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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

667–669

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Aristoteles

Titel/Untertitel:

De anima – Über die Seele. Griechisch – Deutsch. Neu übers., eingel. u. komm. v. Th. Buchheim. M. d. griech. Originaltext der Oxfordausgabe v. W. D. Ross (1956).

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016. 304 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-534-26817-7.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Diese bedeutende Schrift des Aristoteles, sein Entwurf einer Me­thode der Psychologie, einer philosophischen Biologie und einer Analyse der Erkenntnis, liegt in einer zweisprachigen Neuausgabe vor. Der griechische Text fußt im Wesentlichen auf der Edition von Ross. Buchheim hält die lange vertretene These für überholt, dem Text lägen zwei Handschriftenschichten zugrunde. Seine eigene Übersetzung zielt auf Worttreue und beurteilt im Fußnotenkommentar Textvarianten, gibt wichtige Worterklärungen oder ver weist auf Parallelstellen bei Aristoteles. Ein separater Erläuterungsteil (227–277) ist der Erklärung schwieriger philosophischer Aussagen gewidmet.
Aristoteles’ Schrift ist ja bekanntlich in drei Bücher gegliedert, von denen das erste im Wesentlichen einen Überblick über die Auffassungen der voraristotelischen Autoren zur Seele gibt. Im zweiten Buch definiert Aristoteles die Seele erstens als Entelechie eines natürlichen Körpers, zweitens als Prinzip des Lebens und geht dann auf die fünf Sinne und ihre Objekte ein. Im dritten Buch be­handelt er vor allem das Wahrnehmungs- und das Bewegungsvermögen sowie das Phänomen des Willens. Hier findet sich auch die Passage im fünften Kapitel (430 a 10–25; Zitation gemäß der Seitenzählung von Immanuel Bekker), die im 15. und 16. Jh. im Streit um die Unsterblichkeit der Seele eine wichtige Rolle gespielt hat.
In die hier angerissene Themenvielfalt führt B. in seiner Einleitung (9–48) sehr gut ein und zeigt, dass Aristoteles’ Theorie konfliktfrei neben dem heutigen naturwissenschaftlichen Wissen be­stehen kann. Aristoteles spricht allen lebendigen Wesen eine Seele zu. Sie ist, wie er sagt, »Prinzip des Lebens« (402 a 6 f.), jedoch für Pflanzen, Tiere und Menschen auf unterschiedliche Weise. Die Seele versteht er nicht, wie die heutige Psychologie, aus der Perspek-tive menschlichen Bewusstseins, sondern als primäre Ursache der Lebendigkeit, ohne weder von anderen Ursachen abgeleitet werden zu können noch ihrerseits körperlich zu sein. Die Seele kommt dem Körper zu, ohne aber dessen greifbarer Teil zu sein, wie Aris­toteles in seiner bekannten Aussage formuliert: »Wenn man also etwas Allgemeines über die Seele sagen soll, dürfte dies sein, dass sie di e primäre wirkliche Vollbringung eines physischen organischen Körpers ist. Deshalb darf man auch nicht danach suchen, ob die Seele und der Körper eins sind, wie auch nicht das Wachs und seine Figur, und überhaupt die Materie eines jeden und das, wo­von es die Materie ist; denn das ›Eins‹ und das ›Sein‹ ist, obwohl auf vielfache Weise gesagt, in der Hauptsache die wirkliche Vollbringung« (412 b 4–9). Die Seele macht also aus einem komplex zusammengesetzten Körper ein Individuum mit eigenen und einheitlichen Aktivitäten. B. hat deshalb das griechische Wort entelecheia mit Vollbringung übersetzt, um die Seele als eigengesetzliche Kausalität des Körpers deutlich zu machen, die ihrerseits weder selbständig exis­tiert noch in identischer Einheit mit dem Körper auftritt.
Körper und Seele sind so in ihrer ontologischen Verschiedenheit gesehen, bei der die Seele »als Ursache und Prinzip des lebendigen Körpers [existiert]. Diese aber werden auf vielfache Weise verstanden, doch ist die Seele gleichermaßen in drei der unterschiedlichen Modi Ursache. Denn sowohl Woher der Bewegung ist sie, wie auch Umwillen, wie auch ist die Seele als die Substanz der beseelten Körper Ursache« (415 b 8–11). Die so verstandene Seele ist also die Ursache für die Individuation der Lebewesen und ihrer Handlungen. Sie bildet eine Einheit mit dem Körper, ohne den sie nicht existieren kann.
Aristoteles unterscheidet drei Teile der Seele, nämlich den vegetativen, sensitiven und intellektiven Seelenteil. Während der erste die physische Existenz eines Lebewesens unterstützt, der zweite den Bereich der Wahrnehmung, steht der dritte Teil allen intellektuellen Zusammenhängen bei. Die verschiedenen Teile der Seele bilden eine Einheit, da der jeweils höhere Seelenteil den niedrigeren Seelenteil mit einschließt: »Stets nämlich ist in dem sich Anreihenden […] dem Vermögen nach das Frühere enthalten« (414 b 29). So erfordert das Denken des Menschen verschiedene Wahrnehmungen und einen funktionierenden Körper. Entsprechend ordnet Aristoteles den Pflanzen den vegetativen Seelenteil zu, den Tieren den sensitiven und den Menschen den intellektiven, der, wie gesagt, die beiden anderen Seelenteile einschließt. Der dritte Seelenteil ermöglicht den Menschen eine Verknüpfung diverser Vorstellungen, um so auf die Ebene nicht nur von Wissen, sondern auch von Wissenschaft zu gelangen.
Hier bildet sich bei den Menschen individuell durch ihren je­weiligen Erwerb der Wissenschaften ein Verstand aus, den B. in seiner Übersetzung als affizierbar (pathêtikos; 430 a 24 f.) oder auch als leidensfähig bezeichnet. Dieser Verstand in der verstehensfähigen Seele wird durch einen wirkenden Verstand gleichsam gezündet, damit sich das wirklich Wahre in der menschlichen Seele einstellt. B. weist ausdrücklich darauf hin, dass Aristoteles diesen wirkenden Verstand als göttlich und unaffizierbar bezeichnet (408 b 29) und er nur dort wirken kann, wo er auf einen affizierbaren Verstand trifft. B.s Deutung dieses schwierigen Lehrstücks schließt sich der des Alexander von Aphrodisia in seinem Kommentar De anima an. Alexander nimmt an, dass Aristoteles allein Gott die aktive Vernunft zugeschrieben hat, während den an die Materie ge­bundenen Menschen nur der passive Verstand zukommt, der auch sterblich ist, während nur der von Gott auf die Menschen zukommende aktive Verstand unsterblich ist. Bekanntlich bestätigt Pietro Pomponazzi in seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele (1516) diese Auffassung, indem er die Unsterblichkeit nur dem Bereich des Glaubens zuordnet, nicht aber dem des Wissens.
B. hat mit seiner Neuübersetzung von De anima, seinen Erläuterungen und Hinweisen eine beachtenswerte Leistung vollbracht, die die weitere Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Schrift erleichtert und anregt. Da sich die Neuübersetzung ausdrücklich auch an Leserinnen und Leser ohne Griechisch-Kenntnisse richtet, ist es bedauerlich, dass sowohl den Textfragmenten zum zweiten Buch (279–288) als auch dem griechischen Index keine deutsche Übersetzung zur Seite gestellt worden ist. Das ist mein einziger Vorschlag an B. für eine hoffentlich schnell nötig werdende zweite Auflage dieser großartigen Neuausgabe eines klassischen Textes – sowie an den Verlag die Erwägung einer preiswerten Studienausgabe.