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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

674–677

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stuckrad, Kocku von

Titel/Untertitel:

The Scientification of Religion. An His-torical Study of Discursive Change, 1800–2000.

Verlag:

Berlin u. a.: Walter de Gruyter 2014. XIV, 225 S. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-1-61451-626-2.

Rezensent:

Christian Polke

Dass Großparadigmen und Metanarrative, wie Säkularisierung, Mo­dernisierung und Individualisierung, in den historisch fundierten Sozialwissenschaften gegenwärtig keine Konjunktur hätten, dies zu behaupten, dürfte übertrieben sein. Gleichwohl haben differenzierte Analysen und Forschungsleistungen die Grenzen solcher Deutungsrahmen mehr als deutlich aufgezeigt. Insofern gehört es zu den Charakteristika gegenwärtiger Religionsforschung, die überkommenen Dichotomien von »religiös« und »sä­kular«, von »modern« und »postmodern« etc. einer kritischen Be­wertung hinsichtlich ihrer Leistung für die Heuristik und Analyse der zu untersuchenden Gegenstände, Phänomene und Prozesse zuzuführen. Das kann auch dadurch geschehen, dass – wie in den Kulturwissenschaften derzeit en vogue – die Funktion dichotomischer Klassifikationen und Differenzierungsmuster zugunsten eines Denkens im »third space« (vgl. 19 ff.) oder auch von Hybridbegrifflichkeiten aufgegeben wird. Und schließlich erfahren in Zeiten kollektiver Unsicherheit über Forschungsgegenstand und die ihm angemessenen -methoden vor allem diejenigen Ansätze Auftrieb, die sich ohnehin schon immer von allzu »realistischen« Zu­griffen auf die Wirklichkeit ferngehalten haben; ganz gleich, ob damit vornehmlich die Kritik an historischen oder epistemischen Repräsentationalismen gemeint ist oder doch eher der Verdacht, die Unterstellung bekundet wird, neuzeitliche Wissenschaft lebe immer noch zu sehr von der Vermutung der Tragfähigkeit essentialistischer Konzeptionen.
Wem das (einigermaßen) einleuchtet, der wird sich dem Versuch Kocku von Stuckrads öffnen können, das konfliktuöse Verhältnis von Religion und Wissenschaft – im Sinne von hard science, wie sie sich im 19. Jh. gebildet haben, einer historischen Diskurs-analyse zu unterziehen. Dabei stehen in diesem Buch nicht primär die Kulturkämpfe selbst im Mittelpunkt, die zwischen den Protagonisten religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauungen ausgetragen wurden und die bis heute nicht nur in westlichen Ge­sellschaften immer wieder von Neuem auftreten; weswegen man sozialgeschichtliche Struktur- und Machtbeschreibungen in diesem Buch weitgehend vermisst. Nein, den Vf. interessiert zunächst mehr, was das genuin (diskursiv) Neue in diesem Zeitraum ist, das überhaupt dazu führen kann, dass wir vom Konflikt zwischen Religion und Science reden können. Dies setzt ebenjenen methodologischen Einsatzpunkt voraus, den der Vf. mit Foucault, der modernen Wissenssoziologie und wichtigen Vertretern gegenwärtiger Religionsforschung als Wissensproduktion im Sinne der Diskurs-analyse bezeichnet. Dabei versteht er unter »Diskursen« die in spezifischen Gemeinschaften (»communities«) produzierten, in Gang gebrachten und gehaltenen »kommunikativen Strukturen«, die Wissen überhaupt ermöglichen und die jene Bedeutungsnetze produzieren, die wir dann kulturwissenschaftlich untersuchen können. Dabei liegt das Hauptaugenmerk des Vf.s wie gesagt weniger auf den dabei immer mit in Anschlag zu bringenden Machtdispositivs im Sinne Foucaults, sondern stärker auf der historischen Genese dieser kommunikativen Strukturen und Diskurse. Es geht um Genealogie in nicht-nietzscheanischer Gestalt, eben offen und nicht rein destruktiv. In seinen eigenen Worten: »›Historical discourse analysis‹ explores the development of discourses in chang­ing sociopolitical and historical settings, thus providing means to reconstruct the genealogy of a discourse.« (11; kursiv im Original)
Vor diesem Hintergrund rechtfertigen sich die Kriterien für die Auswahl des Quellenmaterials für die Einzelstudien dieses Bandes: Es sind vornehmlich literarische Quellen, Bücher, Zeitungsartikel etc., die aus der Feder sowohl von Intellektuellen und Akademikern als auch von Laien und Non-Eliten stammen. Sie sind es, die wissenssoziologisch definieren, was in solchen Diskursgemeinschaften als »Religion« bzw. als »Wissenschaft« (»Science«) gelten kann: »RELIGION is the societal organization of knowledge about religion. In the same vain, SCIENCE would be defined as the societal organization of knowledge about science.« (14; Hervorhebungen alle im Original)
Damit entledigt sich dieser Ansatz elegant allen Fragen, was eigentlich dem jeweiligen Wissen über das, was in diesem Wissen zur Sprache kommt, zugrunde liegen könnte. Noch am Ende seines Buches betont der Vf., dass ihm jede Frage nach der wahren Analyse oder nach der historisch angemessenen Darstellung suspekt ist (vgl. 181), um sodann zu konzedieren, dass sein eigener Ansatz nicht willkürlich verfährt (vgl. 182) und ebenfalls keinen Ausschließlichkeitsanspruch für sich reklamiert (vgl. ebd.). Man muss dies nicht gutheißen und kann dennoch die Leistungsfähigkeit einer solchen Einklammerung und Beschränkung im methodischen Zugriff anerkennen. Denn das, was den größten Teil dieses Buches ausmacht, sind Analysen jener Diskurse, die den Weg dafür bereiten, was der Vf. im Titel seines Buches als »Scientification of Religion« benennt. Es geht weniger um eine reine Verwissenschaftlichung des Redens über die Religion, könnte man doch im gleichen Maße, dem Vf. zufolge, auch von der »religionization of science« (180) reden. Vielmehr zielt diese Formulierung auf die »discursive organization of knowledge about religion in secular environment« (ebd.). Nur vor dem Hintergrund der Mächtigkeit dieser diskursiven Strukturen – oder Dispositive, wenn man so will – lassen sich Schärfe und Relevanz der Debatten um Religion und Wissenschaft, zwischen religiösen, anti-religiösen und säkularen Stimmen verstehen. Nur auf diese Weise bekommt auch der Terminus einer »säkularen Umgebung« eine spezifische Kontur. Und umgekehrt werden erst so Phänomene klarer fassbar, die andernfalls wie Betriebsunfälle in der Teleologie moderner Fortschrittskultur wirken müssten: Theosophie und Okkultismus, Astrologie, verstanden nicht nur als Privatbeschäftigung, sondern als »Wissenschaftspraxis«, Darwinismus und Monismus als wissenschaftliche Weltanschauungen mit Anspruch auf Existenzdeutung (vgl. »Part One: Discarded Knowledge and its New Legitimacy in Secular Dis-course«, 23–112). Mit diesen Bewegungen sind wissenschaftliche Karrieren verbunden (gewesen), wie die von Ernst Haeckel, C. G. Jung, von Rudolf Steiner, Ilya Prigogine und anderen.
Aber nicht nur diesen modernen »Zwitter«- bzw. Hybridgestalten zwischen oder auch von Religion und Wissenschaft gilt das genuine Interesse des Vf.s, spiegeln doch solche Diskurse sich auch auf der Ebene wissenschaftlicher Religionsforschung wider (vgl. »Part Two: Academics as Religious Pioneers«, 113–177). Sei es, dass es um die Aufmerksamkeit für Phänomene, wie Mystik oder Schamanismus, geht, sei es, dass Debatten um Paganismus, Bachofens Ma­triarchat oder den Orientalismus die wissenschaftlichen Gemüter erhitzten. Hierzu analysiert der Vf. die Pionierarbeit von Denkern wie van der Leeuw, Buber, Otto oder auch Mircea Eliade, deren Anspruch und Wirkung selbst zwar nicht demjenigen von Religionsstiftern gleichkommt, die man aber gleichwohl – nimmt man die im Buch vertretene Methodologie ernst – als Religionsproduzenten deuten kann; jedenfalls treten sie so mitunter in der historischen Rekonstruktion auf.
Mit alledem gelingt es dem Vf., einen ebenso interessanten wie aufschlussreichen Einblick in jene Formierungsphase heutiger Religionskontroversen und Säkularisierungsdebatten zu geben, der zudem verdeutlicht, inwiefern wir Erben eines spezifischen diskursiven Wandels über das, was »Religion« sein und worin sie sich als widerständig oder gleichermaßen attraktiv und anziehend erweisen könnte, sind. An dieser Stelle ist nicht der Raum, auf einzelne Analysen kritisch einzugehen. Die Reichweite dieses Buches, auch in konzeptioneller Hinsicht, hängt ohnehin davon ab, wel chen Stellenwert man nicht nur (intellektuellen) Diskursen mit Blick auf den zu untersuchenden Sachverhalt – Religion – einräumt, sondern ob man überhaupt jenseits der Kommunikation darüber bereit ist einzugestehen, dass man es dabei mit einem nicht ausschließlich konstruierbaren ›Phänomen‹ zu tun be­kommt. Wer schon daran Zweifel hat und in diesem harten Sinne darauf beharrt, dass abseits der Diskursformationen »Religion« ein »empty signifier« (13) darstellt, der muss sich immerhin der Frage aussetzen, was eigentlich uns Menschen – als Wissenschaftler, Glaubende, Zweifelnde und Skeptiker – dazu veranlasst, sich auf solche kommunikativen Praktiken einzulassen und dergestalt Wissen zu produzieren. Es wäre spannend zu erfahren, wie die Antwort des Vf.s hierauf lauten würde.