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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1164 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klappenecker, Gabriele

Titel/Untertitel:

Glaubensentwicklung und Lebensgeschichte. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik James W. Fowlers, zugleich ein Beitrag zur Rezeption von H. Richard Niebuhr, Lawrence Kohlberg und Erik H. Erikson. Mit einem Vorwort von W. Huber.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 300 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 36. Kart. DM 59,80. ISBN 3-17-015273-4.

Rezensent:

Anton Bucher

Wie kaum eine andere Theorie hat J. W. Fowlers Stufenmodell des Glaubens die praktisch-theologische Reflexion der letzten Jahre beeinflußt und inspiriert. Sie sensibilisierte nicht nur für die grundlegende Kategorie des Dynamisch-Lebensgeschichtlichen, woraus der Glaube nicht herausgerissen werden kann, um ein für alle Mal satzhaft und dingfest verobjektiviert zu werden, sondern auch für Eigenart - und Dignität - der verschiedenen Lebensphasen, wie sie in jeder religiösen Gemeinschaft miteinander vermengt sind. Gabriele Klappenecker stellte sich in ihrer Heidelberger Dissertation nicht nur die Aufgabe, das umfang- und facettenreiche Werk Fowlers zu paraphrasieren, sondern auch seine Vorläufer: Niebuhr, Kohlberg und Erikson, zur Darstellung zu bringen. Insbesondere aber lag ihr daran, "Fowlers Theorie hinsichtlich ihrer moralischen und ethischen Implikationen zu untersuchen" (19). Als notwendig erachtet sie dies, weil sich die Praktische Theologie - von Ausnahmen wie Don Browning abgesehen - der Frage nach ihrer eigenen ethischen Normativität zu wenig gestellt habe.

Die Studie setzt sich aus vier größeren Blöcken zusammen. Der erste, "Am Anfang einer Pilgerreise" betitelt, skizziert kenntnisreich den Forschungsstand zu Fowler und thematisiert das weitgehende Fehlen ethischer Grundlagenreflexion in der Praktischen Theologie. Ein wesentliches Ergebnis wird mit Hütters These der Gleichursprünglichkeit von Ethik und Dogmatik begründet und besteht darin, daß "der ethischen Grundlagenforschung in Fowlers Theorie nichts im Wege" steht (51).

Teil 2 ("Theologische, sozialpsychologische und strukturgenetische Grundlagen der Ethik Fowlers") paraphrasiert zunächst die theologische Ethik von Richard Niebuhr, über den Fowler promovierte. Ebenso beeinflußt hat ihn Kohlberg, der Schöpfer einer strukturgenetischen Moralpsychologie: "Ohne Lawrence Kohlberg hätte es Fowlers Theorie der ’faith’-Entwicklung nicht gegeben" (86). Daß Kohlberg konstitutiv berücksichtigt wurde, ist aufgrund seiner Fokussierung auf moralisch-ethische Entwicklung naheliegend; allerdings verfährt die Vfn. mit ihm besonders kritisch (s. u.). Wohlwollender erörtert sie jedoch den in der Pastoraltheologie wohlgelittenen Erikson, nicht nur, weil er zusätzlich zur Entwicklung über die Lebensspanne hinweg auch die Verantwortung des Menschen akzentuierte. Besonders gelungen sind in diesem Kapitel die biographischen Skizzen der drei Autoren.

Teil 3 ("Ethik im Horizont der Praktischen Theologie bei J. W. Fowler") bildet das Herzstück der Studie. Fowlers übergeordnete Methode sei, auch wenn von ihm nicht explizit so charakterisiert, eine pastoralpsychologische. Anschließend entfaltet sie Fowlers breites Konzept von "faith", aus dem heraus auch die Moral emergiere, sowie dessen Entwicklung über die sieben Stufen hinweg. Diese kulminiert in der Vision des Reiches Gottes, auf das ebenfalls breit eingegangen wird, insbesondere mit der berechtigten Kritik des Elitarismus, sprach doch Jesus in erster Linie den Kindern die basileia zu, die aber entwicklungsmäßig diese hohe Stufe noch nicht erreicht haben (176 f.). Sodann wird Fowler gewürdigt, eine Beziehungsethik vertreten und das Ästhetische, insbesondere die Imagination, als Quelle von innerer Normativität herausgearbeitet zu haben.

Teil 4 ("Moralentwicklung als Faith-Entwicklung. Verantwortungsethik im Horizont Praktischer Theologie") bündelt die Ergebnisse. Zunächst stellt die Vfn. Fowlers Konzept seinen Gewährsleuten Niebuhr, Kohlberg und Erikson gegenüber. Kohlberg kommt durchgehend schlecht weg; Fowler wird sogar geziehen, er hätte "potentielle Gefährdungen seiner Theorie durch die Kohlbergs benennen müssen" (247). Ein weiteres Ergebnis ist ein spekulatives Stufenmodell von Verantwortungsethik sowie "frappierende Parallelen" zwischen der Entwicklung derselben und dem Gottesdienst (Orgelvorspiel, Begrüßung etc.: Stufe 1 - Sendung und Segen: Stufe 7) sowie dem Kirchenjahr (Advent: Stufe 1 - Trinitatis-Zeit: Stufe 7). Als wesentliches Ergebnis wird ferner festgehalten, "das missing link" für eine Vermittlung von Praktischer Theologie und Ethik sei die "Lebensgeschichte" (264) - auf die freilich alles bezogen werden kann.

Insgesamt handelt es sich um eine kenntnis- und materialreiche, mitunter ein bißchen langatmig geschriebene praktisch-theologische Studie. Als solche steht sie in der unausweichlichen Spannung zwischen Theologie und Human- bzw. Sozialwissenschaft, die aber letztlich nicht komplementär ausgehalten, sondern zugunsten der Theologie aufgelöst wird. Sozialpsychologische Theoreme werden dann wohlwollend rezipiert, wenn sie theologischen Axiomen entsprechen, so Eriksons epigenetisches Prinzip der creatio ex nihilo (251). An Kohlberg wird kritisiert, seine "Vorstellung von einer Angemessenheitssteigerung moralischer Entwicklung" sei "theologisch fragwürdig" (260) - Kohlberg verstand sich aber als Psychologe und Philosoph. Ohnehin ist es ärgerlich, wieviele stereotype Klischees er einstecken muß, unter anderem die schon längst widerlegte Behauptung von Gilligan, in Kohlbergs Stufenhierarchie kämen die Frauen über die Stufe 3 nicht hinaus. Oder der Vorwurf des Solipsismus, obschon Kohlberg eine Moralpädagogik entwickelte, in deren Kern Interaktion und Diskurs stehen.

Wenn eine pastoraltheologische Studie psychologische Theorien primär theologisch evaluiert, muß sie mit der Gegenreaktion rechnen: Wie valide sind die Thesen der Vfn. in psychologischer Sicht, insbesondere ihre spekulativen Stufen der Verantwortungsethik sowie ihre psychologische Lesart von Gottesdienst und Kirchenjahr? Wäre es nicht aufschlußreicher, in Erfahrung zu bringen, wie Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen diese beiden zentralen Bereiche von Kirche erleben? Und wovon es abhängt, daß Gottesdienst und Kirchenjahr wirklich als Entwicklungshilfen erlebt werden? Dies läßt sich mit spekulativen Analogiebildungen nicht beantworten, sondern bedingt empirische Forschung, wie sie in der praktischen Theologie noch immer randständig ist.

Dennoch empfiehlt sich die Studie nicht nur als Einführung speziell in die Theorie Fowlers und seiner Gewährsleute, sondern auch, um für die Bedeutsamkeit von Lebensgeschichte und normativer Leitbilder in der praktisch-theologischen Arbeit (noch) sensibler zu werden.