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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

671–672

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Machoń, Henryk

Titel/Untertitel:

Das Christentum bei C. G. Jung. Philosophische Grundlagen, psychologische Prämissen und Konsequenzen für die therapeutische Praxis.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 263 S. Kart. EUR 34,99. ISBN 978-3-17-029258-1.

Rezensent:

Isabelle Noth

Dass der Schweizer Pfarrerssohn Carl Gustav Jung (1875–1961) ein sehr komplexes Verhältnis zum Christentum hatte, ist allgemein bekannt. Dieser Umstand allein genügt als Rechtfertigung, sich dem Thema in einer eigenen Monographie zuzuwenden und es interdisziplinär auszuloten. Zehn Jahre nach Veröffentlichung seiner Dissertation über »Religiöse Erfahrung«, in der Jung und seine »Psychologie des religiösen Erlebens« einen eigenen Hauptteil bildeten, legt Henryk Macho ń nun eine Habilitationsschrift vor, die sich ausschließlich Jung und seinem vielschichtigen Verständnis des Chris­tentums widmet. Dabei wählt M. einen primär historischen Zu­griff und setzt sich zum Ziel, die lebenslängliche Auseinandersetzung Jungs mit dem Christentum chronologisch bzw. genetisch nachzuzeichnen.
So setzt er mit einem biographischen Kapitel ein, das er zugleich als Einführung in Jungs wissenschaftliche Theoriebildung versteht. Er konzentriert sich primär auf die Kindheit und Jugendzeit Jungs und legt einen Akzent auf dessen Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, die ihm »unheimlich« gewesen sei (25). Der allererste Besuch einer barocken Kirche müsse für den »kleinen Zwinglianer« – M. zufolge – »ein Schock« gewesen sein (25). Aus me­thodischer Sicht ist an dieses erste in historistischer Tradition stehende Kapitel die Frage nach den Voraussetzungen eines historisch reflektierten Umgangs mit den zur Verfügung stehenden Quellen, der primär verwendeten Sekundärliteratur und persönlichen Interpretationen zu stellen. In einem zweiten Kapitel wendet sich M. dem kollektiven Unbewussten und der Archetypenlehre zu. Er setzt mit den Zofingiavorträgen ein, die Jung zwischen 1896 und 1899 in Basel hielt, bevor er dann darauf aufbauend anhand seiner Schriften den Nachweis von Jungs kontinuierlicher Beschäftigung mit dem Christentum er­bringt.
Im letzten Kapitel befasst sich M. schließlich mit Jungs Auffassung von der Wirkung des Christentums als Heilssystem und der Re­ligion als Therapeutikum. Mit großem Interesse verfolgt man, wie ein ausgewiesener Jungkenner römisch-katholischer Provenienz dessen Zugang zum Christentum »verstehend, sympathisierend, aber auch kritisch darzustellen« (15) versucht. Vieles lässt sich kritisieren, darunter die zum Teil von vergleichsweise wenig Verständnis und Sympathie zeugenden Aussagen über Freud; vieles lässt sich positiv hervorheben, insbesondere das Bemühen, Jung ernsthaft gerecht zu werden und keine generalisierenden Urteile über ihn abzugeben. Dieses Bemühen führt zu interessanten Erkenntnissen wie z. B. der folgenden: »Die Verbindung der Dogmen mit den religiösen Erfahrungen dürfte eine der bedeutends­ten […] Thesen Jungs sein, die der verbreiteten Meinung vieler Autoren widerspricht, er lehne die traditionellen religiösen Formen (sic; I. N.) schlichtweg ab. Für ihn sind Dogmen die Quintessenz der Religion« (231). Jung zufolge würden Dogmen dem Gläubigen den »Zugang zu den lebendigen Prozessen des kollektiven Unbewussten« und zur Erfahrung »ihre[r] wirkende[n] Macht« eröffnen (231). Dass Jung dabei sein Verständnis christlicher Dogmen ungeachtet des christlich-theologischen Verständnisses entwickelt und formuliert, hält ihm M. vor.
Bedauern mag man, dass M., der sich intensiv mit religionspsychologischer Literatur befasst hat, ausgerechnet das Werk von Susanne Heine über die Grundlagen der Religionspsychologie und ihre Arbeiten über Jung nicht berücksichtigt. In überzeugender Weise hat sie gezeigt, dass Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten ein ontologischer Naturbegriff zugrunde liegt. Es ist gerade sein ontologisches Denkmodell mit der Akt-Potenz-Theorie, das von einer selbsttätigen Steuerung der Natur ausgeht, das Jung von Freud unterscheidet und das für das Verständnis seiner Archetypenlehre und damit auch für sein Verständnis des Christentums zentral ist.