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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

733–735

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eisen, Ute E., u. Ilse Müllner[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2016. 528 S. = Herders biblische Studien, 82. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-451-31580-0.

Rezensent:

Ann-Christin Grüninger

Dieser Sammelband geht aus einer interdisziplinären Tagung mit dem Titel »Gott als Figur« (2013) hervor, die von den beiden Herausgeberinnen an der Justus-Liebig-Universität Gießen veranstaltet wurde. Da nicht nur bibelwissenschaftliche, sondern auch literatur- und medienwissenschaftliche Stimmen zu Wort kommen, eröffnet der Band einen breiten Horizont.
In Teil I (»Hinführungen«) führen die Herausgeberinnen Ute E. Eisen und Ilse Müllner zunächst in das Thema ein (»Gott als Figur – eine Einführung«; 11–26). Die spannende, dem Band überschrie-bene Ausgangsfrage lautet: »Wie wird (von) Gott erzählt? Wie tritt Gott als Figur in biblischen und nachbiblischen Texten und in anderen Medien wie Filmen und Comics in Erscheinung?« Zur Untersuchung einer methodisch reflektierten und systematisch aufgearbeiteten Konstruktion von Figuren dient die narratolo-gische Figurenanalyse als Instrumentarium und Ausgangspunkt. Bei Anwendung der narratologischen Figurenanalyse auf biblische Texte ergeben sich zwei Herausforderungen: 1. der historische Abstand von heutigen Figurentheorien einerseits und biblischen Texten andererseits sowie 2. die Tatsache, dass die zu beleuchtende Figur Gott ist. Trotz dieser Herausforderungen erscheint das Un­ternehmen vielversprechend: »Gott als eine Figur wie alle anderen zu analysieren« (15) ermöglicht eine narrative Darstellung Gottes, durch die nicht nur einzelne Handlungsfelder ausgemacht werden können, sondern auch deren literarische Position und Funktion. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Jens Eder gibt in seinem Beitrag »Gottesdarstellung und Figurenanalyse. Methodologische Überlegungen aus medienwissenschaftlicher Perspektive« (27–54) Aufschluss darüber, wie Figuren und insbesondere Gottesfiguren analysiert und interpretiert werden können. Hierzu stellt Eder das Modell »Uhr der Figur« vor, mit Hilfe dessen sich vier Dimensionen (Figur als Artefakt, dargestelltes Wesen, Symbol und Symptom) einer Figur beleuchten lassen.
Der II. Teil des Buches (»Gott als Figur in der Hebräischen Bibel und in deuterokanonischer Literatur«) beginnt mit dem Beitrag »Die literarische Konzeption der Figur Gott im Buch Exodus« (57–87) von Susanne Gillmayr-Bucher. Es werden zunächst Handlungsfelder Gottes (JHWH als Redender; JHWH handelt zugunsten Israels; JHWHs Handeln wendet sich gegen Menschen) vorgestellt und in einem zweiten Schritt die Figurenwelt JHWHs mit der sogenannten »Possible Worlds Theory« skizziert. Hierbei wird auf Gottes Wahrnehmung (Hören; Sehen), seine Selbstvorstellung (z. B. Ex 3), seine »Recht und Ordnung schaffende Instanz« (72) und seine Intentionen und Wünsche eingegangen. Weiterhin wird nach Gott aus der Perspektive anderer Figuren gefragt, und abschließend wird die Perspektive der Leser und deren Wahrnehmung der Gottesfigur eingenommen. Der folgende Aufsatz »Die Samuelbücher – Gott in Menschen, Tieren und Dingen erzählen« (88–123) von Ilse Müllner untersucht, wie Gott in einer Konstellation von Erzähl- und Figurenstimmen (z. B. David) sowie in der »Lade« und den »säugenden Kühen« präsent ist. Im Anschluss entfaltet Uta Schmidt in »›A Figure of Speech‹ – Gott als Figur in Jesaja 49–55« (124–149) die These, dass Gottes Handeln in Jes 49–55 vor allem ein »Sprech-Handeln« (124) ist. Hiernach konzentriert sich Stefan Fischer in »Gott als Figur prophetischer Rede. Eine Analyse göttlicher Ich-Reden im Zwölfprophetenbuch« (150–186) auf Metaphern (z. B. Gott als väterlich handelnd; Gott als Ehemann; Gott in Tätigkeiten des Heilens; Gott im Kontext der Kriegsführung) und Vergleiche (Theriomorphismen; Schöpfungsvergleiche) in den Ich-Aussagen Gottes, stellt diese zusammen und systematisiert sie. Der folgende Aufsatz »›Neige, JHWH, dein Ohr! Antworte mir!‹ (Ps 86,1) – Gott als Adressat in den Psalmen« (187–216) von Sigrid Eder nimmt eine Charakterisierung der Figur Gott vor, indem die Aufforderungen zum Handeln und Anreden Gottes des betenden Ichs/Wir analysiert werden. So schreiben die Beter im Psalter Gott vielzählige Eigenschaften zu (retten, Recht schaffen, behüten, vergeben u. v. m.), wodurch erkennbar wird, dass die positiven Gotteserfahrungen der Vergangenheit den Referenzrahmen für das erhoffte Handeln Gottes in der Gegenwart und Zukunft bilden. Barbara Schmitz konzentriert sich in ihrem Beitrag »Gott als Figur in deuterokanonischer Literatur« (217–237) auf die Schriften Jud, 1/2 Makk, Tob und Est und stellt insgesamt fest, dass sich Gott in keinem dieser Bücher zu Wort meldet. Auch sein Handeln wird »auf ein absolutes Minimum reduziert«, stattdessen aber »die Reflexion über Gott immens ausgeweitet« (235). Yvonne Thöne schließt mit ihrem Aufsatz »›Wie eine Bärin, der Kinder beraubt …‹ (Hos 13,8) – Handlungsfelder tierlicher Gottesfigurationen« (238–266) den II. Teil des Buches ab und beschäftigt sich mit den seltenen tierlichen Darstellungen Gottes im Alten Testament (Gott im Vogel-, Löwen- und Bärenbild).
Auftakt des III. Teils (»Gott als Figur in neutestamentlicher und in apokrypher Literatur«) ist der Beitrag von Judith Hartenstein »Hauptfigur im Hintergrund? Grundtendenzen und Besonderheiten der narrativen Darstellung Gottes in frühchristlichen Evangelien« (269–294), der ein »Zurücktreten des Handelns Gottes in den späteren Evangelien [insbesondere gilt dies für EvThom, das EvMar und KThom]« (292) konstatiert. Karl Matthias Schmidt erläutert in »Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur ›Gott‹ in der lukanischen Kindheitserzählung« (295–320), dass Gott zwar »durch Agenten anwesend ist« (317), als konkrete Figur aber nicht in Erscheinung tritt. Ute E. Eisen resümiert in »Offenbarer Gott im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte?« (321–348), dass Gott in der lukanischen Erzählung zwar nur dreimal spricht, er aber dennoch das »Handlungszentrum« und Lenker der gesamten Geschichte ist. Der Beitrag »Der Lebendige – Gottesfiguration bei Paulus« (349–373) von Uta Poplutz zeigt auf, dass eine Charakterisierung der Figur Gott für Paulus nur im Zusammenspiel und im »Kontext anderer figuraler Größen« (369) möglich ist. Der III. Buchteil schließt mit einem Aufsatz von Nils Neumann, der den aussagekräftigen Titel »Der Thron und die δόξα. Die anschauliche Charakterisierung Gottes in der Johannesoffenbarung« (374–395) trägt.
Der IV. Teil (»Gott als Figur intermedial«) wird von Georg Langenhorst mit seinem Aufsatz »Neues von der ›Gottsucherbande‹ – Wandlungen der Gottesrede in der Literatur unserer Zeit« (399–427) angeführt und legt eindrücklich ein wiederentdecktes Interesse an der Figur Gott in der deutschen Literaturlandschaft der letzten 20 Jahre dar. Im Anschluss daran werden die Medien Film und Comic in den Blick genommen (Martin Ostermann »›Ich habe nicht gewusst, dass ich ihn suchen soll‹ – Von Gott erzählen in Spiel-filmen« [428–453]; Frank Thomas Brinkmann »Gott als Figur im Comic. Fragmente auf vier praktisch-theologischen Notizblöcken« [454–481]). Den Gesamtabschluss des Buches bildet Andreas Mauz mit seinem Beitrag »Gott als Protagonist von Offenbarungserzählungen. Neale Donald Walschs Conversation with God (1996–1998) in poetologischer Perspektive« (482–516). Ein Stellenregister rundet den Sammelband ab.
Das Werk ist insgesamt gut lesbar und bietet eine innovative Herangehensweise an biblische Texte durch die narratologische Figurenanalyse. Ein deutlicherer Bezug der Beiträge auf das von Jens Eder entwickelte Analysemodell wäre teilweise wünschenswert gewesen und hätte der Kohärenz des Sammelbandes insgesamt gutgetan. Die jeweiligen Literaturverzeichnisse am Ende der Beiträge sind sehr hilfreich für weitere Erforschungen.