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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

677–679

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Flashar, Hellmut

Titel/Untertitel:

Hippokrates. Meister der Heilkunst. Leben und Werk.

Verlag:

München: Verlag C. H. Beck 2016. 297 S. m. 10 Abb. Geb. EUR 26,95. ISBN 978-3-406-69746-3.

Rezensent:

Reiner Marquard

Hellmut Flashar hatte 1965 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Grä-zistik an die neugegründete Ruhr-Universität Bochum angenommen und war 1982 an die Ludwig-Maximilians Universität München gewechselt, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Von 1990 bis 1993 wirkte er am Wiederaufbau des Leipziger Instituts für Klassische Philologie mit. Seit 1967 ist er der Herausgeber der Werke des Aristoteles in deutscher Übersetzung.
Das Buch ist gegliedert in fünf Kapitel. I. Die Anfänge (Ägyptische Medizin, Homer und die Zeit nach Homer); II. Hippokrates und sein Werk (Leben, Bildnis und Werk); III. Werke und Themen (Eid, heilige Krankheit, Umwelt, Diagnose und Prognose, Epidemien, Säfte und Krankheiten, Grundlagen der Medizin in der Diskussion, Diätetik, Gynäkologie, Innere Krankheiten, Chirurgie und Orthopädie, Fieber und Tod, Praxis und Standesethik); IV. Asklepios und die Asklepiosmedizin; V. Stationen der Rezeption. Der Anhang enthält einen Überblick über die Titel der Schriften des Corpus Hippocraticum; auf die Anmerkungen folgen umfangreiche Literaturhinweise; Personen- und Ortsregister schließen das Buch ab.
Hippokrates (ca. 460 – ca. 380 v. Chr.) ist der erste Arzt, der systematisch über seine Heilkunst geschrieben hat. Er war laut Aristoteles »groß an Bedeutung« (26). Hippokrates stammt aus Kos und nennt sich »Asklepiade«, zu dem man in die Lehre gehen kann. Die Ausbildung erfordert im wahrsten Sinne Lehrgeld. Die Spuren seiner Reisen führen nach Nordgriechenland. Sollte das erste Buch der Epidemien von seiner Hand stammen, muss er drei Jahre auf der Insel Thasos gelebt haben. Andere nordgriechische Orte (z. B. Abdera) werden genannt. In Larissa ist er über 80-jährig verstorben.
Unter dem Namen Hippokrates sind ca. 60 Schriften überliefert, von denen nur »ein kleiner Teil dieses Corpus Hippocraticum von Hippokrates selbst stammen kann« (32). Eigentlich ist mit wirklicher Gewissheit keine Schrift mit letzter Sicherheit Hippokrates zu­zuschreiben, »und doch (ist) anzunehmen, dass die älteste Schicht des Corpus auf Hippokrates selbst zurückgeht« (34 f.). Mehrheitlich wurden die Schriften von seinen Schülern und Nachfolgern verfasst.
Was zeichnet Hippokrates aus? F. nennt vier Gründe, die ihn bedeutsam erscheinen lassen: Hippokrates a) trennt seine medizinischen Handlungen streng von jedweder semiprofessionellen Tempelmedizin und löst damit die Medizin aus dem Einfluss der Magie, b) er integriert in seine ärztliche Kunst Fragestellungen der Philosophie und überführt damit medizinisches Handeln in die Wissenschaft. Hippokrates c) schaut den Menschen nicht nur diagnostisch, sondern auch prognostisch an (er erweitert das Interesse von der Krankheit zum Menschen, zum Kranken als Person) und schließlich d) – dafür spricht das Corpus als solches – dokumentiert und veröffentlicht er medizinische Theorie und Empirie.
F. arbeitet an Hippokrates geradezu im Vorgriff auf Aristoteles eine Haltung heraus, die seiner Heilkunst erst diese Bedeutsamkeit verleiht. Man kann geradezu bei ihm bereits jene von Aristoteles bemühte »Mitte« erkennen, von der her sich für Medizin und deren Ethik Gestaltungsräume erschließen. Die vier Grundelemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft), die vier Grundqualitäten (warm, feucht, trocken, kalt), die vier Grundsäfte (Blut, Schleim, helle Galle, schwarze Galle) korrespondieren mit den vier Jahreszeiten dergestalt, dass die Kunst z. B. darin besteht, »die vollständige und im richtigen Verhältnis stehende Mischung dieser Säfte« (95) für die Gesundheit zu befördern, während die Prävalenz oder das Ausströmen eines dieser Säfte Anzeichen von Krankheit ist. Die Humoralpathologie ist Medizingeschichte (der Aderlass wurde bis ins 19. Jh. praktiziert) wie auch die Fixierung auf die Zahl 4 als Hinweis auf die mitunter in kritischen Situationen allopathisch wirkenden Wechselwirkun gen – im Kern ging es analog zu den Säften um eine Isonomie (Gleichberechtigung) der Kräfte, eine »Gleichverteiltheit« (18), die sich gegen eine Monarchie nur einer Kraft stellt.
Der Hippokratische Eid gilt nach wie vor als ein Maßstab der abendländischen Medizinethik. Der Eid wurde am Ende der Ausbildung und zu Beginn der ärztlichen Tätigkeit geleistet (die Grenzen waren fließend) und verpflichtet alle, die in der Heilkunst tätig sind, das Wohl des Patienten zu achten und ihm nicht durch falsche Indikation zu schaden. Der Eid entfaltet einen »Sittenkodex« (41). Der Arzt wirkt zum »Nutzen der Patienten«. Mit der Verordnung »diätetischer Maßnahmen« ist nicht nur der geeignete Speiseplan gemeint, sondern eine umfassende Physiotherapie, das Baden sowie die Heilgymnastik. Der Eid richtete sich in seinem Ethos auf den Menschen an sich. Geschlechts- und Standesunterschiede durften keine Bedeutsamkeit in der Qualität der ärztlichen Indikation haben. Erstmals in der Geschichte der Medizin wird das Schweigeverbot formuliert. F. vermutet, dass der Eid »speziell für Quereinsteiger, die nicht Mitglied einer Ärztesippe sind« (44) ge-leistet wurde. Offen gelassen werden muss, ob Hippokrates selbst Verfasser dieses Eides ist und vor wem er letztendlich geschworen wurde oder ob es sich um die Formulierung eines Ideals handelt. »Dass er […] wirklich als Schwur fungierte, legt [ein, R. M.] 1966 publizierter Papyrus […] nahe, weil er im Kontext von Gebrauchstexten auf der Müllhalde von Oxrhynchos gelandet ist« (45).
Seine scheinbar zeitlose Gültigkeit beruht auf seinem schon zu Lebzeiten des Hippokrates erworbenen Ruf. »Ich werde niemandem ein tödliches Mittel verabreichen, auch auf Verlangen nicht und werde auch nicht einen entsprechenden Rat dazu erteilen. Ebenso werde ich keiner Frau ein abtreibendes Zäpfchen geben« (36). Dass in den heutigen Debatten der medizinethischen Herausforderungen gerne auf Hippokrates verwiesen wird, um etwas Bestimmtes abzuwehren, hat die Rezeption des Hippokratischen Eides fade werden lassen, da man bereits im Vorhinein ahnte, für was er als Zitat bemüht wurde. Der Eid löst aber im lediglich ab­wehrenden Gebrauch nicht unsere medizinethischen Herausforderungen am Lebensbeginn, in der Frage nach dem guten Leben oder am Lebensende. Er kann aber – das ist das Verdienst dieses Buches – als ein Text gelesen werden, der in all den modernen Verwerfungen nichts weniger als eine Haltung erfordert, die aus der Zuwendung zum Bedürftigen eine Indikation entwickelt. F. erinnert auch an die Rezeption des Eides unter dem Nationalsozialismus. Der Verweis auf den Freiburger Pathologen Franz Büchner, der am 11.11.1941 im Kuppelsaal des Kollegiengebäudes I der Universität vor fast 1000 Zuhörenden über den Eid und die Tötung unheilbar Erkrankter sprach (250 ff.), bedarf genauerer historischer Erforschungen. Büchner war führender Pathologe am Institut für Luftfahrtmedizin beim Reichsluftfahrtministerium und zumindest informiert über Versuche zu langandauernder Unterkühlung. In den Nürnberger Ärzteprozessen wurde bei Vernehmungen ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Eid nur für den Therapeuten, nicht für Experimentatoren gelte. Die Geschichte des Hippokratischen Eides reicht bis in unsere Gegenwart. Das Genfer Ärztegelöbnis von 1948 oder z. B. die Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind ohne den Eid des Hippokrates nicht zu verstehen. F. bringt in seiner eindrucksvollen Darstellung des Hippokrates in allen Facetten seiner ärztlichen Heilkunst den einen Gedanken zum Leuchten, dass das Wohl und Wehe des leidenden Menschen die alleinige Richtschnur ärztlichen Handelns ist. In diesem Sinne ist das Buch von F. ein außerordentlich modernes Buch. So wenig der Patient ein Kunde ist, so wenig ist der Arzt ein Dienstleister. Es geht um gegenseitiges Vertrauen. Beide sind ge­fragt: »Das Leben ist kurz, die Kunst aber ist lang, die Gelegenheit geht schnell vorbei, die Erfahrung ist unsicher, die Entscheidung schwierig. Der Arzt muss nicht nur selber bereit sein, das Erforderliche zu tun, sondern auch der Kranke, die Menschen um ihn und die äußeren Umstände« (188: I.1, IV, 458L).