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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

764–766

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grundeken, Mark, and Joseph Verheyden[Eds.]

Titel/Untertitel:

Early Chris-tian Communities between Ideal and Reality.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIII, 243 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 342. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-152670-1.

Rezensent:

Markus Öhler

Der Sammelband geht auf eine Tagung an der Universität Leuven aus dem Jahr 2012 zurück und versammelt Beiträge vor allem zu den Apostolischen Vätern, in denen die Fragen von Identität, Abgrenzung und Institutionalisierung angesprochen werden.
Er setzt ein mit einem Überblicksbeitrag von A. Lindemann, der die sakramentale Praxis der frühchristlichen Gemeinden im 2. Jh. vor allem in der Didache, im Barnabasbrief, bei Ignatius, im 2. Clemensbrief und bei Justin untersucht (1–27). Plinius’ Brief über die Christen wird nicht angesprochen. L. konstatiert zu Recht die Dürftigkeit der Quellenlage, die daran denken lasse, dass »das Selbstverständliche nicht ausgesprochen zu werden« brauchte (25). Auch die stetige Aufwertung der Amtsträger für die Abwicklung der Ritualpraxis ist in diesem Beitrag gut nachzuverfolgen.
C. N. Jefford beschäftigt sich mit der Mahltradition in der Didache und der dahinterstehenden Praxis (29–49). Der Überblick über die Quellenlage und einzelne Forschungspositionen führen J. zu dem Schluss, dass die Mahlgebete in Did 9 f. Teil einer weit verbreiteten christlichen Überlieferung waren, die zu jenem Strang gehörte, in dem das Mahl vor allem in eschatologischer Perspektive gesehen wurde (43 f.). Der Verfasser der Didache bemühe sich um die Konstituierung einer Gemeinschaft, die allerdings gegenüber der institutionalisierten Kirche »no chance of survival« hatte (49). »The ideal was sacrificed for the necessities of daily reality«, resümiert J. mit bedauerndem Unterton.
Eine Geschichte des Abstiegs sieht T. Khomych durch den Verfasser des 1. Clemensbriefes dokumentiert, der dieses Schema auf die korinthische Gemeinde angewandt habe (51–60). J. S. Kloppenborg betrachtet frühchristliche Gemeinden vor der Negativfolie einer älteren Forschungsperspektive (R. Sohm, A. v. Harnack), nach der die Gemeinden in der Frühzeit einem charismatischen Paradigma folgten und erst mit dem 2. Jh. einer Institutionalisierung unterworfen worden seien (61–81). K. zeigt überzeugend auf, dass schon die paulinischen Gemeinden selbstverständlich institutionelle Formen ausbildeten (vgl. z. B. Phil 1,1; 1Thess 5,12). Auch der 1. Clemensbrief demonstriere mit seinem Votum gegen Aufruhr ( στάσις), dass die relativ flachen, aber doch eindeutigen Hierarchien christlicher Gemeinden, wie sie in griechisch-römischen Vereinigungen üblich waren, durch die Aufnahme von Personen mit hohem gesellschaftlichem Status empfindlich gestört wurden.
J. A. Kelhofer widmet sich intensiv der Frage nach dem Genre des 2. Clemensbriefes (83–108) und bietet dazu vor allem einen illustrativen Forschungsüberblick. Seiner Ansicht nach wären weder Ho­milie noch Predigt noch Brief befriedigende literarische Beschreibungen; K. selbst belässt es allerdings bei der Forderung eines Neuansatzes der Forschung.
Eine Übersicht über die Stellung der Apostel bzw. Christi und deren Verwendung als Analogien für Gemeindestrukturen in den Ignatianen bietet P. Foster (109–126). Sie fällt zwar recht allgemein aus, führt aber auch gut in die Thematik ein. Die umstrittene Echtheits- und Datierungsfrage der Ignatiusbriefe wird freilich überhaupt nicht thematisiert.
Der Mitherausgeber M. Grundeken rückt den Hirten des Hermas in den Fokus seiner Erörterungen, wobei es ihm um den Zusammenhang von Taufe und μετάνοια geht (127–142). Der Beitrag nimmt die Spannung von Ideal und Realität durchwegs auf: Hermas sei mit einer wachsenden Kirche konfrontiert gewesen, die sich allerdings nicht nach seiner Idealvorstellung ausbildete. Es sei ihm vor allem um Konsolidierung gegangen, gerade auch im Blick auf die Taufe. Dasselbe gelte für die Forderung nach Umkehr bzw. Buße: Die römische Kirche habe sich aus der Sicht des Hermas zu einem corpus mixtum entwickelt, so dass seine Mahnungen zu Wohltätigkeit, zu einer ordentlichen Sexualmoral und zum Festhalten am Glauben angesichts von Verfolgungen vor diesem Hintergrund zu verstehen seien.
Ebenfalls mit dem Hirten des Hermas beschäftigt sich H. O. Maier, und zwar unter dem Gesichtspunkt der »spatiality« (143–160). Er geht u. a. auf die Situation der Hausgemeinden ein – allerdings ohne Berücksichtigung von E. Adams’ Untersuchung »The Earliest Christian Meeting Places« (2013) – und nimmt dabei speziell die Wohnsituation in insulae in den Blick. Das Zusammenleben verschiedener Gesellschaftsschichten in diesen Anlagen macht die Er­mahnungen des Hermas zu sozialem Ausgleich umso plausibler.
Die Abgrenzung zwischen verschiedenen Formen von Christentum ist das Thema von J. M. Lieu (161–175). Sie geht einige frühchristliche Autoren von Paulus bis Irenäus durch und zeigt auf, dass die Grenzziehung zwischen denen, die die In-Group bildeten, und denen, die nicht (mehr) dazugehörten, von Anfang an Teil christlicher Identitätskonstruktionen war. Zugleich ergaben sich aber im 2. Jh. neue Herausforderungen, die andere Argumentationsmuster hervorbrachten.
Mit einer dieser Abgrenzungsstrategien beschäftigt sich J. Carleton Paget in seiner Erörterung des Verhältnisses des Verfassers des Barnabasbriefes zu »den Juden« (177–202). Ergebnisse seiner ausführlichen Diskussion des Textbefundes sowie der Forschungslage sind u. a., dass sich die Polemik des Barnabas gegen Israel vor allem ge­gen jene Christusgläubigen gerichtet habe, die eine scharfe Ab­grenzung gegen das Judentum ablehnten. Obwohl der Verfasser des Briefes mit dem Judentum gut vertraut war, sei er so weit davon entfernt gewesen, dass er Juden nicht mehr überzeugen wollte, sondern gegen jene gekämpft habe, die sich noch mit Juden be­schäftigten.
Der letzte Beitrag behandelt die Schrift »Ad Diognet«, die T.Nicklas unter dem Aspekt der Identitätsbildung durch Konstruktion der »Anderen« untersucht (203–217). Die Darstellung der paganen Kulte sowie die Polemik gegen das Judentum hätten nach N.s Meinung dem Verfasser des Briefes dazu gedient, die christliche Selbstwahrnehmung als »neues Genos« im Alexandria der zweiten Hälfte des 2. Jh.s verständlich zu machen.
Der Band, der eine Sammlung zum größten Teil ausgezeichneter Beiträge namhafter Experten und Expertinnen zu den behandelten Themen darstellt, ist durch Register gut erschlossen und bietet eine anregende Lektüre, die zum weiteren Nachdenken über die Spannung von Ideal und Realität im frühen Christentum anregt.