dem politischen Handlungsrahmen von Kaiser und Reich verhaftet« (ebd.) sei. Aus der Korrespondenz zwischen Joachim Camerarius und dem habsburgfreundlichen Christoph von Karlowitz lasse sich die Freundschaft zwischen Camerarius und Melanchthon vor allem mit Blick auf ihr gemeinsames Streben in religionspolitischen Angelegenheiten darstellen. Bei der Rezeption der (griechischen) Antike verfolge Melanchthon eine auf zeitgeschichtliche Applikation gerichtete Hermeneutik, in der es aber dort zu Tabuzonen und Grenzen komme, »wo sich heidnische Anthropologie und popularwissenschaftliche Weltbilder christlicher Pädagogik nicht mehr assimilieren ließen« (191). Das reformationshumanistische Netzwerk an Poeten lasse sich an Kri sen, wie mit Simon Lemnius, aber auch an gegenseitiger Wertschätzung, wie bei Eobanus Hessus, nachzeichnen.
In einem dritten Teil werden die geographischen Räume der Melanchthonkorrespondenz aufgefächert. Steiniger zeichnet dabei den zuerst freundschaftlich und theologisch zugewandten Briefwechsel mit der Baseler Geistlichkeit nach. Besonders intensiv verlief dieser mit Oekolampad, wobei durch die im Abendmahl und dem Religionsgespräch von 1529 offen aufbrechenden Differenzen der Kontakt ein klares Ende fand. Czaika entfaltet die komplexen Beziehungen nach Skandinavien, wo Melanchthon ab 1530 vor allem in Bezug auf Dänemark »zum genialen Kommunikator der Reformation« (246) wurde. Auch wenn dieser Export von Gedanken und dieser Transfer von Kultur für Schweden schwerer zu greifen ist, lässt sich insgesamt über den Briefwechsel, durch Schriften und durch Melanchthon-Schüler die Wittenberger Fernwirkung nachzeichnen. Anders in England und Frankreich. Greschat dokumentiert die gescheiterten Versuche, die Reformation dort auszubreiten, obwohl diese Länder von Melanchthon, seinem Auftreten und Argumentieren kirchenpolitisch Großes erhofften. Aus den Korrespondenzen in das gespaltene Ungarn, so Hein, lasse sich erahnen, wie ertragreich eine tiefgreifende und differenzierte Quellenanalyse mit Blick auf die Wahrnehmung der Türken und Muslime sein könne.
Nach zwei Beiträgen über den Briefwechsel als biographische Quelle mit Fokus auf die Eheschließung Melanchthons (Graybill) und einer Untersuchung der 46 Empfehlungsschreiben (Bechthold-Mayer) beschließt der Begründer und jahrzehntelange Leiter der Melanchthonforschungsstelle, Heinz Scheible, diesen Sammelband mit einem sehr persönlichen und lebendigen Rückblick und Bericht über die wechselhafte Geschichte des Heidelberger Editionsunternehmens. Das von einem optimistischen Idealisten (331) begonnene Werk wird vermutlich 2030 vollendet sein, so dass es zwei Forschergenerationen zu verdanken sein wird, ein derart reiches Quellenkorpus gesichtet, ediert und veröffentlicht zu haben. Welcher reiche Schatz an vielfältigen Beziehungen, Netzwerken und internationalen Kontakten aus diesen Quellen zu heben ist, präsentiert dieser Sammelband streiflichtartig und dokumen-tiert damit gleichzeitig das Panorama der noch zu er­schließenden Themen.