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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

727–729

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Lucian, u. Volkhard Krech[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 6/1: 20. Jahrhundert – Epochen und Themen.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 613 S. m. Abb. u. Tab. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-506-72025-2. Bd. 6/2: 20. Jahrhundert – Religiöse Positionen und soziale Formationen. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2016. 511 S. m. Tab. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-506-78213-7.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Eine Religionsgeschichte des 20. Jh.s gab es bislang noch nicht, sie zu konzipieren war die Herausforderung für die beiden Herausgeber der Bochumer Universität. Volkhard Krech als Religionssoziologe, Lucian Hölscher als Neuzeithistoriker mit solchen Fragestellungen vertraut, gliederten in drei Kategorien: Eine in zeitliche Epochen, eine zweite in »Themen«, will sagen Religion als Regelungsaufgabe staatlicher Institutionen bzw. in kulturellen Bereichen wie Recht, Medien, Kunst (Band 1); eine dritte nach Konfessionen bzw. Religionen (religiösen Gemeinschaften und Institutionen); eine vierte setzt die Perspektive auf soziale Formationen (Band 2). Religionsgeschichte soll der gemeinsame Fokus sein in der breiten Semantik, die der Begriff seit dem 19. Jh. gewonnen hat, in der religionswissenschaftlichen Hermeneutik, die weder in der institutionellen Formation noch in den Religionen aufgeht (Ge­schichte der Religionen), sondern auch Atheismus oder Säkularisierung als Teil der Religionsgeschichte einer Gesellschaft mit um­fassen muss. Für manche Beiträger ist die Fragestellung noch wenig vertraut, wenn sie weitgehend noch in der institutionalisier­ten Religion denken oder auf Theologiegeschichte fokussieren (wie beim Protestantismus in Band 2). Aber zweifellos haben die Herausgeber eine glückliche Hand bei der Auswahl der einzelnen Bearbeiter gehabt. Alle Beiträge habe neue Aspekte auf hohem Niveau und guter Kenntnis der Forschung eingebracht zu einem neuartigen Werk, das sowohl Geschichte der Religion als auch die Qualität eines Handbuchs bietet.
Die methodische Schwäche der ersten Bände des Handbuchs (Band 2, Band 1, Band 5: meine Rezension ThLZ 132 [2007], 1295–1297; ThLZ 137 [2012], 23–25) kommt hier nicht zur Anwendung, nämlich die religionsphänomenologische Methode; im Gegenteil ist hier eine religionswissenschaftliche Konzeption gewonnen (wie auch schon in Band 4: dazu meine Rezension ThLZ 139 [2014], 1418–1420). Eine Schwäche bleibt, eine Formalie: Der Text erlaubt keine Fußnoten; so sind die Anmerkungen – darunter auch Differenzierungen, nicht nur Zitatnachweise – als Endnoten am Ende des Bandes, die abgekürzte Literatur muss man in einer dritten Abteilung nachschlagen, farbige Abbildungen noch in einem gesonderten Bogen. Und der Kolumnentitel gibt nicht an (anders in Band 5), zu welchen Seiten die Endnoten und Bibliographien gehören. Also benötigt man mindestens vier Lesezeichen.
Nach einer knappen Einleitung umfasst Teil I (Band 6/1) »Epochen«: Andreas Holzem, Erster Weltkrieg (21–60.415–423.517–527); Siegfried Weichlein, Zwischenkriegszeit (61–112.424–435.527–542); Christoph Auffarth, Drittes Reich (113–134.439–449.542–553); Anto-nius Liedhegener: Nachkriegszeit 1945–1960 (135–174.449–455.554–559); Peter Bräunlein, Die langen 1960er Jahre (175–220.456–468.559–571); Thomas Mittmann, Der Zeitraum von 1975 bis 1989 (221–244.468–475.571–579); Jens Schlamelcher, Der Zeitraum seit 1989 (245–266.475–481.579–585). Die Epochen-Kapitel sind umfassend be­handelt, das ist ein ausgezeichneter Auftakt, der Religionsgeschichte klar unterscheidet von Kirchengeschichte.
Teil II (Band 6/1): Unter »Themen« geht es zunächst um Apokalypse und Verarbeitung von Katastrophen (Nikolai Hannig, 269–284.481–484.586–589). Frank Bösch beschreibt das Verhältnis von Medien und Religion (285–311.484–491.590–596) mit einem Übergewicht der katholischen Seite. Das komplexe Thema Kunst und Religion untersuchen Markus Kleinert, Volkhard Krech und Magnus Schlette (312–345.491–497.597–602). Traugott Jähnichen beschäftigt sich mit religiöser Lebensführung bzw. den ethischen Diskursen (346–388.498–505.602–609), Sarah Jahn mit Recht und Religion (389–414.506–510.609–613).
Teil III (Band 6/2) gliedert die Religionsgeschichte nach den einzelnen Konfessionen. Alf Christophersen stellt den Protestantismus vor (II 15–55.339–345.414–419), beschränkt sich dabei aber weitgehend auf Theologiegeschichte. Dadurch treten liberale Theologien (wie Troeltsch und Tillich) in den Vordergrund, der Aufstieg der Evangelikalen dagegen nicht; die DDR-Theologie Kirche im Sozialismus fehlt ebenso wie die Bedeutung des Deutschen Evangelischen Kirchentages für die Demokratisierung der BRD. Thomas Mittmann gibt einen Überblick zum römischen Katholizismus breiter als eine Kirchengeschichte, aber die Religiositätspotentiale bei Events wie dem Weltjugendtag sind unterschätzt. Tobias Sarx bespricht weitere christliche und christentumsnahe Gemeinschaften (II 93–119.351–356.426–432): Altkatholiken, Pietisten, Pfingstler; Neuapostolische, Zeugen Jehovas, Mormonen, Christian Science, Neue Religiöse Bewegungen. Justus Ulbricht gelingt es, aus seiner enormen Kenntnis das Dickicht der völkischen Religiosität zu überblicken (II 121–138.356–368.432–445). Uri-Robert Kaufmann be­spricht das Judentum des 20. Jh.s (II 139–150.368–370.445–447), bleibt aber zu eng bei Religion. Levent Tezcan schreibt die Ge­schichte des Islam in Deutschland (151–176.370–374.447–451). Diethard Sawicki arbeitet Gemeinsamkeiten in den Gruppen der Esoterik heraus (177–188.375–377.451–455). Todd H. Weir stellt Gruppen des religiösen Säkularismus, gemeint sind Freireligiöse, Frei-denker, Monisten, Ethiker, Humanisten, vor (189–216.377–381.455–459).
Der vierte Teil (Band 2, Teil II) Soziale Formationen beginnt mit dem magistralen Beitrag von Lucian Hölscher, Arbeiterschaft und Bürgertum (219–265.382–390.460–470), der seine umfassenden Arbeiten hier in einem großen Bogen und neu zusammenfasst. Kornelia Sammet bearbeitet »Geschlechter« (267–292.390–396.470–476) etwas einseitig auf Frauengeschichte beschränkt – dort aber mit klaren Linien: sozialgeschichtlich, Frauenordination, feministische Theologie. Das muslimische Kopftuch wirkt eher als Appendix. Abgeschlossen wird der Band mit dem Beitrag Generationen von Christel Gärtner (293–338.396–409.476–485). Dieses wichtige Konzept, Ge­schichte und soziales Gefüge zu gliedern, wendet die Religionssoziologin auf die Religionsgeschichte des 20. Jh.s an. Sie konstatiert zwei Brüche, einmal der Jugendbewegung in der »Krise der Moderne« um 1900, dann nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Beispiele aus eigenen Forschungen beschäftigen sich mit der Adoleszenz von Katholiken, die zu Anhängern Drewermanns am Rande des sich auflösenden katholischen Milieus wurden.
Für einen ersten Wurf einer religionswissenschaftlichen Reli-gionsgeschichte ist vieles schon gelungen. Herausragend ist die Beschreibung der langen 1960er Jahre oder die sozialgeschichtliche Analyse von Bürgertum und Arbeiterschaft, anders als in der üblichen kirchengeschichtlichen Perspektive wird die Religion des Dritten Reiches dargestellt. Kunst wird nicht reduziert auf Kunst für kirchliche Zwecke behandelt. Herausragend ist auch Jähnichens Beschreibung der ethischen Diskurse je im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderung.