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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

669–671

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paul Ricœur und die evangelische Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 230 S. = Religion in Philosophy and Theology, 76. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153611-3.

Rezensent:

Kathrin Messner

Am 27.02.2013 wäre der französische Philosoph Paul Ricœur 100 Jahre alt geworden. Verstorben am 20.05.2005, verfügte er in seinem Testament, dass sein gesamter intellektueller Nachlass dem Institut Protestant de Théologie in Paris zu übergeben sei, der kleinen, unbedeutenden evangelisch-theologischen Fakultät der französischen Kapitale. Damit hatte im laizistisch geprägten Frankreich niemand gerechnet. Heute ist dort der Fonds Ricœur eingerichtet, der für alle Ricœur-Forschenden, die philosophischen wie die theologischen, zur zentralen Anlaufstelle geworden ist. Mit diesem Vermächtnis geriet außerdem das bis dahin wenig beleuchtete Verh ältnis des protestantischen Philosophen Ricœur zur Theologie, insbesondere zur evangelischen, ins Interesse der wissenschaft-lichen Forschung. Vor diesem Hintergrund versteht sich auch das Symposion »Gott nennen – Gott bekennen: Paul Ricœur und die evangelische Theologie« des Rudolf-Bultmann-Instituts für Hermeneutik der Philipps-Universität Marburg und der Evangelischen Akademie Hofgeismar, das vom 19. bis 21.06.2013 stattfand: Es kündigte in seinem Ausschreibungstext an, »die erste [Tagung zu sein], die in dieser evangelisch-theologischen Zuspitzung Paul Ricœur in Deutschland vorstellt.« Die Beiträge dieser Tagung unter Federführung des inzwischen emeritierten systematischen Theologen Dietrich Korsch liegen nun, gut drei Jahre später, im hier zu besprechenden Sammelband vor.
Das mit seinen gut 200 Seiten rein quantitativ überschaubare Buch enthält 14 qualitativ hochwertige Einzelbeiträge von 13 Autorinnen und Autoren. Diese sind in drei Rubriken gegliedert, entsprechend den drei von Korsch umrissenen Feldern, auf denen sich Ri-cœur und die Theologie begegnen: Erstens greift Ricœurs Hermeneutik gerne auf biblische Texte und Themen zurück (»Theologische Konturen der Hermeneutik«); zweitens wirft sie ihrerseits auch ein philosophisches Licht auf Themen der Theologie, insbesondere der Dogmatik (»Philosophische Betrachtungen der Dogmatik«); und drittens entwirft sie auch selbst philosophische Konzepte für die Rede von Gott und dem Menschen (»Gott und Mensch verstehen«).
Die oben genannte »Vorstellung« des »Theologen« Paul Ricœur in Deutschland ist dabei zunächst vor allem in denjenigen Beiträgen zu greifen, die Ricœurs Werk auf die ein oder andere Weise zusammenfassen: Wilhelm Gräb (»Sich in Gott verstehen«) gibt eine ausgezeichnete kleine Einführung in Ricœurs Philosophie insgesamt (46–50.55–59). Er zeichnet in gut nachvollziehbarer Weise den Denkweg Ricœurs von einer Hermeneutik des (religiösen) Symbols zu einer universalen Texthermeneutik und von dort zu einer verantwortlichen Ethik nach. Martina Kumlehn (»Extravaganz und Grenzausdruck«) führt in die Grundannahmen der eben genannten Texthermeneutik Ricœurs genauer ein (8–11). Cornelia Richter (»Am Anderen sich selbst verstehen«) tut das Ihre in Hinblick auf Ricœurs ethisches Denken (109–113). Doris Hiller (»Integratives Geschichtsverstehen«) gibt einen Überblick über Ricœurs Ge­schichtsbegriff und -verstehen (119–125). Dietrich Korsch (»Rechtfertigung und Anerkennung«) fasst die Wege der Anerkennung des späten Ricœur (frz. 2004, dt. 2006) zusammen (172–177). Und Andreas Hunziker (»›Der fähige Mensch‹ und ›das mehr als Mögliche‹«) schlägt den großen Bogen von Ricœurs Anthropologie der Fähigkeit zu seiner Hermeneutik des Selbst (194–199).
Abgesehen von diesen – zur Einführung in Ricœur sehr nützlichen – Gesamtblicken stellen die Beiträge des Bandes aber auch weit mehr als bloße Zusammenfassungen dar. Sie sind zugleich »Ricœurinterpretation« und »Ricœurgebrauch«, um eine Formulierung aus Philipp Stoellgers Beitrag »Symbolische Ordnung und Sinn für’s Außerordentliche« aufzugreifen (78). Besonders erwähnenswert sind in dieser Hinsicht zum einen diejenigen Aufsätze, die auch die sehr späten Schriften Ricœurs bis hin zu den posthum veröffentlichten Fragments (frz. 2007, dt. 2011) mit berücksichtigen, bzw. die erst seit Kurzem oder gar nicht ins Deutsche übersetzt sind. So setzen sich Dietrich Korsch, Andreas Hunziker sowie Philipp Stoellger mit Ge­dächtnis, Geschichte, Vergessen (frz. 2000, dt. 2004) auseinander; die beiden Letzteren außerdem mit Lebendig bis in den Tod, einem Text, den Ricœur etwa zehn Jahre vor seinem Tod verfasst hat. Martina Kumlehn greift das skizzenhafte, vermutlich nicht lange vor seinem Tod verfasste Fragment »Bis zum Tod« aus den Fragments auf, um vom späten Ricœur aus auf dessen frühe Überlegungen zur Gleichnisauslegung und die darin zentralen Begriffe der Extravaganz und Grenzausdrücke zu sprechen zu kommen. Hans-Christoph As­kani (»Gott bezeugen«), ein Wegbegleiter des späten Ricœur, arbeitet ausschließlich mit französischen Originaltexten und übersetzt diese selbst. Seine Quellen sind ausschließlich Texte aus Lectures 3. Aux frontières de la philosophie (1994), einem Sammelband, aus dem bisher nur einzelne Beiträge ins Deutsche übersetzt wurden. Ebenfalls u. a. aus Lectures 3 speisen sich die Quellen von Andreas Hunziker. Cornelia Richter legt ihrer ethischen Perspektive auf Ricœur u. a. den erst 2009 ins Deutsche übersetzten Interviewband Kritik und Glaube zugrunde (frz. 1995).
Zum anderen machen auch diejenigen Aufsätze aus dem Sammelband auf sich aufmerksam, die in Hinblick auf den »Ricœurgebrauch« und auf Impulse, die sie setzen, Besonderes oder Unerwartetes bereithalten. So überrascht beispielsweise Katharina Eberlein-Braun (»Unter Naivlingen«) mit ihrem Exkurs zum Phänomen der Naivität in der Gestalt von Holly Goligthly alias Audrey Hepburn in Breakfast at Tiffany’s (41–43). Dietrich Korsch »gebraucht« Ri-cœur subjektivitätstheoretisch, indem er mit Hilfe von dessen Anerkennungsgedanken eine »besonders markante Schwäche« (171) der reformatorischen Rechtfertigungslehre schließt: das rein äußerliche Gesetztsein des Gesetzes durch Gott. Andreas Hunziker bringt die angloamerikanische Ricœur-Rezeption zur Sprache und führt sie am Beispiel von Ricœurs Alteritätsgedanken genauer aus. Philipp Stoellger geht am härtesten von allen Autorinnen und Autoren mit Ricœur in die Kritik, wenn er in seinem Aufsatz die These diskutiert, ob Ricœurs Hermeneutik der Vermittlung letzten Endes nicht den Preis der Verharmlosung des Außerordentlichen zahlt. Wilhelm Gräb baut dagegen Brücken zu Ernst Cassirers Hermeneutik des religiösen Symbols, was Ricœur, obwohl naheliegend, selbst so nie gemacht hat. Schließlich erstaunt Gräb mit seinem Spitzensatz: »Die philosophische Hermeneutik ist für ihn [sc.: Ricœur] in Wahrheit der Anwendungsfall der theologischen Hermeneutik, nicht umgekehrt. Denn am Besonderen, dem Verstehen der Bibel, kann erkannt werden, was es um das Allgemeine des Verstehens von Texten ist« (58). Gräb stellt damit das Verständnis des Verhältnisses von philosophischer und biblischer Hermeneutik bei Ricœur, wie es allgemein angenommen wird (z. B. bei Hiller, 119), schlichtweg auf den Kopf.
Insgesamt wird der Band so der in der Einleitung durch Dietrich Korsch formulierten Erwartung, dass die Beiträge des Buches »ak­zentuieren, in wie starkem Maße die Philosophie Ricœurs auch für die evangelische Theologie eine anregende und herausfordernde Rolle zu spielen vermag« (VIII), voll und ganz gerecht. Er führt ein, regt an, fordert heraus. Eine gelungene Würdigung der »Theologie« Ricœurs, zu der längst noch nicht alles gesagt ist.