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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

654–656

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schmitt-Maaß, Christoph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Gottes furcht« und »honnêteté«. Die Erziehungsinstruktionen für Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg-Preußen durch August Hermann Francke und Gottfried Wilhelm Leibniz.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission) 2016. VI, 101 S. m. 3 Abb. u. 1 Tab. = Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 14. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-447-10602-3.

Rezensent:

Malte van Spankeren

Prinzenerziehung ist ein schwieriges Geschäft. Zumal wenn man es mit einem unaufmerksamen und leicht abzulenkenden Zögling zu tun hat, der wenig Lust hat zu lernen. Heute würden die Motivationsschwierigkeiten Friedrich Wilhelms I. vermutlich unter ADHS firmieren und als verhaltensindividuell abgetan, aber zu Kindheitstagen des Soldatenkönigs versuchte man noch mit Erziehungsinstruktionen gegenzusteuern. Angesichts solcher royalen Zöglinge sollten die Erziehungsinstruktionen, die August Hermann Francke und Gottfried Wilhelm Leibniz verfasst hatten, weiterhelfen. Neben diesen beiden druckt der Germanist Christoph Schmitt-Maaß vier weitere Erziehungsinstruktionen ab, darunter auch diejenige, welche der Soldatenkönig seinerseits für seinen Sohn als verbindlich ansah. Infolgedessen kann mit der vorliegenden, 101 Seiten umfassenden Edition eine längere Periode preußischer Prinzenerziehungstheorie an der Wende vom 17. zum 18. Jh. überblickt werden. Auch für die Franckeforschung bietet diese Quellenedition mindestens einen wichtigen Aufschluss. Denn die auf Carl Hinrichs zurückgehende Annahme eines »maßgeblichen« Einflusses (1), den sowohl Francke als auch Leibniz auf die Erziehung Friedrich Wilhelms I. ausgeübt haben sollen, wird durch die hier vorgelegte Quellenedition revidiert. Indem Franckes Einfluss hö­her als bisher veranschlagt wird, kann der Beginn einer besonderen Beziehung zwischen Halle und Brandenburg infolgedessen auf 1694 vordatiert werden (2).
Den sechs Erziehungsinstruktionen sind jeweils inhaltliche Einführungen, in denen S.-M. kurz auf die wesentlichen Inhalte eingeht und relevante Informationen zum Publikationskontext ergänzt, vorangestellt (7–41). Vier dieser Instruktionen seien kurz vorgestellt. Die Erziehungsschrift Franckes, »Einige Gedancken von der Auferziehung eines zum Regiment destinirten Printzen« (53–57), spiegelt in neun Abschnitten sein Erziehungskonzept wider, welches besonderen Wert auf den Erzieher und – wenig überraschend – dessen Gottesfurcht legt sowie die besondere Verantwortung des späteren Herrschers für seine Untertanen nachdrücklich betont. Deshalb fordert Francke, dafür Sorge zu tragen, »daß keine in offenbahren Lastern lebende Leüte noch atheistische Gemüther, desgleichen auch keine Stock=Narren um den Printzen geduldet werden« (53,32–54,2). Damit ordnet sich Francke in eine an der Wende zum 18. Jh. geführte Debatte über sachgerechte Erziehung ein, wobei S.-M. Franckes Erziehungskonzept hauptsächlich durch Fénelon und Locke beeinflusst sieht (13–15). Im Hinblick auf das Lernen mittels historischer Beispiele verweist Francke zur Lektüre auf das »Chronicon Carionis« (Erstdruck 1532) sowie Autoren neueren Ursprungs wie Boussuart, wobei zu beachten sei, man dürfe dem Zögling nicht sämtliche Inhalte zugänglich machen. Denn über alles, was einer »Vertheidigung des Pabstuhms« (56,3) diene, sei der Mantel des Schweigens zu breiten. Plausibel datiert S.-M. als terminus post quem für die Abfassung das Jahr 1689 (51). In den »standesübergreifenden« Überlegungen Franckes erkennt S.-M. eine Parallele zu zeitgenössischen, aufklärerischen Erziehungskonzepten und kritisiert angesichts dessen die Forschungsmeinung, welche pietistische und aufklärerische Kindererziehung als diametral ansieht.
Leibniz’ »Le bon naturel est la base et le fondement de tout« (59–71) zeichnet das Idealbild eines Prinzen, der sich umfangreiche Wissensbestände anzueignen habe, die u. a. von der Architektur bis zur Medizin reichen. Auf die übliche Kavalierstour solle er verzichten, da es sich zuhause am besten lernen ließe, insbesondere die Liebe zum Vaterland. Da sich Leibniz von 1672 bis 1676 als Erzieher eines Kurmainzer Diplomatensohnes auch selbst pädagogisch betätigt hat, verfügte er über Erfahrungen aus der Praxis. Die »mangelnde[] Konzentrationsfähigkeit« seines Zöglings führte bei Leibniz dazu, die charakterliche Erziehung als wesentliches Erziehungsziel zu definieren. Gegen zeitgenössische Adelserziehung, wie sie an den Ritterakademien Mode war, wird bei Leibniz die »Prinzenerziehung […] zur Kindererziehung« (29). Als Fundament dient dabei nicht wie bei Francke die Gottesfurcht, sondern laut Leibniz’ »le bon naturel«.
Trotz des unterschiedlichen Fundaments, auf dem Francke und Leibniz ihre Erziehungskonzeptionen aufbauen, sind beide im Ziel geeint, zunächst die »richtige Gesinnung« (30) auszubilden, wofür der Erzieher hauptverantwortlich ist, so dass dessen charakterliche Eignung die conditio sine qua non darstellt.
Beide Erziehungskonzepte fanden Eingang in die Erziehungsinstruktionen für Friedrich Wilhelm von Brandenburg 1695 (71–80). Historische und biblische Herrscherfiguren werden darin eben­so anempfohlen wie die morgendliche und abendliche Betstunde, worin Parallelen zu Franckes Erziehungsschrift deut-lich werden (31). Im zweiten Teil, der sich u. a. den notwendigen wissenschaftlichen Kenntnissen und körperlichen Fähigkeiten widmet, zeigt sich dagegen verstärkt der Einfluss von Leibniz. Kenntnisse zum Festungsbau und zur Genealogie benachbarter Herrscherhäuser werden als ebenso nützlich angesehen wie militärische Übungen zur Erholung. Im Ganzen veranschlagt S.-M. den Einfluss der Franckeschen Erziehungsvorschläge für die Schrift höher als den von Leibniz und begründet dies nachvollziehbar (33 f.).
Friedrich Wilhelm erachtete seine eigenen Erziehungsinstruktionen auch für die Erziehung seines Sohnes als sinnvoll, stellte allerdings darin die Gottesfurcht als »Richtschnur« allen erzieherischen Handelns deutlicher heraus. In den »Erziehungsinstruktionen für Friedrich v. Brandenburg-Preußen« (80–88) von 1718 fanden insgesamt pietistische Vokabeln und Grundüberzeugungen verstärkt Eingang. Dem Sohn sollte eine »wahre liebe zum Soldaten stande« (86) ebenso nahegebracht werden wie ökonomische Kenntnisse. Fächer wie Latein, mit denen Friedrich Wilhelm einstmals seine liebe Müh und Not hatte, werden verworfen, und auch der Aspekt der Erholung wird als peripher erachtet. Im Hinblick auf konkurrierende Religionsgemeinschaften solle man insbesondere die »absurdität« des Katholizismus vor Augen führen, der auf einer Stufe mit Sozinianern und Deisten stehe (82).
Angesichts der vorliegenden Edition gewinnt die Frage nach der pietistischen Prägung Friedrichs des Großen möglicherweise neue Relevanz. Zum Mindesten aber eröffnet sich ein interessanter Einblick in die Jugend des alten Fritz.