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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

681–683

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nassehi, Armin, Saake, Irmhild, u. Jasmin Siri [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik – Normen – Werte.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2015. IX, 323 S. = Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, 1. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-658-00109-4.

Rezensent:

Florian Höhne

Mit diesem Sammelband eröffnen die Münchner Soziologen Armin Nassehi und Irmhild Saake eine neue Buchreihe, in der »Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten« erscheinen sollen. Das von Nassehi schon in früheren Publikationen entwickelte Konzept einer »Gesellschaft der Gegenwarten« geht Systemtheorie weiterentwickelnd von verschiedensten inkommensurablen Perspek-tiven in der modernen Gesellschaft aus (28): An ein Ereignis kann ganz unterschiedlich angeschlossen werden, unterschiedlichste Ge­genwarten entstehen (27 f.), was die auch empirische Erforschung dieser spezifischen Gegenwarten ermöglicht.
Das Thema des Bandes ist denkbar weit gefasst: »Ethik – Normen – Werte«. Behandelt wird deren Rolle in den unterschied-lichsten Kontexten: Intimität, Militär, Wirtschaftsorganisationen, Mode, Politik und Medizin. Roter Faden sind zwei ähnlich geprägte Beobachtungsperspektiven, die in dem Band verbunden werden sollen (3): Während der erste Teil des Bandes diese beiden Perspektiven vorstellt, untersuchen die anderen beiden Teile Ethik, Normen und Werte meist empirisch in den genannten Bereichen.
Armin Nassehi erklärt in seinem Beitrag die sich durch den Band ziehende sys­temtheoretische Perspektive auf Ethik als Be­gründungspraxis für moralisches Handeln (13–15.23) und identifiziert das Bezugsproblem der Ethik in der von ihm so genannten »Theodizee des Willens«. Interessant an seinem »Versuch einer gesellschaftstheoretischen Kontextualisierung des ethischen Argumentierens« (25) ist besonders seine Beschreibung einer empirischen Konsequenz der Habermas’schen Diskursethik (32 f.): Diese bestünde darin, »dass sich die Sprecherpositionen unheilbar multiplizieren und damit das Sprechen selbst zum Argument wird« (33). So werde die »›Theodizee des Willens‹ […] nicht mehr über seine Einschränkung, sondern seine Multiplikation erreicht« (36).
Nach Nassehis »systemtheoretische[r] Dekonstruktion der ›Gründewelt‹« präsentiert Irmhild Saake deren »Rekonstruktion als (ethischer) Symmetrisierung« (5). Saake analysiert die »Semantiken symmetrischer Kommunikation«, indem sie herausarbeitet, »mit welchen Bildern von Gleichheit soziologische und ethische Argumentationen arbeiten« (47), die Symmetrie herstellen (46). Insgesamt liest sie Habermas’ Theorie dabei »als ›Produktivkraft‹ eines umfassenden Prozesses der Symmetrisierung« und spricht von einer »Ausweitung von Teilnahme-Möglichkeiten« (63).
Der zweite Teil soll zeigen, wie »moralische Kommunikation in un­terschiedlichen empirischen Feldern […] je nach Kontext ihre Themen, ihre Sprecher und ihre Bezugsprobleme selbst erzeugt« (5):
So untersucht Martin Stempfhuber intimitätssoziologisch die paradoxale Spannung der Liebe, demoralisierend mit Normen zu brechen und remoralisierend Gründe zu schaffen (86 f.). Empirisch gelingt ihm der Aufweis dieser Spannung in erzählten Paargeschichten (87 f.) und Nassehis Praxis- und Gegenwartsverständnis aufgreifend, in besagten Darstellungen eine »situative[n] Praxis der Entparadoxierung« zu finden (90). Darin macht er die »kommunikative Herstellung von Unbestimmtheit als ein charakteristisches Merkmal der spezifischen Gegenwart der Intimität« aus (93).
Dinah Schardt beleuchtet den »politischen Umgang mit Tod und Verwundung« in Militäreinsätzen (97) und geht dabei insofern vom Konzept der »Gesellschaft der Gegenwarten« aus, als sie »das Aufeinanderprallen widersprüchlicher Praxen« (101) – also etwa Ethik- und Militärpraxis – sichtbar machen will. Sie zeichnet anhand »des öffentlichen Diskurses« (104) den Wandel zu einer Krisenethik nach, die den Tod des Soldaten als Problem offenhält, ohne »gute Gründe« dafür festzulegen (104.123). Genau dies fungiere als »(performative) Lösung« der »veränderten Plausibilisierung des Militärs« angesichts gegenwärtiger Einsatzwirklichkeiten (114).
In ihrem Beitrag zur »Wertekommunikation in Wirtschaftsorganisationen« erarbeitet Victoria von Groddeck ausgehend von der »Kontextgebundenheit sozialer Praxen« (137) ihre These, dass Kommunikation abstrakter Werte in Unternehmen (als Routine [138]) die Funktion habe, »mit Unbestimmtheiten umzugehen« (132.152). Kommunikationen abstrakter Werte beinhalteten das Risiko moralischer Anschlusskommunikation und würden Wirtschaftsorganisationen so in Praxen bringen, in denen sich verschiedene Funktionslogiken verknoten (153). Einen anderen »Umgang mit Unbestimmtheit« (165) zeigt Julian Müller in Entstehung von »Mode«, verstanden »als eine spezifische Beobachtungsform«, die immer künftigen Wandel antizipiert (164): Dazu pa­rallelisiert er die Entstehung moderner, ausdifferenzierter Gesellschaft und die »Erfolgsgeschichte Mode« mit der »Krisengeschichte der Moral« (159).
Jasmin Siris Beitrag beschreibt das Zusammenspiel der Logiken von Politik, Medien, Moral (173.189) und Demokratie (191) anhand des politischen Skandals und sieht Skandale (»über den konkreten Einzelfall hinaus […]«) nicht als »Hinweis auf den Verfall der Demokratie«, sondern in ihrer positiven Funktion (179.191 f.), die etwa in der »Aktualisierung und Stabilisierung von Normen« für kleinere Einheiten (192) bestehe.
Die Texte des dritten Teils konzentrieren sich auf den für Medizin- und Bioethik relevanten Praxisbereich und untersuchen die »Entstehung von organisationsinternen Kontexten« ethischer Kommunikation (7). Während Irmhild Saake und Dominik Kunz in ihrem erstmals bereits 2006 veröffentlichten Beitrag von der »relative[n] Bedeutungslosigkeit guter Gründe« (203) in ethischen Fallbesprechungen ausgehend diese stark als »Symmetrisierungsveranstaltungen« (214) begreifen, die sich aus »Angst vor Asymmetrien« gerade guten Gründen zunächst verweigern (219.224 f.), führen Gina Atzeni und Katharina Mayr, Elke Wagner und Mikko J. Virtanen empirisch wie theoretisch vor, wie Ethik-Gremien die auch in Nassehis Konzept der »Gesellschaft der Gegenwarten« angesprochene Perspektivenvielfalt bearbeiten. Zeigt Wagner dabei, wie praktische Ethik qua Unbestimmtheit Anschlussmöglichkeiten generiert, verdeutlicht Florian Süssenguth, wie die akademische Rationierungsdebatte in anderen Praxen nicht anschlussfähig ist (285. 294). Medizinethik müsse die Kontextgebundenheit ethischen Sprechens erkennen (294).
Insgesamt kann der Band als das Produkt der Arbeit des Instituts für Soziologie an der LMU in München (acht der 14 Autoren und Autorinnen sind Mitarbeiter des Instituts) gelesen werden. Zwar ist die systemtheoretische Erforschung von Ethik und Moral nicht neu. Interessant ist der Band aber als kompakte Zusammenstellung von mit dem Konzept der »Gesellschaft der Gegenwarten« verbundenen, empirischen Forschungsergebnissen. So leistet der Band einen Beitrag dazu, Nutzen und Ertrag dieses Konzeptes konkreter und besser diskutierbar zu machen. Dass in den Beiträgen Krisen, Skandale und Unbestimmtheiten immer wieder plausibel als funktional erwiesen werden, ist einerseits im Rahmen der vorausgesetzten Theorie verständlich und hilfreich, hinterlässt andererseits aber den Eindruck einer gewissen Einseitigkeit, die zur Diskussion anregt. Für theologische Ethik und Bildungstheorie sind die Beobachtungen zur Anschlussfähigkeit akademischer Ethik und zum Wandel von guten Gründen zu authentischen Sprechern (34) besonders erhellend.