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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

679–681

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Huber, Wolfgang, Meireis, Torsten, u. Hans-Richard Reuter[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Evangelischen Ethik.

Verlag:

München: C. H. Beck 2015. 736 S. Lw. EUR 34,00. ISBN 978-3-406-66660-5.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Ob das anzuzeigende Werk wirklich ein »Handbuch« ist, kann man sich fragen. Sofern man sich unter diesem Genre ein Nachschlagewerk für den raschen Informations- und Orientierungsbedarf in ethisch-theologischen Fragen vorstellt, ist es das eher nicht. Zu unhandlich, komplex und zeitraubend bei der Lektüre sind die zehn Artikel, von denen der erste, (I) »Grundlagen und Methoden der Ethik«, 110 Seiten, die anderen neun materialethischen jeweils ca. 60–70 Seiten stark sind. Allerdings sorgt der jeweils parallel strukturierte Aufbau für Übersichtlichkeit. Die Darstellungen »orientieren sich an folgenden Gliederungsgesichtspunkten: 1. Definitorische Bestimmung und einleitender Überblick, 2. Problemgeschichte, Theorieansätze und Grundbegriffe, 3. Problemfelder« (8). Abschließend folgt jeweils (4.) ein sinnvoll dimensioniertes Literaturverzeichnis. Auch das differenzierte Begriffsregister am Ende des Bandes erschließt die konzeptbedingt oft verstreut behandelten Sachverhalte bzw. Begriffe gut. Und die Vermittlung rascher, wohlfeiler, womöglich normativ-eindeutiger ›Information‹ kann ja auch nicht die Sache der Ethik in protestantisch-theologischer Perspektive sein; vielmehr ist die Ausbildung von differenziertem Problembewusstsein Kernelement ihres Ethos. Dem wird das Buch sehr gut gerecht.
Fragen kann man sich gleichwohl auch, ob das Werk seinem anderen Selbstanspruch gerecht wird, eine Gesamtdarstellung zu bieten, die »eine Grundlegung evangelischer Ethik mit einer um­fassenden, mehr als exemplarischen Bearbeitung der wichtigsten Bereichsethiken verbindet.« (7) Dies ist seit Martin Honecker und vor allem seit Trutz Rendtorffs Doppelwerk in der Tat im deutschsprachigen Raum nicht mehr versucht worden. »Angesichts der Ausdifferenzierung der Debatte über Grundlagenfragen sowie der wachsenden Komplexität der materialethischen Themen und der damit einhergehenden Spezialisierung ist dies von einzelnen Verfassern auch kaum noch zu leisten.« (7) Darum haben die drei Hera usgeber selbst nur jeweils einen Artikel übernommen und die restlichen sieben an Kolleginnen und Kollegen vergeben. Dabei sollte problembewusst auf »positionelle Vielfalt« (8) gesetzt werden. Übernommen haben W. Huber (II) »Rechtsethik«, R. Anselm (III) »Politische Ethik«, T. Meireis (IV) »Ethik des Sozialen«, T. Jähnichen (V) »Wirtschaftsethik«, P. Bahr (VI) »Ethik der Kultur«, F. Surall (VII) »Ethik der Lebensformen«, P. Dabrock (VIII) «Bioethik des Menschen«, U. H. J. Körtner (IX) »Bioethik nichtmenschlicher Lebensformen« und E. Gräb-Schmidt (X) »Umweltethik«.
Aus diesem Verfahren resultiert jedoch wiederum die sich im Aufbau der materialen Kapitel spiegelnde Eigenheit, dass jedes von diesen in seinem zweiten Abschnitt erneut grundlagentheoretische Reflexionen unter Bezugnahme auf die jeweilige material-ethische Fragestellung anstellt. Auf das konzise und hochinformative, von Hans-Richard Reuter stammende Grundlagenkapitel des Gesamtbandes wird dabei ebensowenig Bezug genommen wie in den materialethischen Teilen auf andere, angrenzende Felder der Bereichsethik. Darum sind neben den gewollten programmatischen Differenzen auch gewisse Wiederholungen, Überschneidungen, etwa im Fall der beiden Schlusskapitel, unvermeidlich. Insofern also ersetzt dieses Gemeinschaftswerk einen kohärenten (individuellen) Gesamtentwurf theologischer Ethik nicht. Aber das will es ja auch nicht. Bemängeln könnte man höchstens, dass auf diese Weise nicht sehr viel mehr als eine ›Buchbindersynthese‹ bzw. eher zufällige Kohärenzeffekte erreicht werden konnten. In seinem eigenen Sinne steigerungsfähig wäre das Projekt vermutlich gewesen, wenn es aus einem mehrjährigen dichten kommunikativen Prozess der Beteiligten hervorgehen hätte können, einem temporär-punktuellen Wissenschaftskolleg, für das im evangelischen Bereich ja etwa die Heidelberger FEST den Rahmen bilden kann.
Außer Frage steht jedoch, dass die zehn Autorinnen und Autoren für die betreffenden Themenfelder einschlägig ausgewiesen sind. Als Gewinn ist durchaus auch anzusehen, dass das Projekt zumindest für acht der zehn Autoren Gelegenheit bot, ihre Sichtweise auf den entsprechenden Bereich einmal konzise in Lehrbuchform darzulegen. Nur Wolfgang Huber und Traugott Jähnichen hatten ja früher bereits Monographien zu ihrem jeweiligen Thema vorgelegt. Damit stellt diese »Publikation […] für die deutschsprachige evangelische Ethik« in der Tat ein begrüßenswertes »Novum dar« (7); sie präsentiert eine Art Leistungsschau aktueller evangelisch-theologischer Ethik – einen state of the art.
Was lehrt das Buch über diesen? Zunächst Diskursgeschichtliches: Die Zeiten der scharfen, polemisch bespielten Schulgrenzen sind in der akademisch-theologischen Ethik deutscher Zunge offensichtlich vorbei. Die »Huberschule«, die den Herausgeberkreis ausmacht, hat die alten Fehden mit den ›(Neo-)Liberalen‹ lange hinter sich gelassen (et vice versa): Mit Reiner Anselm und Petra Bahr ist diese Seite bestens vertreten. Ulrich H. J. Körtner, Peter Dabrock, Frank Surall und Elisabeth Gräb-Schmidt sind ohnehin keiner der beiden alten Parteien direkt zuzurechnen, und sie sind auch untereinander zumindest herkunftsmäßig reichlich verschieden. Gewiss sind in­tellektuelle Herkunftsdifferenzen nicht einfach verschwunden; er­kennbar werden sie etwa an unterschiedlichen Präferenzen und Prominenzen bei der Heranziehung von moderner Theoriegeschichte. Dass diese bei Reiner Anselm quantitativ und qualitativ am intensivsten ausfällt, überrascht nicht, ist bei seinem Thema »Politische Ethik« allerdings auch unvermeidlich. »Theorieansätze« werden hier programmatisch als »Problemgeschichte« entfaltet. Das umgekehrte Verhältnis herrscht etwa bei Torsten Meireis vor, in dessen Darstellung der »Ethik des Sozialen« auf eine Nachzeichnung der mo­dernen neuzeitlich-protestantischen »Problemgeschichte« des »So­zialen« ganz zugunsten von einigen Hinweisen auf philosophische Kronzeugen von »normative(n) Prinzipien« wie »Freiheit«, »Gleichheit«, »Solidarität« verzichtet wird.
Ungeachtet solcher erkennbaren Differenzen und jener wenig interaktiven Entstehungsweise des Bandes ist in ihm nun jedoch eine gewisse Homogenitätstendenz ebenso unübersehbar wie wenig überraschend. Gesellschaftlicher Pluralismus, parlamentarische Demokratie, soziale Gerechtigkeit und als deren normative Grundlage eine – mehr oder weniger emphatisch vorgetragene – Hochschätzung des Individuums und seiner Lebensentwürfe sind die gemeinsamen fundamentalen ›Werte‹ dieses Handbuchs. Be­zugnahmen auf biblische Tradition werden in unterschiedlichem Maß offeriert; den sich damit verbindenden begründungstheore-tischen Fragen wird allerdings nur in beschränktem Maß nachgegangen. Die mit Abstand meistzitierte Bibelstelle ist – wen wundert’s – Gen 1,26–28 bzw. Gen. 2,15. Darin spiegelt sich die ge­mein same kanonische Grundüberzeugung der zehn Autoren, dass »Menschenwürde« (des Individuums) und damit intrinsisch verbunden »Herrschaftsauftrag« alias modern »Verantwortung« das normative Fundament der Ethik in protestantisch-theologischer Perspektive bilden. Davon dirigiert herrscht allenthalben ein gü­ter- bzw. wertethisch und/oder gerechtigkeitstheoretisch erweiterter Kantianismus, der vor allem negativ positionelle Konturen bekommt durch die Abwehr utilitaristischer, kasuistischer und risikoethischer Traditionen.
Vielleicht nicht immer wird dem derzeitigen, Begründungsproblembewusstsein verdrängenden Plausibilitätssog jener Containerbegriffe genügend reflexive Widerstandskraft entgegengesetzt. Bei P. Dabrock, dessen Beitrag neben dem von R. Anselm und H.-R. Reuter gleichwohl aus Sicht des Rezensenten zu den Spitzenleistungen des Bandes zählt, wird Menschenwürde sogar zur »Sakralisierung der Person« (528 u. ö., mit Joas) geadelt (kritisch dazu jedoch Reuter, 157 – solche Debatten hätte man sich eben mehr gewünscht!). Bei R. Anselm nimmt die Nachzeichnung der neuzeitlichen Problemgeschichte des Politischen (er möge verzeihen!) Züge einer (viel zu) langsamen, heilsgeschichtlichen Heimkehr der evangelischen Theologie ins gelobte Land der liberalen Demokratie an, über die hinaus Größeres offenbar politisch, aber auch theologisch nicht mehr ge­dacht werden kann – und soll. So bündig, dezidiert und normativ wie hier hat man Anselm bisher noch nicht gelesen.
Bei aller gebotenen Zustimmung zu dieser moralischen Emphase ist doch auch eine gewisse Gefahr der neuen protestantisch-theologischen Homogenitätstendenz, die sich in diesem Band manifestiert, nicht ganz zu übersehen: Ihre eigentliche Grundlage ist die – nicht umsonst an den Beginn gestellte – Rechtsethik, mit der sie auch in den anderen Bereichsethiken (zumindest, aber keineswegs nur als politische Ethik) über weite Strecken konvergiert. Das partiell Widerständige der eigenen intellektuellen Tradition, aber auch anderer Traditionen und moralischer Milieus als des hier repräsentierten, gegen einen solchen, auf seine Weise auch wieder recht begrenzten Pluralismus wäre noch weiterer konstruktiver Auslotungen wert. Aber das soll die Leistung des hier Zusammengebundenen nicht schmälern: Es bietet in der Tat und auf eindrucksvolle Weise einen »state of the art« heutiger deutschsprachiger protestantisch-theologischer Ethik – in zehn Kapiteln. Diese korrespondieren natürlich, zumindest numerisch-formell, ihrer biblischen Vorlage. Reizvoll, das sei noch angefügt, wäre es gewesen, der Frage nachzugehen, wie es dabei um die systematische Korrespondenz dieser modernen deliberativen Dekalogsequenz mit jener in der Bibel bestellt ist.