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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1166–1168

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Winkler, Eberhard

Titel/Untertitel:

Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora. Eine Einführung in die praktisch-theologische Kybernetik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1998. IX, 240 S. 8. Kart. DM 29,80. ISBN 3-7887-1700-9.

Rezensent:

Michael Herbst

Eberhard Winkler hat in den letzten Jahren in recht schneller Folge verschiedene Werke vorgelegt: So erschien 1997 ein Lehr- und Arbeitsbuch zur Praktischen Theologie ("Praktische Theologie elementar", Neukirchen-Vluyn 1997), 1995 eine Einführung in die Kasualien ("Tore zum Leben", Neukirchen-Vluyn 1995) und nun eine Kybernetik. Während die Kybernetik im 19. Jh. vorwiegend Fragen der Gemeindeleitung thematisierte (und sich im 20. Jh. nahezu vollständig aus dem Kanon der praktisch-theologischen Disziplinen verabschiedete), beschäftigte sie sich nach ihrem Wiederaufleben in den 1980er Jahren (Manfred Seitz u. a.) vor allem mit dem Gemeindeaufbau. Konzeptionelle Fragen nach einer zielgerichteten Gemeindeentwicklung beherrschen seither das Feld. Der emeritierte Praktische Theologe aus Halle/Saale unternimmt es als erster, beide Aspekte wieder zusammenzuführen. Entsprechend breit sind die Themen seines jüngsten Buches angelegt:

Im ersten Hauptteil (1-53) legt W. das Fundament für seine Vorstellung vom Gemeindeaufbau. Wie in einer Ouvertüre klingen dabei die Motive an, die ihn auch in den späteren Kapiteln leiten werden. Besonders Martin Luther abgelauschte Einsichten in das Wesen und Leben der Kirche Jesu Christi werden dabei fruchtbar gemacht. Die Leitfrage lautet aber auch hier schon: wie kann Gemeinde in einer Übergangszeit von (früher selbstverständlicher, heute aber fraglich gewordener) Volkskirchlichkeit und (wahr- und anzunehmender) Diaspora-Situation gebaut werden? W. sieht in den biblischen Verheißungen über die Gemeinde Jesu, in der "geglaubten Kirche" ein wesentliches "Potential zur Veränderung der empirischen Kirche" (2), die für ihn "ecclesia semper reformanda" ist. Dabei wehrt er sich gegen jeden ekklesiologischen Rigorismus: Er betont immer wieder, daß die Kirche ein "corpus permixtum" ist und bleibt, und daß die guten Erfahrungen mit der geglaubten Kirche stets in der empirischen Kirche gemacht werden. Die "Liebe zur sichtbaren Kirche" (4) ist dann auch ein Grundzug des gesamten Werkes. In den "notae ecclesiae" sieht W. zugleich Hinweise auf das, was Kirche mit Priorität (7) zu tun hat: Die Versammlung von Menschen unter Wort und Sakrament muß im Mittelpunkt jedes Gemeindeaufbaus stehen. Kirche lebt dabei auf sehr verschiedenen Ebenen: Immer wieder betont der Autor die kleinsten Ebenen der Familie, des Hauskreises, der kirchlichen Gruppe, dann auch die für ihn wesentliche Ebene der Ortsgemeinde. Sein Kirchenbegriff ist subsidiär: Die jeweils größere kirchliche Struktur muß dazu dienen, die kleinere zu stützen und zu fördern. Kirche baut sich also von den Gemeinden aus auf. Das gilt auch in der Situation der Diaspora, die W. besonders für die Kirchen in den neuen Bundesländern erkennt.

Als ostdeutscher Theologe vermag er besonders deutlich die Geschichte und Gegenwart dieser de facto schon nach-volkskirchlichen und doch noch volkskirchlich strukturierten Kirchen zu zeichnen. Ihm ist wichtig, daß die Gemeinden sich nicht in ein Ghetto zurückziehen, sondern ganz im Gegenteil missionarisch über ihre eigenen Grenzen hinausgehen und für den Glauben an Jesus Christus werben. Ebenso deutlich wird er, wenn es um ein weiteres Reizthema kirchlicher Debatten geht: Im allgemeinen Priestertum der Glaubenden erblickt der Vf. die "bisher am wenigsten eingelöste ekklesiologische Erkenntnis der Reformation" (30). So sehr er an der Bedeutung des Pfarramtes für die evangelische Kirche festhält, so sehr betont er auch die Notwendigkeit, die sogenannten "Laien" in ihrer Mündigkeit und Beteiligung am Gemeindeaufbau zu fördern.

Von diesen reformatorisch geprägten Leitlinien ausgehend stellt W. im zweiten Hauptteil die wichtigsten kybernetischen Konzeptionen vom Ende des 2. Weltkriegs bis zur Gegenwart dar (54-119). Um die jeweiligen Konzeptionen selbst zu Wort kommen zu lassen, verzichtet er auf eine übergreifende Systematisierung, sondern ordnet sie einfach hintereinander. Wer sich einen Überblick über die doch schon fast ausufernde Debatte verschaffen will, findet hier vorzügliches Material. Der Vf. entgeht der sonst weit verbreiteten Neigung, für den eigenen Ansatz fremde Konzeptionen gar nicht erst wahrzunehmen, indem er tatsächlich unterschiedlichste Stimmen zu Wort kommen läßt: Vertreter des missionarischen Gemeindeaufbaus (z. B. F. Schwarz oder K. Eickhoff) wie deren Gegner, konziliare Kirchenkonzepte (wie etwa H. Lindner und G. Breitenbach), Modelle der Gemeindepädagogik (R. Degen, K. Foitzik) oder der Gemeindeberatung (E.-R. Schmidt), aber auch katholische (J. Windolph) und freikirchliche (B. Marchlowitz) Ansätze. W. verzichtet allerdings darauf, nach der Vorstellung der Konzeptionen auch einen in sich geschlossenen eigenen konzeptionellen Ansatz vorzutragen.

Daß es sich hier dennoch um eine "vollständige" Kybernetik handelt, wird dann im dritten bis fünften Hauptteil deutlich. Da wird zunächst eine kybernetische Ämterlehre (120-173) vorgetragen, die "nebenbei" eine feine, kleine Geschichte des Pfarramtes bietet. Dann kann sich der Leser über die Geschichte, die gegenwärtigen Probleme und die zukünftigen Perspektiven der Parochie informieren (174-193), um im letzten Hauptteil auf Überlegungen zum Kirchenrecht und zur Leitung der Kirche zu stoßen (194-240). W. setzt dabei in der Regel mit knappen historischen Einblicken ein, um dann die relevanten Fragen differenziert, aber auch pointiert zu beantworten. Im Blick auf das Pfarramt betont er vor allem die nötige Entkoppelung von Ordination und beamtenähnlichem Status (161). Es müsse klarere Konzepte für ein ehrenamtliches Pfarramt geben (167 f.), und es müsse viel deutlicher als bisher das ehrenamtliche Engagement von "Laien" im Gemeindeaufbau gefördert werden (165 ff.).

Zur Parochie meint der Autor, daß sie als "Kirche der kleinen Wege" (188) von Bedeutung bleibe, zugleich aber der Ergänzung bedürfe. Immer wieder nennt W. dabei die kleinen Gruppen, z. B. Hauskreise, aber auch Personal- und Richtungsgemeinden als Möglichkeiten der Profilierung innerhalb der evangelischen Kirche (189 f.). Manches wird angesichts des gerade im Osten immer weitmaschiger werdenden Netzes pfarramtlicher Versorgung auch nur noch in regionaler Zusammenarbeit möglich sein (186 f.). Außerdem sollen innerstädtische Gemeinden darauf achten, daß sie in ihrer Zusammenarbeit profilierte, vielseitige Angebote machen und nicht in jeder Gemeinde alles und in jeder Gemeinde dasselbe stattfinden lassen (187). Vielfalt fordert W. auch im Blick auf das ius liturgicum: Er bezeichnet es als Illusion, einen agendarischen Gottesdienst für alle entwerfen zu wollen (216).

W. hat ein gut lesbares, trotz der Fülle der in den letzten Jahren erschienenen kybernetischen Literatur auch lesenswertes Buch veröffentlicht. Nur gelegentlich wird allzu Bekanntes wiederholt, was aber den vorzüglichen Eindruck dieses Buches nicht trüben kann: Es bietet einen vollständigen kybernetischen Ansatz, eine konsequent durchgeführte, dem missionarischen Gemeindeaufbau verwandte und zugleich "weitherzige" Konzeption mit starkem Bezug auf die Diaspora-Situation in den neuen Bundesländern. Und es beeindruckt durch die Fülle der verarbeiteten, auch neuesten Literatur. Gäbe es jetzt noch ein Register und ein Literaturverzeichnis, so könnte dieses Werk auch als "Kompaß" für die Einarbeitung in die Kybernetik gute Dienste leisten.