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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

729–731

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kirsch, Thomas G., Schlögl, Rudolf, u. Dorothea Weltecke[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion als Prozess. Kulturwissenschaftliche Wege der Religionsforschung.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 256 S. m. 1 Abb. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-506-78116-1.

Rezensent:

Birgit Weyel

Dieser Band ist im Rahmen des Konstanzer Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration entstanden und versammelt eine Reihe von Fallstudien zur Religion, die zugleich etwas zum Verständnis von Religion in theoretischer Perspektive beitragen sollen. Religion wird als ein soziales Phänomen verstanden, das immer wieder aufs Neue in konkreten historischen Konstellationen aufgesucht und aufgefunden werden muss. Vor dem Hintergrund der Problemanzeige, dass Religion häufig als ein Ding behandelt wird, wird in dem hier durchgeführten Forschungsprogramm Religion als heuristisches Konzept verstanden. In vier »Suchbewegungen« (7) werden die Fallstudien rubriziert und zu­gleich systematisch auf ein Verständnis von Religion hin ausgewertet, das diese wesentlich prozesshaft versteht und die Religion in konkreten Konstellationen allererst zu rekonstruieren sucht.
In dem ersten Teil des Buches »Begriffe« werden zwei Texte zum Religionsbegriff vorangestellt. Dorothea Weltecke skizziert die Entstehung des Religionsbegriffs und fragt nach der Vorgeschichte des Religionsbegriffs. Sie kann zeigen, dass vor der Entstehung des Religionsbegriffs in der Moderne eine Vielzahl an begrifflichen Konzeptionen das Feld des Religiösen in differenzierter Weise be­schrieben haben. Nicht nur greift ein vorwiegend anthropologisch-ethisches Verständnis von religio zu kurz, vielmehr sind unterschiedliche, nuancenreiche Aspekte des Religiösen mit Be­griffen wie doctrina, cultus, secta, fides, lex u. a. angesprochen. Die neuzeitliche Konzentration auf den Begriff der Religion lässt sich als »Entdifferenzierungsschub« (29) beschreiben. Rudolf Schlögl schließt mit einem Beitrag zum Thema »Begriffe von Religion am Beginn der europäischen Moderne (1700–1850)« thematisch an. Er zeigt die Konstitutionsbedingungen der Religion als historische Semantik auf und illustriert beispielhaft in wissenssoziologischer Perspektive, »durch welche Praktiken der inneren und äußeren Differenzbildung soziale Gegenstandsfelder jeweils Konturen und Stabilität gewannen« (35).
Die zweite Sektion des Bandes »Zuschreibungen« umfasst vier Beiträge. Religion wird, so die These, die in den Beiträgen veranschaulicht wird, »eingebettet in soziale und kulturelle Kontexte durch ›Differenzsetzungen und Identitätsbestimmungen‹ hervorgebracht« (55). Die Beiträge, die diese These veranschaulichen, dokumentieren mediale Akte der Zuschreibung, die Narrative und Leitmotive allererst erzeugen. Eva Brugger zeigt diesen komplexen Prozess am Beispiel der Steingadener Wieswallfahrt (Mediale Landschaften. Die Entstehungsgeschichte der Wieswallfahrt im Horizont der Gnadenbild-Übersetzung 1749) auf. Die Rushdie-Affäre als Medienereignis nimmt Nicole Falkenhayner in den Blick (Das Me­dienereignis der Rushdie-Affäre. Ein Beispiel für Zuschreibungsakte und ihre rhetorischen Bewegungen in kulturalisierten Konfliktdebatten um den Islam in Europa). Özkan Ezli widmet sich dem Fall der Konstanzer Muslima, deren Wunsch, in einem öffentlichen Bad einen Burkini zu tragen, vielschichtige Akte der Zuschreibung und eine öffentliche Burkini-Debatte ausgelöst hat. Seine differenzierte Rekonstruktion des Falles zeigt, dass dieser eher mit einer Mobilisierung sozialer Ordnung als mit Stagnation verbunden ist. Nicht Integration oder Partizipation sei die Frage, die sich anlässlich der Burkini-Debatte stellte, sondern vielmehr die nach dem Umgang mit Differenz. Auch in dem Beitrag von Yasemin Soytemel geht es wesentlich um die Dynamiken von Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung im Spannungsfeld von Religionszugehörigkeit und Ethnie (Religion als Glaube oder Zugehörigkeit? Türkisch-deutsche Jugendliche im Umgang mit ethnisch-religiöser Vielfalt).
Die Beiträge von Sandro Liniger (Heiliger Krieg. Zur Genese religiöser Konfliktlinien in den »Bündner Wirren«), Sina Rauschenbach (Gemeinsame Gegner. Zur integrativen Wirkung von Polemik in christlichen Kontroversen der Frühen Neuzeit) sowie Thomas G. Kirsch (Im Einvernehmen. Konsensstreben als Leitmotiv religiöser Praxis) sind in einer dritten Sektion am Begriff des Leitmotivs orientiert. Ausgehend von Clifford Geertz’ Aufsatz zu Religion als kulturellem System aus dem Jahr 1983 wird der Begriff des Motivs für die inhaltliche Ausrichtung religiöser Handlungsorientierungen von Geertz einerseits aufgenommen, andererseits aber im Blick auf empirische Pluralismen ausgeweitet, in denen sich mehrere Gruppen, Lebensformen und Religionen wechselseitig beobachten und die religiöse Motivik nur im Zusammenhang ihrer Interaktionen verständlich wird. Hierbei kommt es auch zu Überschneidungen und Überlappungen, die keine distinkten Differenzierungen mehr zulassen.
Mit »Grenzen« ist die vierte Sektion überschrieben. Sie enthält Beiträge von Kai-Henrik Günther (Jerusalem 1228/29 und 1098/99: Verhandlungen über eine unblutige Inbesitznahme), Susanne Härtel (Die Mauer des jüdischen Friedhofs in Regensburg [1210–1519]. Verhandlungen einer religiösen Grenze?) und Tim Weitzel (Häresie und Orthodoxie in zeitgenössischen Texten zum Albigenserkreuzzug: Oszillation religiöser Grenzen). Der Umgang mit religiöser Differenz in der Vormoderne wird in diesen Beiträgen »vor allem als Ergebnis des Handelns historischer Akteure an konkretem Ort und zu bestimmter Zeit« (189) verstanden. Differenzen werden ausgehandelt und markiert. Es liegt von daher nahe, Grenzziehungen in einer praxistheoretischen Perspektive zu betrachten, die diese konkreten Prozesse zu beschreiben sucht.
Die in diesem Band dargestellten Fallbeispiele sind – jedes für sich genommen – aufschlussreich zu lesen. Ein großer Gewinn liegt darüber hinaus in der konzeptionellen Durchführung, zu­gleich einen kulturwissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis von Religion zu leisten. Nicht nur für die Praktische Theologie ist dieser Ansatz sowohl produktiv als auch anschlussfähig.