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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

683–685

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sloane, Andrew

Titel/Untertitel:

Vulnerability and Care. Christian Reflections on the Philosophy of Medicine.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2016. 224 S. = Religion and the University. Geb. US$ 114,00. ISBN 978-0-567-31677-6.

Rezensent:

Ulrich Dietz

Gesellschaftliches und persönliches Handeln geht bewusst oder unbewusst vom Menschenbild aus: »Was ist der Mensch?« Andrew Sloane untersucht von dieser Perspektive aus den Zusammenhang zwischen der zeitgenössischen Bioethik und dem Auftrag der Medizin im Alltag. Er möchte es als ein Buch über Philosophie und Theologie der Medizin verstanden wissen und postuliert gleich zu Anfang, dass Gesundheit, Heilung und Verminderung des Leids weder die Ziele noch das Wesen der Medizin sein können. S. veranschaulicht seine Sicht der Medizin und den Kontext seiner medizin-ethischen Überlegungen an Alltagsbeispielen, die in direkter Abhängigkeit geschichtlicher und lokal-politischer Gegebenheiten stehen, um damit den übergeordneten, von Umständen unabhängigen Heilanspruch der Medizin zu relativieren. Ausgehend von der sozialen Ungleichheit und Eingebundenheit menschlichen Handelns in den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis und der Ent wicklung technischer Lösungen entblößt er die von der WHO postulierte Definition von Gesundheit als verfehlt. In der anschließenden prägnanten Skizzierung gegenwärtiger Bioethik und Philosophie der Medizin greift S. die polarisierenden Beispiele der Euthanasie und Organtransplantation auf, um die Grenzen menschlich autonomen Denkens – unabhängig von einem Gotteskonzept – aufzuzeigen. Wohltuend ist dabei aus der Sicht des Mediziners die Relativierung des Anspruchs der evidenzbasierten Medizin, »der Weg« sein zu wollen. Er gesteht dem ärztlichen Handeln eine gesunde subjektive Dimension zu und erweitert den Bewegungsraum verantwortungsbewussten, menschenzentriert ärzt-lichen Tuns: Hier – und auch im Abschnitt »Theologie der Medizin«– fühlt sich der Mediziner gesehen, und hier wird klar, dass Leid auch einen Sinn haben kann.
Der Leser wird durch Darstellung und Diskussion vielseitiger Literaturstellen und durch die Zusammenfassung der Arbeiten verschiedener Vordenker angenehm beschenkt. So ist die Auseinandersetzung mit Neil Messers Theologie der Gesundheit – mit Exkursen zu Karl Barth und Thomas von Aquin – in der Darstellung von Gesundheit als einem »vorletzten Gut« genauso erfrischend wie der in Zusammenhang mit Nicholas Wolterstorffs Epis­temologie gestellte Aufruf an Christen, ihr Umfeld mit ihrem christlichen Weltbild zu beeinflussen.
Im vorletzten Kapitel kommt S. auf die Fragen »Was ist die Medizin« und »Was ist der Auftrag der Medizin« zurück. S. vertritt den Stand, dass die Aufgabe der Medizin nicht »Gesundheit«, sondern »Fürsorge« gegenüber vulnerablen, körpergebundenen, sterblichen Kreaturen in der Gesellschaft ist. Er sieht die Medizin als »soziale Praxis« im jeweiligen kulturellen und epochalen Kontext. Medizin sei ein Ausdruck der Fürsorge der Gesellschaft gegenüber Menschen mit physischer oder psychischer Bedürftigkeit. In dieser Fürsorge solle sich die Medizin der gegenwärtigen Erkenntnisse und Ressourcen bedienen und entsprechend neuer Rahmenbedingungen weiterentwickeln, ohne aber z. B. Behinderungen und Sterbeprozess zu instrumentalisieren. Der übergeordnete Argumentationsaufbau S.s geht dabei von der Prämisse aus, dass Religion – und konkret das Christentum – ein wahrgenommenes mitgestaltendes Element unserer Kultur sei. Dies ist wahrscheinlich das schwächste Glied in der Argumentationskette, hat sich doch der christliche Glaube in der westlichen Kultur merkbar auf die Ebene der Ethik zurückgezogen. Gleichzeitig wurde ökonomisches Denken zu einem unanfechtbaren Götzen erhoben. In der realpolitischen Welt ist oft moralisches Handeln als solches kein primär erstrebenswertes Gut mehr. Ethik und Moral reagieren auf Tatsachen, die auf anderen Ebenen der Gesellschaft geschaffen werden; daher ist auch der Anspruch der Ethik und Moral an die heutige Gesellschaft ein naiver und wird nicht gehört werden. Erst die Unterordnung einer Gesellschaft unter eine übergeordnete Instanz (Gott) würde Ethik und Moral auf eine mitgestaltende konstruktive Ebene stellen, dies zeigen die Ausführungen S.s deutlich. Doch versäumt es S., dies auf die WHO-Definition von Gesundheit zu extrapolieren: Die WHO-Definition ist dermaßen unrealistisch, dass sie durchaus als Utopia eine ethisch-normative Kontrollfunktion ärztlichen Handelns in einer religionsfreien ökonomisierten Welt einnimmt und dem Arzt das fehlende, aber existentiell nötige transzendente »Etwas« bietet. Erst wo die christliche Ethik den Weg zurück zum gelebten christlichen Glauben findet, stellt sie diese übergeordnete normative Orientierungsaufgabe menschlichen und ärztlichen Handelns durch Rehabilitierung des Transzendenten wieder her. In der Zwischenzeit sind wir dankbar für die WHO-Definition. Die Theologie muss uns nicht einen Spiegel vorhalten, in den wir selbstzufrieden hineinschauen (man denke an das Paradox moralischer Selbst-Regulation im Experiment von Sonya Sachdeva »Sinning Saints and Saintly Sinners«, Psychological Science), sie muss uns ein Fenster zur Ewigkeit öffnen. Als Christ hat mich das Buch inspiriert, als Arzt nicht. Die Kluft zwischen der dargestellten »Theologie der Medizin« und dem aktuellen Stand der »ökonomisierten Medizin« könnte nicht größer sein. Die Brücke zur Überwindung dieser Kluft wird nicht auf Initiative der Ökonomie gebaut werden, und dass Mut und Ideen für einen Brückenbau von Seiten der Theologie noch fehlen, offenbart S. in der Ausformulierung seiner Umsetzungsvorschläge, die die Erwartung des Lesers in diesem Punkt enttäuschen. Zum Schluss entsteht der Eindruck, dass S. nach der umfangreichen Aufarbeitung der Literatur die Kraft, das Eigene zu formulieren, ausgegangen ist.
In einem denkwürdigen Plädoyer vor Chirurgen ist der Theologe Helmut Thielicke 1968 der Frage des Psalmisten nachgegangen: »Was ist der Mensch?« (Psalm 8,5–6) Sein Fazit: »Der Mensch ist nicht etwas mehr als die Kaulquappe – er ist etwas geringer als Gott.« Zu diesem Bekenntnis gehört Mut. S. hat sich eine große Aufgabe gestellt, diesen Erkenntniswandel in der Gesellschaft anzustoßen und die Medizin auf die Ebene einer christlichen, den Nächs­ten liebenden, menschenbejahenden Fürsorge zu holen.