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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

656–658

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Winnebeck, Julia

Titel/Untertitel:

Apostolikumsstreitigkeiten. Diskussionen um Liturgie, Lehre und Kirchenverfassung in der preußischen Landeskirche 1871–1914.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 448 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 44. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-04146-6.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Die hier anzuzeigende Bonner Dissertationsschrift von Julia Winnebeck ist einem prominenten Gegenstand historisch-theologischer Forschung zur Neueren Kirchengeschichte gewidmet. Gleichwohl verrät schon der Untertitel, dass es ihr um mehr geht als um eine konventionelle Rekapitulation bekannter Stoffe: »Ziel dieser Untersuchung ist […] eine systematische Gesamtdarstellung der Apostolikumsstreitigkeiten in dem für ihr Verständnis unerläss-lichen kirchen- und theologiegeschichtlichen Kontext. Die Ana-lyse berücksichtigt dabei sowohl die kirchenrechtlichen und litur-gischen Entwicklungen als auch die fortschreitende Ausbildung des kirchlichen Parteien- und Vereinswesens während und infolge dieser Streitigkeiten« (28). Dahinter steht folgende grundsätzliche Annahme: »Dank der Verbindung der praktischen Frage nach dem kirchlichen Gebrauch des Apostolikums mit der Lehr- und Kirchenverfassungsfrage konzentrierten sich in den Diskussionen über das Apostolikum die zentralen theologischen und kirchenpolitischen Streitfragen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.« (22)
Dem Anliegen der umfassenden Aufbereitung und Kontextualisierung ist dann auch der kleinschrittige Aufbau der Studie gewidmet, der die Auseinandersetzungen um Inhalt, Verortung, Wert und Funktion des Glaubensbekenntnisses in drei Phasen teilt: Auf die Einleitung (17–46), die Gegenstand, Aufbau und Ziel der Arbeit offenlegt sowie stark vereinfachend die Vorgeschichte der Apostolikumsstreitigkeiten seit dem 17. Jh. nachzeichnet, folgt unter Konzentration auf die Fälle Sydow, Lisco und Hoßbach die Darstellung der ersten Phase (47–190). Daran schließen sich die Ausführungen zur zweiten Phase an (191–286), unter der die Fälle Schrempf und Harnack subsumiert werden. Die dritte und letzte Phase (287–386) umfasst dann die Fälle Jatho und Traub. Abgeschlossen wird der Untersuchungsgang mit einer Zusammenfassung (387–401), die die Ergebnisse und Folgen der Streitigkeiten bündelt und einen kurzen Ausblick bietet. Beigegeben ist der Studie neben der Bibliographie (403–439) noch ein Personenregister (441–447).
Die Darstellung der ersten Phase der Apostolikumsstreitigkeiten wird mit der Einbettung derselben in ihre zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen eröffnet, zu denen die Anstrengungen zur organisatorischen Bündelung des kirchlich-liberalen Lagers zu zählen sind, die schließlich in die Gründung des Protestantenvereins münden sollten. Die sich aus dessen Anliegen ergebenden Konflikte vor allem mit dem konfessionell-lutherischen Lager fanden dann auch in den scharf geführten Debatten rund um das Apostolikum ihren Niederschlag und führten im Ergebnis u. a. zu einer zunehmenden programmatischen Profilierung und darüber zu einer weiteren Ausdifferenzierung der streitenden Parteien. Die positionellen, kirchlich-theologischen Großkonflikte und die da­mit verbundenen Debatten und Interessen übertrugen sich auf die Ebene be­stimmter Gemeinden und fanden von dort ihren Weg in die höchs­ten Etagen der preußischen Kirchen- und Innenpolitik. Das wiederum wirkte verstärkend auf die innerevangelische Lagerbildung und beeinflusste entsprechend die Verteilung der machtpolitischen Gewichte innerhalb der landeskirchlichen Institutionen des Königreichs. So kam es infolge der Ereignisse, die die erste Phase konstituieren, zu einem konservativen Schwenk der preußischen Kirchenpolitik. Vor diesem Hintergrund hält die Vfn. fest: »Wenn die erste Phase der Apostolikumsstreitigkeiten im Hinblick auf den kirchlichen Gebrauch des Apostolikums somit letztlich auch ergebnislos blieb, so war in ihrem Verlauf doch mehr als deutlich geworden, dass sich in der Apostolikumsfrage die entscheidenden Streitfragen der kirchlichen Parteien konzentrierten. Fortan musste folglich jedem klar sein, dass ihre öffentliche Diskussion immer eine prinzipielle Erörterung nicht nur der Liturgie, sondern auch der Lehre und der Verfassung der Kirche nach sich ziehen musste« (190).
Die zweite Phase speist sich aus den Ergebnissen der ersten und hat unmittelbar mit dem vermittelnden kirchenpolitischen Kurs unter der Regierung Wilhelms II. sowie den Neu- und Umformierungen in den kirchlichen Lagern zu tun: »Auf Seiten des theolo-gischen Liberalismus hatte sich in der Phase der kirchlichen Reak-tion mit der Ritschl-Schule inzwischen eine neue theologische Richtung etabliert, welche in der zweiten Phase der Apostolikumsstreitigkeiten eine Hauptrolle spielen sollte« (193). Durch den Fall Schrempf außerhalb Preußens ihren Anfang nehmend und durch Harnacks berühmte Stellungnahme erneut auf die Bühne der preußischen Kirchen- und Innenpolitik gelangt, führte auch diese Runde der Auseinandersetzungen naturgemäß nicht zu einer endgültigen Klärung der brennenden Fragen nach dem liturgischen Ge­brauch und der lehrmäßigen Verbindlichkeit des Apostolikums, ganz im Gegenteil: Mittels der erzielten Kompromisse durch In­krafttreten einer neuen Agende wurde der Konflikt lediglich oberflächlich und entsprechend vorübergehend sediert. »Als institutionell verfasste Kirche durfte und musste sich die preußische Landeskirche gerade angesichts der Apostolikumsstreitigkeiten, die sich in ihrem Kern wiederholt als Lehrstreitigkeiten erwiesen hatten, aber den Fragen stellen, wo die Grenzen der Lehrfreiheit ihrer Geistlichen lagen und wie sie diese Grenzen durchzusetzen gedachte.« (285)
Und genau die damit zusammenhängenden Klärungsversuche führten direkt in die dritte Phase, die im Wesentlichen die Einführung des »Irrlehregesetzes« in der preußischen Landeskirche und die damit verbundenen Diskussionen um dessen Statthaftigkeit und Anwendbarkeit umfasst. Auch diese Phase ist gekennzeichnet durch ihre Verschränkung mit der Kirchen- und Innenpolitik Preußens einerseits, ihre Verknüpfung mit der Kirchenverfassungsfrage an­derseits. Wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit einzelner Formulierungen des ›Irrlehregesetzes‹ »befürchtete die kirchliche Rechte eine allmähliche Auflösung der Bekenntnisverpflichtung, während die kirchliche Linke eine systematische Ausgrenzung der liberalen Theologie aus der Landeskirche witterte. Ein weiteres und […] entscheidendes Problem des neuen Lehrbeanstandungsverfahrens be­stand in seinem unklaren Nebeneinander zum kirchlichen Disziplinarverfahren« (304). Daher rührte dann auch die rechtlich-institutionelle Brisanz der Fälle Jatho und Traub.
Durch Auswertung auch und vor allem nicht gedruckter Quellenbestände gelingt der Vfn. somit ein personen- und institutionengeschichtlich bemerkenswerter Forschungsbeitrag, der es versteht, auf hohem Niveau theologische Interessen, kirchliche Anliegen und politische Rahmenbedingungen aufeinander zu beziehen. Entsprechend beweist das gewählte Phasenmodell seine Leistungsfähigkeit: Es zeigt die Kontinuitäten zwischen den einzelnen Zeitabschnitten, Diskussionsfeldern und Interessengruppen genauso auf wie die nicht zu übersehenden Diskontinuitäten. Allerdings: So gut die vorwiegend institutionengeschichtliche Integration der drei Phasen selbst auch gelingt, so konventionell und passagenweise unterbelichtet bleibt die theologiegeschichtliche Verortung der in den Blick genommenen Apostolikumsstreitigkeiten und ihrer Protagonisten insgesamt. Dabei laden gerade die detailreichen Einzelbeobachtungen dazu ein, eingeschliffene Narrative und Schematisierungen bezüglich der beteiligten theologisch-kirchlichen Lager unter Berücksichtigung vorangegangener Konflikte rund um das Apostolikum mindestens zu überprüfen. Hier bleibt im Kontext der Erforschung protestantischer Selbstverständigungsversuche über den Umgang mit kirchlichen Traditionsstücken historisch-theologisch also noch einiges zu tun, wozu die vorliegende Studie nun Grundlegendes beisteuert.