Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

745–747

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Frevel, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mehr als Zehn Worte? Zur Bedeutung des Alten Testaments in ethischen Fragen.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2015. 430 S. = Quaestiones disputatae, 273. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-02273-9.

Rezensent:

Eckart Otto

Der hier anzuzeigende Band zu Grundfragen einer Ethik des Alten Testaments geht auf die Jahrestagung 2014 der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Alttestamentlerinnen und Alttestamentler zurück. Die Schwierigkeiten, die sich jedem Versuch, eine Ethik des/im Alten Testament zu konzipieren, entgegenstellen, bestehen u. a. darin, dass das Alte Testament zwar von menschlichem und göttlichem Handeln und den dem zugrundeliegenden Normen in allen seinen Teilen spricht, doch eine gar systematisierende Reflexion, die den Begriff der Ethik rechtfertigen könnte, fehlt. Diese Schwierigkeit ist einer der Gründe dafür, dass seit der vom Re-zensenten verfassten »Theologischen Ethik des Alten Testaments« (Theologische Wissenschaft 3/2, Stuttgart 1994), in der er entschied, historisch-deskriptiv vor allem die Normenüberlieferungen in Pentateuch und Weisheit zugrunde zu legen und das Herauswachsen einer Ethik aus dem Recht zu beschreiben, noch nach fast einem Vierteljahrhundert keine neue deutschsprachige Ethik des Alten Testaments im Gegensatz zu mehreren Theologien des Alten Testaments erschienen ist. Die Beiträge dieses Sammelbands zeigen, dass seit 1994 die Diskussionslage, in die der Beitrag des Herausgebers C. Frevel umsichtig einführt, nicht einfacher, sondern noch erheblich komplexer und differenzierter geworden ist.
Angesichts fehlender Systematik der Ethiken schon in den je einzelnen Büchern des Alten Testaments plädiert der Herausgeber für eine »Metaethik«, in der die Grundlagen des ethischen Urteilens im Alten Testament entfaltet werden sollen, wobei er einräumt, dass sie noch nicht existiert. Dem Problem der historischen Pluralität der Texte des Alten Testaments will er durch den Kanon als »Diskursraum« begegnen, wobei »den innerbiblischen hermeneutischen Prozessen, die zu Adaptionen und Transformationen des Ethos und letztlich zu der unhintergehbaren Pluralität geführt haben«, Rechnung getragen werden sollen. Wie sich aber die historische Pluralität der Texte zur Eingrenzung durch den historisch gewordenen Kanon (welchen?) verhält, wie also pentateuchische, prophetische, weisheitliche und lyrische Texte im Kanon in einer Ethik zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen, bleibt offen. Das hermeneutische Problem der Alternative deskriptiver oder praeskriptiv-normativer Ethik soll so gelöst werden, dass beide Perspektiven berechtigt sein sollen in einem »Sklavenaufstand der biblischen Moral gegenüber der autonomen Vernunft«, die »Hy­bris« sei. Die »biblische Binnenmoral« solle nicht eine universale Geltung beanspruchen, sondern sich in einen »Wettstreit der Moralen« einbringen. Sollte eine biblische Ethik eine Chance in diesem Wettstreit in der Moderne haben, so wird sie sie gegen die moderne historische Vernunft philosophischer Ethikbegründung nur innerhalb von schützenden Kirchenmauern und in biblizistischen Kreisen haben.
Die »Orientierung« des Herausgebers stellt viele gute Fragen, doch gibt sie kaum Antworten. Die sich anschließenden Beiträge nehmen Einzelaspekte der Orientierung auf, wobei auffällig ist, dass der altorientalische Kontext angesichts der Bevorzugung des Kanons als »Diskursraum« keine Rolle spielt.
L. Schwienhorst-Schönberger will Ethik und Recht u. a. formgeschichtlich differenzieren, indem er Redeformen des Rechts (kasuistische Sätze) von solchen der Ethik (Prohibitive/Vetitive) verbunden mit der Frage abhebt, ob es im Alten Testament neben wandelbaren Vorschriften solche gebe, die unwandelbar seien, was offen bleibt wie auch die Frage, ob Recht oder Ethik ursprünglicher seien und ob sich die Moralität der Bibel nach der Vernunft oder vice versa richten soll. Der Vf. verweist als Antwort auf den »ekklesiologischen Horizont der Schriftauslegung«. Wird die biblische Ethik in die Grenzmauern von Kanon und Kirche eingeschlossen, so korrespondiert dem, dass sie von ihren altorientalischen Wurzeln, die in diesem Band keine Rolle spielen, getrennt und damit unhistorisch wird, denn nur ihre historischen Kontexte lassen ihr spezifisches Profil innerhalb der altorientalischen Kulturgeschichte erkennen.
J. Schnocks stellt angesichts der Spätdatierung vieler Texte die Frage nach dem Ursprung eines israelitischen Ethos als Teil der Ausbildung einer israelitischen Kultur in der spätvorexilischen Zeit verbunden mit einer Kompetenzerweiterung JHWHs in dieser Zeit. I. Müllner will nach der Rolle der Ge­schlechterkonstruktion in Gesetzestexten fragen und M. Mark nach der kommunikativen Funktion der Anrede eines nicht spezifizierten »Du« im Dekalog, was auf seine universale Geltung weise. Th. Hieke arbeitet zur Begründung der Ethik in Lev 19 mit JHWHs Heiligkeit, wobei die Heiligkeitskonzeption der Priesterschrift vom Heiligtum auf die Ethik übertragen worden sei. M. Konkel sieht im Buch Ezechiel eine Spannung zwischen Determinismus und Freiheit und fragt nach der Möglichkeit der Umkehr, die in den späten Schichten des Buches an Gottes Neuschöpfung gebunden wird. M. Häusl zeigt auf, dass im Buch Esra/Nehemia der Begriff der Tora die Pentateuchrezeption in Normen begründender Funktion in der Unterweisung bezeichnet, und M. Scoralick, dass das Buch Sirach sich implizit auf die Tora bezieht, die zur Begründung der Ethik dient und in diesem Zusammenhang weiterentwickelt wird. B. Schlenke will anhand von 1QS zeigen, wie in Qumran mit biblischen Zitaten aus Tora und Prophetie neue Regeln gerechten Lebens extrapoliert wurden. D. Markl verweist unter dem Aspekt der Relevanz einer alttestamentlichen Ethik auf ihre Begründung durch Erfahrungen der Exodus-Befreiung ihrer Adressaten in Israel, die in ihrer Funktion in Rechtstexten schon mehrfach beschrieben worden sei, nicht aber im ganzen Kanon, und spricht in diesem Zusammenhang von einem »Grundethos« des Alten Testaments gegen jede »Herren-Attitüde«. Der Beitrag von U. Berges schließt sich gut an den von D. Markl an und entfaltet an prophetischen Texten orientiert eine kritische Hermeneutik der Lektüre der Texte »against the grain«. B. kann sich auf dieser methodisch-hermeneutischen Basis auch den »dunklen« Texten der prophetischen Kritik an der »Erbarmungslosigkeit des göttlichen Weltherrschers« zuwenden, insofern es im Umkehrschluss auch keine irdische Macht geben könne, der nicht der gleiche Protest entgegenschlagen müsste, wenn sie im Namen von Gerechtigkeit Wehrlose schädigt und tötet. R. Kessler sieht in einer alttestamentlichen Wirtschaftsethik des Zinsverbots eine Herausforderung für die gegenwärtige Ökonomie und plädiert für eine »Beschränkung von Eigentum« als notwendig, doch soll die Frage, wie diese Forderung konkret werden soll, in diesem Beitrag nicht diskutiert werden.
S. Goertz gibt einen Überblick über Bibellektüren in Entwürfen gegenwärtiger Moraltheologie und stellt kritische Anfragen an »eine Renaissance der Tugendethik« und der Revitalisierung einer biblischen Ethik. »Es gibt Ansätze, die in ihrer Kritik an der modernen liberalen Ethik und ihrem Antagonismus zwischen Kirche und Welt so weit gehen, dass die Grenze gegenüber fundamentalistisch-biblizistischen Positionen nur noch schwer zu markieren sind.« Er schlussfolgert: »Wenn es einen biblischen Universalismus gibt, dann wird christliche Ethik auf eine autonome Moral setzen müssen. Wenn der biblische Gott ein Gott der Freiheit ist, der Freiheit will und sie unbedingt achtet, dann ist der Mensch in seiner Freiheit gerechtfertigt«. Dem ist nachdrücklich zuzustimmen, und es sollte von den Bibelexegeten gehört werden. Wenn aber der Zugang zur Bibel nur ein historischer und kritischer sein kann, dann stellt sich umso dringlicher die hermeneutische Frage nach der Applikation von Ethos der historisch interpretierten Texte der Bibel. Dem Rezensenten hat sich die Frage nach der hermeneutischen Applikation vor mehr als vierzig Jahren in kritischer Diskussion mit Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas gestellt (»Die Applikation als Problem der politischen Hermeneutik«, ZThK 71 [1974], 145–181), und sie liegt auch seiner Entscheidung von 1994 für einen historisch-deskriptiven Zugang zur »Theologischen Ethik des Alten Testaments« zugrunde, der in seiner historischen Pluralität weder ekklesiologisch noch kanonisch domestiziert werden kann.
Soll nach einem Vierteljahrhundert wieder eine Ethik des Alten Tes­taments geschrieben werden, so soll man sich an Ernst Troeltsch erinnern, der in seiner Studie zur hebräischen Prophetie von 1916 und zum Aufbau der neuzeitlichen Kulturgeschichte von 1920 (siehe dazu E. Otto, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: W. Schluchter u. a. [Hrsg.], Asketischer Protestantismus und der »Geist« des modernen Kapitalismus, Tübingen 2005, 201–256) aufgezeigt hat, dass die biblischen Texte in einem ersten Schritt konsequent in ihrem historisch-gesellschaftlichen Kontext unter Einschluss des Alten Orients zu verorten und zu interpretieren sind, um sie in einem zweiten Schritt in eine neuzeitlich-universale »Kultursynthese«, der eine Theologie der Religionen, wie sie der junge Wolfhart Pannenberg angedacht, aber nie geschrieben hat, zugrunde zu legen ist, als eine ihrer historischen »Grundgewalten« (Troeltsch), von denen wir in der Moderne leben, einzubringen. Das gilt in besonderem Maße für jede neuzeitliche biblische Ethik, die sich ihrer altorientalischen Kontexte bewusst ist.