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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

766–768

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kramer, Helga

Titel/Untertitel:

Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um »Armut und Reichtum« und den »Umgang mit materiellen Gütern«. Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts.

Verlag:

Tübingen: A. Francke Verlag 2015. 381 S. = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 21. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-7720-8569-7.

Rezensent:

Petr Pokorný

Die in Erlangen unter Oda Wischmeyer geschriebene Dissertation von Helga Kramer gesellt sich zu der Gruppe von Arbeiten, die auf die schon zwei Generationen aktuelle Frage nach dem sozialen Anliegen und den entsprechenden Diskursen innerhalb der ältes­ten christlichen Literatur reagieren. Die beiden Bände »ad Theophilum« haben in diesem Zusammenhang eine besonders bedeutende Rolle gespielt. K. hat sich auf das Lukasevangelium konzentriert. Der spezifische Beitrag ihrer Arbeit besteht in der Methodik der Untersuchung. Sie registriert die Textsegmente des Lukasevangeliums, die die soziale Frage betreffen, und ordnet sie jeweils der Quelle oder Schicht (SLk, Markus, Q) zu, aus der sie stammen. Von den vierzig Einheiten stammen 17 aus dem lukanischen Sondergut, 10 aus Markus und 13 aus der Logienquelle, und in allen diesen drei Gruppen sind verschiedene Einstellungen zu der Thematik ver-treten – von der radikalen Reichtumskritik bis zu den moderaten Lösungen. Im Unterschied zur Logienquelle und zu Markus, die durch den synoptischen Vergleich besser zu definieren sind, ist das lukanische Sondergut (SLk) eine hypothetische Größe, so dass dort die Grenzen zwischen Quelle und Redaktion fließend sind. Die aus der Analyse der lukanischen Bearbeitung der Texte aus Mk und Q gewonnenen Beobachtungen sind allerdings auch bei der Analyse der aus SLk stammenden Perikopen hilfreich. Auf diese Weise kann K. am Ende die Arbeit des Evangelisten – die Auswahl und Interpretation des Stoffes aus seinen Quellen – genauer definieren. In dem Titel der Arbeit werden schon die zwei Unterthemen des sozial-ökonomischen Bereiches angegeben: »Armut und Reichtum« und »Umgang mit materiellen Gütern«.
Dementsprechend ist die ganze Arbeit auch gegliedert: Zunächst (Teil A) definiert K. das Ziel der Untersuchung: Es soll die Weise definiert werden, auf die Lukas das Verhältnis zwischen den Armen und Reichen in seiner Gemeinde ordnen möchte. Dann folgt eine Charakteristik der Armen und Reichen in dem vorausgesetzten sozia-len und historischen Bereich der lukanischen Gemeinden und eine Übersicht der Behandlung des Problems der Beziehung von Armen und Reichen in den bedeutenden Kommentaren und Monographien zum Lukasevangelium von etwa 1980 bis zur Gegenwart. Im Ab­schnitt über die Methodik, den wir schon erwähnt haben, macht K. darauf aufmerksam, dass sie bei der Analyse der Texte mit dem Begriff des Diskurses arbeitet, den Achim Landwehr in seiner historischen Diskursanalyse (2008) definiert hat: Es handelt sich um eine Menge von Aussagen, die einen Aspekt der »Wirklichkeit« konstituieren und neue soziale Wirklichkeit unter den Lesern/Hörern konstituieren bzw. unterstützen.
Danach folgt (B) der erste umfangreiche Abschnitt (63–182), in dem die entsprechenden Texte aus dem lukanischen Sondergut kommentiert werden (Vokabular, Redaktionskritik, theologisch-in­haltliche Analyse).
Im Teil C wird das lukanische Sondergut im Rahmen des Lukasevangeliums untersucht, wobei die Abschnitte mit sozialen Themen aus den zwei anderen Quellen (Markus und Q) wieder sukzessiv untersucht werden. Zunächst wird die Integrität des lukanischen Sonderguts untersucht. Das Ergebnis ist, dass nur für 10,25; 16,19–31 und 19,1–10 eine gemeinsame Überlieferungsgeschichte angenommen werden kann. Doch tauchen im ganzen Sondergut gemeinsame Themen und Traditionen auf, wie z. B. die weisheitlichen Motive oder apokalyptische Vorstellungen. Im gesamten Sondergut setzt K. zwei Applikationen voraus, die zum Teil die Schwächung der Endzeiterwartung widerspiegeln. Nach der exegetischen Untersuchung der sozialen und ökonomischen Diskursstränge aus dem Markusevangelium und der Logienquelle (der zweite umfangreiche Ab­schnitt: 198–306) wird mit Hilfe einer übersichtlichen Tabelle (307–315) gezeigt, dass Lukas aus seinem Sondergut besonders die Schilderung des Lebens in extremer Armut bzw. Reichtum genommen hat, was weder in Q noch bei Markus zu finden ist. Sein Grundanliegen sei danach, für seine Gemeinde die Parteinahme Gottes für die Armen zu bezeugen und gleichzeitig Wege zu zeigen, wie die Reichen mit den materiellen Gütern angemessen umgehen sollen und Glieder der christlichen Gemeinschaft sein können.
Den Schlussteil (D) eröffnet eine Vokabelliste, die die Tendenz der lukanischen Bearbeitung des Themas demonstriert: SLk betont das Verheißungshandeln Gottes zugunsten der Armen mit Hilfe eines reichen Wortregisters. Der Umgang mit den materiellen Gütern ist ein Problem, das Lukas für das Leben der christlichen Gemeinde für besonders wichtig hielt, wobei die Rettung der Reichen ein neues, spezifisches Thema ist.
Methodisch soll jede Interpretation einer Schrift mit der synchronen Analyse der erhaltenen Textgestalt beginnen. Erst nachher kommt die Quellenkritik. K. hat allerdings gewagt, sich gleich auf die Analyse der Quellen zu konzentrieren, weil es die Ergebnisse der bisherigen Forschung erlauben. Die Zweiquellentheorie, die Rekonstruktion der Umrisse der Logienquelle und der Schluss, wonach das lukanische Sondergut mindestens einen gemeinsam überlieferten Kern hat, das alles vertritt die Mehrheit der Forscher. Die Bestimmung der Quellen voraussetzend, hat K. im Grunde redaktionskritisch gearbeitet.
Die Zusammenfassung im letzten Teil ist wirklich ein Beitrag für die Forschung. Dass Lukas durch all die Warnungen und Ermahnungen die Reichen in die entstehende Kirche integrieren will, war bekannt. H.-J. Held hat dem Thema eine kurze Studie gewidmet (»Den Reichen wird das Evangelium gepredigt«, Neukirchen 1977), erst die Dissertation von K. hat das jedoch durch sorgfältige Arbeit nachgewiesen.
Und doch hat die benutzte Methodik auch ihre Nachteile: Weil sich K. auf die Quellen konzentrierte, musste sie die Apostelgeschichte außer Acht lassen, wobei gerade die Apostelgeschichte mit ihrem Modell des Ausgleichs und mit den opferwilligen reichen Gönnern der Kirche und mit der Maxime »Geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,35) ihre Ergebnisse stützen könnte.