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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

672–674

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schaede, Stephan, u. Thorsten Moos [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Gewissen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XXV, 579 S. = Religion und Aufklärung, 24. Kart. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-153681-6.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Die in diesem voluminösen Buch versammelten Beiträge sind aus einem Forschungsprojekt an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg hervorgegangen, das durch die von den Neurowissenschaften angestoßene Debatte um Freiheit und Determination veranlasst wurde. In regelmäßigen Konsultationen trafen Wissenschaftler aus Theologie, Recht, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Soziobiologie, Neuro- und Po­litikwissenschaften zusammen, um fachspezifische Perspektiven zum Begriff und Phänomen des Gewissens miteinander zu konfrontieren und aufeinander zu beziehen.
Voran steht eine informative Einleitung der Herausgeber. Die 20 Beiträge sind auf sieben unterschiedlich umfangreiche Sektionen verteilt, die die fachlichen Perspektiven widerspiegeln. Die Philosophie vertritt der Würzburger Emeritus Werner Flach, der in seinem mit »Gewissen« überschriebenen Beitrag dessen Funktion darin sieht, das Wollen, das sich das Subjekt selbst zuschreibt, auf seine Geltung hin zu reflektieren. Drei Beiträge beleuchten das Gewissen in der Perspektive des Rechts. Fridtjof Filmer, der aufgrund einer Dissertation zum Thema »Gewissen und Recht« promoviert wurde, analysiert »Das Gewissen als Argument im Recht«. Der Münchener Strafrechtler Ralf Kölbel fragt: »Gewissensbildung durch Strafrecht?«. Vier sehr unterschiedliche Begegnungsfelder zwischen staatlicher Aktivität und individueller Gewissensbildung spannt der Heidelberger Emeritus Eberhard Schmidt-Aßmann auf, auf denen er »Verfassungsfragen staatlicher Gewissensbildung« erörtert und – wie es im Untertitel heißt – »Zur Verantwortung des Staates für eine freiheitliche Ausbildung des kollektiven und des individuellen Gewissens« Stellung bezieht.
Sechs Beiträge sind in der umfangreichsten Sektion Theologie versammelt. Der promovierte Pfarrer Michael Lichtenstein eröffnet diese Sektion mit »Die Menschenkenntnis Gottes als Prüfung. Überlegungen zum Gewissen im Alten Testament ausgehend von Psalm 139«. Einen »Überblick über Gewissenstypen in Positionen reformatorischer und evangelischer Theologie« gibt Akademiedirektor Stephan Schaede. Der Schwerpunkt dieser Präsentation von »Gewissensproduktionstheorien« liegt im 19. Jh. Es werden die Entwürfe von Friedrich Schleiermacher, Richard Rothe, Alois Biedermann, Isaak August Dorner und Karl Holl, der »als Kind des 19. Jahrhunderts aufgerufen« (171) wird, vorgestellt. Studienleiter Thorsten Moos analysiert in seiner Interpretation der Gewissenskonzeption Martin Luthers die ethisch-religiöse Schnittstellenfunktion des Gewissens. Die Stationen und das Ziel der Reflexionsbewegung im Gewissen werden im Titel des Beitrages kenntlich: »Sünde, Tod, Teufel und Gesetz. Zur theologischen Bestimmung von Gewissensfreiheit«. Hendrik Stössel, theologischer Referent an der Melanchthon-Akademie in Bretten, thematisiert in seinem Aufsatz »Zwischen Freiheit und Bindung« eine wichtige Schnittstelle zwischen der protestantischen Berufung auf das Gewissen einerseits und der Bindung an die Verpflichtungen und die Gestaltungsaufgaben an­dererseits, die mit dem ordinierten Amt der Kirche verbunden ist. Seine breit angelegten Überlegungen zum dogmatischen Ort des Gewissens präsentiert der Berliner Systematische Theologe Notger Slenczka in seiner sehr gehaltvollen Studie »Gewissen und Gott. Überlegungen zur Phänomenologie der Gewissenserfahrung und ihrer Darstellung in der Rede vom Jüngsten Gericht«. Einen anderen theologischen Akzent setzt der Heidelberger Systematiker Phi-lipp Stoellger unter dem Titel »Was dazwischenredet – das mehrstimmige Gewissen. Gewissen als fremde Stimme im eigenen Na­men«. Hier wird mit großem Aufwand an philosophischer Re-Lektüre die schlichte theologische Einsicht reproduziert, nach der »das Gewissen […] nicht das letzte Wort über die Zukunft des Menschen« ist. »Daher wird zwischen den vielen Stimmen der Ansprüche […] hoffentlich auch eine Stimme der promissio sein, der quer dazu stehenden Befreiung von der Logik des Anspruchs« (310).
Die Literaturwissenschaften sind mit zwei Beiträgen vertreten. Der promovierte Germanist Franz Fromholzer untersucht »Das Ge­wissen als Instanz der Identität in den Dramen des 16. und 17. Jahrhunderts« unter der Überschrift »Biograph oder Richter?«. Die Genese einer kritischen Öffentlichkeit um 1800 ist Thema des Beitrages des emeritierten Literaturwissenschaftlers Klaus Manger aus Jena: »Der Autor – kritische Instanz und öffentliches Gewissen«.
Der auf interdisziplinäre Anthropologie spezialisierte Philosoph Matthias Herrgen aus Münster vertritt mit seinem Aufsatz »Gewissen aus soziobiologischer Perspektive« in diesem Band die Sektion Evolutionsbiologie. Mehr Beiträge umfasst die Sektion Sozialwissenschaften und Psychologie. Der emeritierte Soziologe Andreas Feige schreibt über »Soziale Geltungsorte des Gewissensbegriffs. Ein sozialwissenschaftlich-empirischer Beitrag zur Phänomenerkundung«. Eine theologisch-psychologische Koproduktion ist die Studie »Zur Sozialpsychologie des Gewissens. Persönliche und situationale Werte determinieren ethische Begründungsmuster« von Carsten Gennerich und Micha Strack. Claudia Schweizer und Denis Köhler beleuchten »Das Gewissen aus psychologischer Perspektive«. Der Berliner Theologe Christopher Zarnow analysiert das Verhältnis von »Institution und Gewissen«.
Drei Beiträge sind in der Sektion Politologie versammelt. Der promovierte Historiker Nikolaus Buschmann schreibt über »Die Unterwerfung des Gewissens und die Autonomie des Subjekts. Historische Annäherungen an ein Grundproblem der politischen Ethik«. Der in Berlin arbeitende Politikwissenschaftler Stefan En­gert thematisiert »Das kollektive Gewissen«, fragt, »Warum Staaten sich (nicht) entschuldigen«, und analysiert aktuelle Beispiele. Einem wichtigen Kapitel aus der Vergangenheit wendet sich die promovierte Kulturwissenschaftlerin Jenny Tillmanns aus Bern zu: »Das Gewissen und die Frage nach historischer Verantwortung für den Holocaust. Zum Umgang mit empfundener Schuld«.
Alle Beiträge sind lehrreich zu lesen und präsentieren insgesamt eine Fülle von Aspekten, die die historische und aktuelle Bedeutung des Gewissensbegriffs verdeutlicht. Daher wird die thematische Weiterarbeit am Verständnis des Gewissens an diesem Buch nicht vorübergehen können. Kritisch ist zu bemerken, dass die Auswahl der Beiträge, ihre Anzahl und ihre sektionale Zuordnung den Eindruck des Zufälligen nicht ganz zu vermeiden vermögen. Angesichts der Fülle des in diesem Buch präsentierten Materials bleibt die in der Einleitung vorlegte Zusammenfassung etwas unterkomplex. Der theologische Leser wünscht sich, dass ein Autor oder eine Autorin abschließend den Mut zu einer Synthese gehabt hätte, die nicht nur den ursprünglichen Anlass des Buches noch einmal aufgreift, sondern auch das in diesem Buch erneut aufbereitete klassisch-theologische Verständnis des Gewissens mit der in einigen Beiträgen aufgeworfenen und bedrängenden Frage nach dem kollektiven Umgang mit historischer Schuld vermittelt.