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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

619–621

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Dean R.

Titel/Untertitel:

The Antiochene Crisis and Jubilee Theology in Daniel’s Seventy Sevens.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2015. 186 S. = Oudtestamentische Studiën, 66. Geb. EUR 97,00. ISBN 978-90-04-30046-0.

Rezensent:

Martin Rösel

Die anzuzeigende Arbeit von Dean R. Ulrich ist aus einer Dissertation zu Dan 9 hervorgegangen (North West University South Africa, Potchefstroom). Sie konzentriert sich auf Dan 9,24–27 und will auf die besondere Bedeutung der Jubiläen-Struktur hinweisen. Schon im ersten Satz der »Introduction« (1–13) wird die Zielrichtung deutlich: die historisch-kritische Beschäftigung mit dem Danielbuch habe die Frage nach der theologischen Bedeutung in den Hintergrund treten lassen. Daher treten bereits in der Einleitung historische Fragen zurück bzw. werden in seltsamer Unschärfe besprochen. So wird einerseits von einem »sixth-century setting« des Buches ausgegangen. Dabei werden die biblischen Angaben zu Daniel als historisch zuverlässig übernommen; Daniel, Gabriel und Gott selbst werden als handelnde Personen genau so dargestellt, wie es Dan 9 erzählt (4). Das hält sich durch das ganze Buch; später wird etwa argumentiert, der Gesalbte aus 9,26 müsse Davidide sein; Daniel (selbst) hätte an Jojakim gedacht (141).
Zugleich wird aber auch ein besonderes Interesse an der seleukidischen Zeit und der Herrschaft von Antiochus IV. konstatiert (daher die Rede von »Antiochene Crisis« im Buchtitel). Es bleibt aber offen, ob der Daniel-Verfasser (es ist immer nur vom »writer« im Singular die Rede) in dieser Epoche lebte oder ob das Buch nicht doch exilisch zu datieren ist, so dass es sich um eine Prophezeiung handeln würde. Jedenfalls wird das Buch als literarische Einheit begriffen.
Zu Beginn von Kapitel 2 »The Prayerful Context of the Seventy Sevens« (14–37) wird diese Spannung bewusst offen gelassen, wenn von der »narrative world« von Dan 9 die Rede ist, die »for some read­ers, the real world« sei (vgl. 74; ähnlich 21, am Ende eines Ab­schnitts, der die Einheitlichkeit des Jeremiabuches verteidigt, das Daniel im Exil kannte). Bei der Darstellung des Gebets aus Dan 9 wird dann aber deutlich, dass für den Vf. die Datierung ins 6. Jh. angemessener (27) ist. Das führt dann zu einer unscharfen Kontextualisierung von Anlass und Inhalt des Gebets.
Kapitel 3 »The Stated Purpose for the Seventy Sevens« (38–74) beschäftigt sich dann mit den sechs Zielen des göttlichen Heilshandelns, die nach 9,24 auf 70 Wochen = zehn Jubiläen folgen. Sie werden parallel ausgelegt, je zunächst im exilischen Kontext des Jeremiabuches oder anderer Schriften, dann im Kontext der Antiochus-Krise. Im Ergebnis wird deutlich, dass einige der Ziele aus Dan 9 durch die Makkabäer erreicht worden sind, andere erwarten aber noch ihre Vollendung. Dan 9 ist demnach nicht einfach als Vorhersage zu sehen, die im 2. Jh. eingelöst worden wäre, sondern als Typologie für das Heilshandeln Gottes in der Geschichte über den Tod des Antiochus hinaus.
In Dan 9,24–27 werden die 70 Jahre des Jeremia in 70 Jahrwochen aufgeteilt; zunächst sieben, dann 62, dann eine letzte. Diese Struktur wird in den Kapiteln 4–6 (75–131) nachvollzogen und ausgelegt. Im Ergebnis sollen die ersten sieben Jahrwochen auf die Zeit von Esra und Nehemia weisen; der Priester Esra sei dabei die erste der erwähnten Messias-Figuren. Die 62 weiteren Jahrwochen beziehen sich auf die Phase bis zur Seleukidenzeit, die letzte Jahrwoche weise auf Antiochus IV. Diese Aufteilung in zehn Jubiläen belege, dass Gott die Herrschaft über die Welt ausübt und dass alle Gläubigen auf sein Erlösungswirken hoffen können.
In Kapitel 7 »The Seventy Sevens and the Rest of the Book« (132–151) werden dann die anderen Teile des Danielbuches in den Blick genommen. Dies geschieht durch das aramäische Leitwort raz »Geheimnis«, das allerdings nur in Kapitel 2 und 4 begegnet. Um das Leitwort dennoch zu finden, wird zu Dan 1 argumentiert, das im Buch verhandelte Geheimnis bestehe in der offenen Frage, wie sich Gottes Königsherrschaft in der Welt realisiere, und diese Fragestellung werde in Kapitel 1 eingeführt – eine Auslegung, die m. E. vollständig am Erzählinteresse dieser Bucheinführung vorbeigeht. Entsprechend wird der aus dem Feuerofen rettende Engel in Dan 3 als »Geheimnis« gesehen, ebenso die Schrift in Dan 5; beide seien Zeichen der jenseitigen Realität, die den irdischen Königen verschlossen bleibt (142). Die Visionen in Dan 2 und 7 themati-sieren demgegenüber das geheimnisvolle Kommen des Reiches Gottes direkt, ihr Geltungszeitraum ist nicht auf eine historische Epoche (hellenistisch oder römisch) begrenzt, sondern reicht über unsere Gegenwart hinaus bis zum Eschaton (141). Auch das kleine Horn aus Dan 8 könne zwar den historischen Antiochus IV. ge­meint haben, es verweise jedoch auf die größere »spiritual reality« der Kräfte der Finsternis, die gegen Gott wirksam sind (144 f.). In der gleichen Weise wird dann auch die Geschichtsschau in Dan 10–12 mit dem eschatologischen Ausblick interpretiert.
Kapitel 8 (152–156) fasst prononciert zusammen, dass Gabriels Verheißung der Jubiläen-Struktur der 70 Jahrwochen und die Benennung von sechs Zielen, die Gott am Ende der Tage umsetzen werde (Dan 9,24), als Mitte des Buches zu verstehen sei. Die Krise um Antiochus IV. gelte dabei nur als eine Durchgangsstation in­nerhalb der von Gott gewirkten Geschichte, die typologisch der Bedrängung zu Daniels Lebzeiten unter Nebukadnezzar entspreche. Danach wird kurz der Blick auf die Septuaginta und an­dere Rezeptionsstufen des Danielbuches geweitet, denen zu entnehmen ist, dass auch die ersten Rezipienten die Antiochus-Krise nicht als eigentliches Ziel des Danielbuches verstanden haben, sondern die Erfüllung der Verheißung aus Dan 9 erst noch erwarteten.
Der Vf. geht auf interessante Weise mit der historisch-kritischen Sekundärliteratur um, indem er häufig auf aktuelle Kommentare etc. verweist, meist jedoch nur einzelne Formulierungen oder De­tailprobleme aufgreift, ohne jedoch die historisch-kritische Grund­ausrichtung der Arbeiten aufzunehmen. So wird der An­schein er­zeugt, das Buch sei Teil des aktuellen Fachdiskurses, tatsächlich entzieht es sich ihm. Daher ist es faktisch auch nicht schlimm, dass der Vf. keine deutschsprachige Literatur verwendet hat; ihre Argumente wären wohl ohnehin nicht gehört worden. Im Ergebnis trägt das Buch m. E. wenig zur Exegese des Danielbuches ein, vermittelt aber einen interessanten Einblick in evangelikale Auslegungspraxis.