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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

650–652

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Collinet, Michaela

Titel/Untertitel:

Frohe Botschaft für die Armen? Armut und Armenfürsorge in der katholischen Verkündigung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 298 S. m. 6 Abb. = Konfession und Gesellschaft, 49. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-17-023412-3.

Rezensent:

Andreas Henkelmann

Lange Zeit war es um die Erforschung der Geschichte der Caritas eher schlecht bestellt. Trotz – oder vielleicht gerade – wegen ihrer hohen Alltagsrelevanz fand sie nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Dies hat sich seit einigen Jahren geändert, nicht zuletzt wegen des Trierer Sonderforschungsbereichs »Fremdheit und Armut« und dort vor allem der Fülle an Publikationen von Bernhard Schneider und seinen Schülern, darunter Michaela Collinet, deren Ergebnisse nun auch als Monographie unter dem Titel »Frohe Botschaft für die Armen? Armut und Armenfürsorge in der katholischen Verkündigung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts« vorliegen. Worum es geht, wird deutlicher, wenn man sich die Quellengrundlage der Arbeit anschaut. Dabei handelt es sich um die beeindruckende Zahl von 2836 Predigten und 151 Hirtenbriefen sowie einigen wenigen protestantischen Predigten als Vergleichsgruppe. Von den 2836 Predigten wurden die 675, die sich mit Armut und Armenfürsorge beschäftigen, ausgesucht und diskursanalytisch untersucht.
Dieser Analyse sind eine Einführung sowie ein längeres Kapitel zu den kirchlichen- und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgeschaltet. Das wichtigste Begriffspaar ist das der katholischen Aufklärung und des Ultramontanismus. Beide Begriffe werden in der Einführung erläutert, aber bereits vorher in der Erläuterung der Quellenauswahl verwendet: C. verfolgt den Ansatz, beide Lager in ihren jeweiligen Armutsdiskursen zu analysieren, und hat in entsprechender Weise für beide Gruppen repräsentative Prediger und Bischöfe ausgewählt. Mit Johann Heinrich Brockmann und Sebastian Winkelhofer nimmt sie zwei weitere Autoren hinzu, die sie einer Mittelposition »zwischen den beiden großen Lagern« zuordnet, »dem sogenannten Sailer-Kreis«.
Die Analyse der Quellen beginnt mit einigen »allgemeinen Be­obachtungen zur Thematisierung von Armut und Armenfürsorge«, die die große Relevanz des Themas in Verkündigungstexten aufzeigt. Es folgen die beiden Hauptkapitel der Arbeit. In Kapitel 4 geht es um die »Wahrnehmung und Deutung von Armut«. C. zeigt in einem ersten Schritt die Unterschiedlichkeit der Armutsvorstellungen in den Predigten und Hirtenbriefen auf: Sowohl materielle als auch soziale Armut (im Sinne einer Exklusion vom gesellschaftlichen Leben) als auch freiwillige Armut sowie die ebenfalls positiv konnotierte Armut im Geiste lassen sich nachweisen, wobei Armut immer als Teil der gottgegebenen Ordnung verstanden wird. An­schließend geht sie auf die Wahrnehmung der Armen in den Predigten ein. Prägend ist hier die Unterscheidung von »würdigen« und »unwürdigen« Armen. Witwen und Waisen stehen prototypisch für die erste, der »starke« »arbeitsfaule« Bettler für die zweite Gruppe. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in der religiösen In­klusions- und Exklusionssemantik. Die Inklusionssemantik überwiegt, z. B. christologisch gewendet über die Bezeichnung der Ar­men als »Brüder in Christus«, es lässt sich aber auch über das Bild des unwürdigen Armen oder des geizigen Reichen als Sünder eine gegenteilige Exklusionssemantik beobachten.
Die religiöse Deutung von Armut wird auch im folgenden Ab­schnitt zu den Ursachen von Armut thematisiert. So lassen sich einerseits gesellschaftliche Notlagen wie Missernten nachweisen. Andererseits werden diese Notlagen sehr häufig mit sittlich-moralischen Einschätzungen konnotiert, indem beispielsweise Notsituationen als Strafe oder Prüfung Gottes angesichts des sündhaften Verhaltens der Menschen erscheinen. Anschließend geht C. auf »be­sondere Problemfelder von Armut« (163) ein, besonders interessant sind die ausgeprägte Sorge um das Wohlergehen der Kinder sowie der Zusammenhang von Krankheit und Armut, wie etwa Armut geduldig zu ertragen. Das Kapitel wird mit einigen Ausführungen zur Armutsprävention, z. B. über schulische Bildung, beendet.
Das fünfte Kapitel trägt die Überschrift »Theorien der Armenfürsorge«. Diese Überschrift ist missverständlich, denn wenig überraschend ergeben die Verkündigungstexte keine geschlossenen Theoriegebäude, sondern lediglich unterschiedliche »Begründungsebenen« (187) der Armenfürsorge, die C. ausführlich analysiert. Terminologisch taucht der Begriff der Fürsorge nur sehr selten auf, der Terminus Caritas fehlt völlig, die beiden beliebtesten Begriffe sind die Barmherzigkeit und das Almosen. In der Begründung der Armenfürsorge unterscheidet C. soziale und theologische Argumente. Dabei sind häufig beide Begründungsebenen miteinander verbunden. Das Motiv der »Jenseitsvorsorge« (209) spielt eine besondere Rolle. Das anschließende Kapitel »Formen der Wohltä tigkeit« verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gelingt es C. einerseits, sehr präzise die Unterschiede zwischen dem ultramontanen und dem (spät-)aufklärerischen Lager aufzuzeigen. Während das (spät-)aufklärerische Lager sehr deutlich staatliche Maßnahmen unterstützt und befürwortet, zeigen sich die ultramontanen Prediger distanzierter und gestehen dem Staat eine gegenüber der Kirche lediglich subsidiäre Rolle ein. Andererseits zeigen sich aber auch Überschneidungen zwischen beiden Lagern. Auch in einzelnen spätaufklärerischen Verkündigungstexten wird die Arbeit der Frauenkongregationen positiv gelobt. Bemerkenswert ist zudem, dass das spätaufklärerische Lager die Relevanz des Almosens unterschiedlich sieht. Einige Prediger heben wie auf ultramontaner Seite die Relevanz von individueller Fürsorge gegenüber den staatlichen Maßnahmen sehr wohl hervor.
Die Präzision der Textanalyse besticht nicht nur in diesem Kapitel. C. hat nicht nur eine beeindruckende Anzahl an Quellen analysiert, auch ihre Quellenanalysen beeindrucken. Gut wäre es gewesen, wenn sie ihrer Analyse mehr vertraut und sie genutzt hätte, um den Blick auf die bereits in der Einleitung schablonenartig dargestellten Lager zu schärfen. Solche scharfen Unterscheidungen haben sicherlich ihren Sinn. Umgekehrt zeigen C.s Analysen auch, dass es sehr wohl Schnittmengen, Unschärfen und Übergänge gab, die zu untersuchen sehr reizvoll sein dürfte. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass, anders als dies C. akzentuiert, das ultramontane Lager im 19. Jh. mehrere Transformationen durchlief. Zudem wäre genauer zu fragen, ob man tatsächlich dem Sailer-Kreis dadurch gerecht wird, indem man ihn primär über seine Zwischenstellung zwischen den Spätaufklärern und den Ultramontanen definiert.
Wünschenswert wäre auch eine stärkere Verbindung zwischen dem Diskurs und den im zweiten Kapitel aufgezeigten Praxen der Armenfürsorge gewesen. Speziell in diesem Kapitel fällt auf, dass ausschließlich die ultramontane Zugangsweise geschildert wird, die praktischen Lösungsansätze der Sozialen Fragen der katholischen Spätaufklärer hingegen keine Erwähnung finden. Auch da­her gelingt es nur bedingt, der Überschrift im abschließenden Fazit »Der katholische Armuts- und Armenfürsorgediskurs als Teil einer Identitätskonstruktion« gerecht zu werden, denn die Ge­samtidentitäten der geschilderten Gruppen außerhalb der Armutsdiskurse in den untersuchten Verkündigungstexten bleiben blass.
Auch wenn die Studie damit das Potential ihrer Analysen nicht ausschöpft, ist die eingangs gemachte Bemerkung zu bekräftigen: C. hat einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Caritasgeschichte vorgelegt, der zudem auch viele Anregungen für weitere Studien gibt. So ist zu hoffen, dass Studien daran anknüpfen und den Blick auf die zweite Hälfte des 19. Jh.s lenken.