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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

751–753

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schulz, Sarah

Titel/Untertitel:

Die Anhänge zum Richterbuch. Eine kompositionsgeschichtliche Untersuchung von Ri 17–21.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 270 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 477. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-041135-5.

Rezensent:

Erasmus Gaß

Die für den Druck leicht überarbeitete Dissertation wurde im Sommersemester 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bei Henrik Pfeiffer eingereicht. Nach einer kurzen Problemanzeige (1–5) wendet sich Sarah Schulz in einem zweiten Abschnitt zunächst den Schlusskapiteln Ri 19–21 zu (6–122), die sie jeweils einzeln redaktionsgeschichtlich untersucht. Dabei wird zuerst die Forschungsgeschichte skizziert (6–13), dann in drei Abschnitten der Text übersetzt und kommentiert, danach gegliedert und abschnittsweise erklärt (13–52 zu Ri 19; 53–104 zu Ri 20; 104–122 zu Ri 21). Nach S. sei Ri 19 aufgrund der Fokussierung auf die beiden Orte Bethlehem und Gibea sowie aufgrund von weiteren Bezügen in die Samuelbücher eine prodavidische Tendenzerzählung (48). Bis auf punktuelle Ergänzungen (in Versen 1, 16, 24, 30) und eine auf den Nahkontext bezogene Glosse (12b) ist die Erzählung Ri 19 einheitlich. Allerdings sind nicht alle literarkritischen Entscheidungen über jeden Zweifel erhaben. Denn V. 12b muss nicht in Spannung zur Alternative zwischen Gibea und Rama in V. 13 stehen (32), auch wenn in V. 12b die Entscheidung zugunsten von Gibea offenbar schon gefallen ist, da die Präposition דע eine Bewegung andeutet, die das Ziel erreichen wird. Allerdings kommt man zunächst nach Gibea (Tell el-Fūl) und dann erst nach Rama (= er-Rām). Insofern ist auch die Frage nach der Verortung von Gibea (entweder Tell el-Fūl oder Ǧeba‘) entgegen S. nicht irrelevant (25). Außerdem sind beide Orte bei einem späten Aufbruch nicht »problemlos erreichbar«. Denn schon beim Erreichen von Jerusalem hat sich der Tag bereits geneigt (V. 11) und Tell el-Fūl ist noch etwa 6 km, Ǧeba‘ sogar 10 km Luftlinie von Jerusalem entfernt. Selbst in V. 13 ist Gibea topographisch nur mit Tell el-Fūl sinnvoll zu verbinden, da man offenbar den Weg nach Rama eingeschlagen hat und nun entweder schon in Gibea (= Tell el-Fūl) oder erst in Rama übernachten will, je nachdem, wie schnell die Dunkelheit voranschreitet. Genau diese Alternative entwirft V. 13. Somit ist es auch nicht nötig, dass V. 12b als sekundäre Ergänzung die ur­sprüngliche Tradition einer solaren Gottheit, die mit dem Einbruch der Dunkelheit das Unheil in Gang gesetzt hat, korrigieren wollte. Ob darüber hinaus eine solche Vorstellung für einen späten Text – und davon geht S. ja aus – noch denkbar ist, sei dahingestellt.
In Ri 20 nimmt S. eine Grundschicht an, die an mehreren Stellen punktuell und redaktionell ergänzt worden sei, wobei es zu zwei redaktionellen Abschlüssen gekommen sei. Die literarischen Probleme von Ri 20 könnten nach S. eigentlich nur diachron gelöst werden (61), auch wenn der komplexe Schlachtenbericht gerne mit verschiedenen Erzählperspektiven erklärt wird. S. weist außerdem auf einige Beobachtungen hin, die darauf hindeuten, dass Ri 19 und Ri 20 zunächst keine ursprüngliche Einheit gebildet haben könnten. Denn die gegenüber Ri 19 unterschiedliche Darstellung der Ereignisse in Ri 20,4–6 geht vermutlich auf eine Interpretation von Ri 19 zurück, die die anstößigen und umstrittenen Details aufklären wollte (66 f.). Die auffallenden Ähnlichkeiten von Ri 20 zu Jos 7 f. löst S. dahingehend, dass Ri 20 einen Text gekannt habe, der Jos 7 f. stark ähnelte. Wie dort Ai werde hier Gibea als die schuldige Größe konstituiert. Dementsprechend sei der Bruderkrieg mit Benjamin nur Mittel zum Zweck, um Gibea auslöschen zu können. Eine Restitution des Stammes Benjamin sei somit nicht ausgeschlossen (97 f.). Ob eine solche Deutung nur aufgrund der Parallele zu Jos 7 f. tatsächlich angezeigt ist, ist fraglich, da bei den 600 Geflohenen ohnehin nicht klar ist, ob diese Gibeatiter oder Benjaminiter gewesen sind. Nirgendwo werden darüber hinaus die Geflohenen von ihrer Schuld freigesprochen.
Schließlich analysiert S. in einem weiteren Abschnitt Ri 21, wo das Problem des Frauenmangels für Benjamin in zwei Anläufen behoben wird (104–122). Hier rekonstruiert S. zwei Versionen, wobei der Frauenraub zu Schilo die ältere Erzählung sei. Der in der Jabesch-Tradition bislang nicht eingeführte Ort Schilo, an den die Jungfrauen gebracht werden, lässt sich nach S. nur so erklären, dass die Jabesch-Erzählung den Frauenraub von Schilo bereits gekannt habe (112). Allerdings ist die genaue topographische Verortung von Schilo in V. 19 nur dann nötig, wenn hier ein anderer Ort als der des allbekannten Kultzentrums Schilo im Blick ist. Hinzu kommt, dass der Ortsname Schilo in Ri 21 unterschiedlich geschrieben wird, so dass auch hier mitunter eine Differenzierung vorliegt.
In einem dritten Kapitel wird der vorausgehende Abschnitt Ri 17–18 in drei Teilen besprochen (123–188): Diebstahl und Götzendienst (Ri 17,1–6), der Levit in Michas Haus (Ri 17,7–13), Landnahme und Kult der Daniten (Ri 18,1–31). In der ersten Erzählung wird lediglich V. 5 als redaktionell bewertet. Mit V. 5 werde durch Michas Kultfrevel die Sünde Jerobeams in Betel vorweggenommen, zumal םיהלא תב auf Betel transparent sei und die Kultinstallation an 1Kön 12 denken lasse (149–151). Die Verortung des Leviten im judäischen Ort Betlehem dient zudem der wechselseitigen Verzahnung der beiden Erzählungen Ri 17 und 19. Nach S. sei die Danitenerzählung Ri 18 eine variierende Erzählung zu Jos 19,47 (162–165). Die Verortung der Daniten in Zora und Eschtaol (Verse 2, 8, 11) suggeriere demgegenüber, dass die Daniten in der Tat bereits Erbbesitz im Süden hatten. Auch scheine nach V. 11 nur ein Teil der Daniten nach Norden zu ziehen. Somit seien diese Angaben (»Zora und Eschtaol« sowie »600 Mann, gegürtet mit Kriegsgeräten«) literarkritisch verdächtig. Alles in allem skizziert S. folgende Redaktionsgeschichte hinter Ri 17–18: Die Grundschicht, die aufgrund ihrer Bilderkritik nachexilisch zu datieren sei, habe aus Ri 17,1–4.6 bestanden und sei mit der Grundschicht in Ri 21 literarisch verbunden worden. Danach sei eine umfangreiche Fortschreibung in Ri 17,7–18,31* erfolgt, die besonders den illegitimen Kult in Dan kritisiert habe. Ein weiterer Redaktor habe das Kultinventar vervielfältigt, um den Kultfrevel noch zusätzlich zu steigern. Schließlich sei in Ri 18,30 der Beginn der Priesterdynastie von Dan mit der zweiten Generation nach Mose verbunden worden, was offenbar eine Un­kenntnis der Rettererzählungen Ri 2,6–16,31* offenbare, die einige zusätzliche Generationen einschieben. In Ri 18,17 liege zudem eine prolevitische Entlastung des Priesters vor. Schließlich werde Ri 17–18 topographisch an die Simsonerzählungen durch punktuelle Ergänzungen und weitere Glossierungen angeglichen.
Schließlich fasst S. in einem vierten Abschnitt ihre Ergebnisse konzis zusammen und bietet eine nach Schichten differenzierte Arbeitsübersetzung (189–206). Der älteste Kern liegt in der prodavidischen Tendenzerzählung in Ri 19, die aufgrund der Bezüge zu Gen 18–19, 1Kön 12 und anderen Texten nicht allzu früh entstanden sein kann. Diese Erzählung wurde um die priesterliche Grundschicht von Ri 20 ergänzt, die die antisaulidische Erzählung von Ri 19 auf den Stamm Benjamin ausweitet. Danach folgte eine Rahmung durch die Michaerzählung und die Episode vom Frauenraub von Schilo (Ri 17,1–4.6 und Ri 20,48; 21,1.15–23.25). In einer weiteren redaktionellen Ebene werden schließlich der Raub von Priester und Kultbild geschildert, wobei der Kult von Betel gegenüber Dan aufgewertet wird (Ri 17,7–18,31*; 19,1*; 20,4*; 20,27b.28a*). Die spätere Betel-Bearbeitung (Ri 20,18 f.23; 21,2–4) ist hingegen auf eine negative Interpretation Betels hin transparent. Eine weitere Redaktion steigert schließlich den Kultfrevel (Ri 17,5; 18,14.18.20 Efod und Terafim). Danach folgt eine übergreifende Fortschreibung in Ri 20 f. durch zwei Bann-Episoden, die das saulidische Königtum kritisieren (Ri 20,1*.29.31*.34b.36b.37–41.47; 21,5.9–14.24). Schließlich wird in Ri 18,30 der danitische Frevelkult zeitlich auf die zweite Generation nach Mose ausgedehnt. Außerdem werden noch Spannungen zur Simsonerzählung punktuell ausgeglichen (Ri 18,11*.12*.16*).
Danach wendet sich S. in einem fünften Kapitel dem kompositionsgeschichtlichen Ort der Richteranhänge zu (207–230). Während das Korpus des Richterbuches Ri 2,6–16,31* monarchiekritisch ausgerichtet ist, findet sich in den Richteranhängen eine positive Sicht auf das Königtum. Die Schlusskapitel seien nach S. darüber hinaus kein Anhang zum bestehenden Richterbuch, da die Verortung der Ereignisse in den Landnahmekontext bzw. in die zweite Generation nach Mose die Rettererzählungen Ri 2,6–16,31* noch nicht kenne. Demnach seien beide Textbereiche unabhängig voneinander entstanden. Da die Schlusskapitel zahlreiche Berührungen und Querbezüge zu Ri 1 aufweisen, könnte zudem ein literarischer Zusammenhang zwischen Ri 1 und Ri 17–21 vorliegen. Nach S. habe es sogar zunächst zwei Brückenkompositionen gegeben (Ri 1.17–21 und Ri 2,6–16,31*), die jeweils den Hexateuch mit der Sam-Kön-Komposition verbunden und damit einen eigenständigen Enneateuch geschaffen hätten. Erst in einem zweiten Schritt seien die beiden Enneateuchversionen zusammengearbeitet worden (226).
In einem sechsten Kapitel bespricht S. die literarischen Horizonte von Ri 1.17–21 vor allem ins Josuabuch (231–240). Der Abschnitt Jos 14,1–19,51* sei nach S. ein ausführlicher Bericht über die Verteilung des Landes, zu dem Ri 1 eine lectio varians darstelle. Nicht ohne Probleme ist jedoch die literargeschichtliche Verortung von Jos 14,1–19,51* auf der Ebene zwischen Ri 19 und Ri 20 (235), da es in den Landnahmetexten bereits Bezüge zu Ri 19 gibt (Jebusiter in Jos 15,63).
Die von S. in ihrem Fazit (241–246) entworfene Kompositi-onsgeschichte ist in sich stringent, auch wenn sie jeweils nur auf wenigen Beobachtungen aufbaut. Kleinere Bezugnahmen ins Jo­suabuch oder in die Samuelbücher werden von S. konsequent redaktionsgeschichtlich ausgewertet, um eine schlüssige relative Chro­nologie der einzelnen redaktionellen Erweiterungen zu entwickeln. Abgesehen von dem Hinweis, dass diese Komposition dem Diskurs »um eine angemessene Erklärung des Untergangs der Staaten Israel und vor allem Juda« diene (245), was auf eine nachexi-lische Entstehung hinweise, werden die redaktionellen Erweiterungen aber nicht näher historisch verortet.
Ein Abkürzungsverzeichnis (247 f.), ein Literaturverzeichnis (249–261), ein Sach- und Personenregister (262–264) sowie ein Stellenregister (265–270) beschließen diese Studie, die nicht nur für diejenigen wichtig ist, die sich der Exegese des Richterbuches verschrieben haben, sondern auch für all jene, die an übergreifenden Fragestellungen wie Hexateuch oder Enneateuch arbeiten. Die literarkritischen Entscheidungen sind insgesamt gut begründet und nachvollziehbar. Allerdings müssen oft nur wenige Einzelbeobachtungen das hier vorgeschlagene kompositionsgeschichtliche Modell tragen. Dies macht zumindest die übergreifende These von zwei verschiedenen Enneateuchversionen angreifbar. Trotzdem hat sich wieder einmal gezeigt, dass gerade die beiden Bücher Josua und Richter eine zentrale Rolle in der Frage des Enneateuchs spielen. Schon vor diesem Hintergrund ist dieser Studie ein breiter Leserkreis zu wünschen.