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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

617–619

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Teeter, David Andrew

Titel/Untertitel:

Scribal Laws. Exegetical Variation in the Textual Transmission of Biblical Law in the Late Second Temple Period.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVI, 359 S. = Forschun-gen zum Alten Testament, 92. Lw. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-153249-8.

Rezensent:

Eckart Otto

David Andrew Teeter, Associate Professor of Hebrew Bible/Old Testament an der Harvard Divinity School, legt mit dieser Studie einen wichtigen Beitrag zur Hermeneutik spätnachexilischer Schriftgelehrsamkeit zur Abfassung von Handschriften der He­bräischen Bibel vor, die beansprucht, erhebliche Auswirkung auf die gegenwärtige Praxis der Textkritik der Hebräischen Bibel mit dem Nachweis zu haben, dass die jüdischen Schriftgelehrten Texte nicht nur mechanisch kopierten, sondern bei der Abschrift mit einer ausgeklügelten Hermeneutik versehen gleichzeitig auch interpretierten. Wie bereits Abraham Geiger (Urschrift und Übersetzung der Bibel, 1857) erkannte, sind die Textvarianten der hebräischen Handschriften nicht allein auf Abschreibfehler, die in dieser Studie auch nicht das Thema sind, zurückzuführen, sondern sind Ausdruck eines Interpretationsprozesses, der auf historische Veränderungen und sprachgeschichtliche Trends als Texthintergrund reagierte.
Julius Wellhausen wollte dagegen Textvarianten als Reaktionen der Schreiber auf Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten in ihren Textvorlagen verstehen. Der Vf. verbindet beide Aspekte der Textproduktion und Textrezeption miteinander, wenn er nach den hermeneutischen Vorgaben für die Schreiber der Handschriften wie ihrer Leser und Lesergemeinschaften fragt.
Im Hauptteil des Buches beschreibt der Vf. unter der Überschrift »Moderate Expansions« paradigmatisch die Intentionen von Textergänzungen in Ex 22,4; 23,19 und Lev 17,3–4, was noch durch eine Liste kleinerer Textabweichungen ergänzt wird. Der Leser findet hier eine Fundgrube von textkritisch auszuwertendem Material, das allein schon den Wert der Studie ausmacht, auch wenn der Vf. mehrfach angesichts der ausgebreiteten Fülle den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, um Entscheidungen zu treffen. Im Ergebnis hält er als Grundkategorien der schriftgelehrten Textinterpretation Verfahren der Erweiterung, Ersetzung und Auslassung im Text fest, die die Funktionen von Textharmonisierung, Einsetzung von Euphe mismen, der theologischen Korrektur, der Textvereinheitlichung (»homogenization«), der Herstellung intertextueller Anspielungen und Querverweise sowie der sprachgeschichtlichen und historischen Aktualisierung haben. Der Vf. erwägt, dass es sich dabei um einen Set von hermeneutischen Regeln der schriftgelehrten Textinterpretation im Zuge des Abschreibens von Texten handelt. Dabei ist von Interesse, dass, worauf L. Maskow in der Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte (ZAR) 21 [2015], 337 hingewiesen hat, die klassische Rhetorik eines Quintilianus mit adiectio, detractio, transmutatio und immutatio ähnliche Bearbeitungsformen entwickelt hat, was anzeigt, dass die Parallelen zwischen jüdischer Texthermeneutik um die Zeitenwende und der klassischen Rhetorik in römischer Zeit gründlicher Untersuchung bedürfen.
Durch die Qumran-Handschriften sind Antworten auf Fragen nach der Hermeneutik der jüdischen Handschriftenproduktion erheblich komplizierter als zu Zeiten von Abraham Geiger und Julius Wellhausen geworden. Andererseits hat sich auch die Chance verbessert, den hermeneutischen Voraussetzungen bei den Schreibern und ihren Lesern auf die Spur zu kommen. Es zeigt sich doch in Qumran besonders deutlich das Nebeneinander von strikt konservativer Praxis, Handschriften zu kopieren, und der nach den genannten Regeln die Vorlage interpretierenden abzuschreiben, was das interpretierende Kopieren von Texten zu einem Teil der Geschichte der Textrezeption und -auslegung macht, so dass in moderner Auslegungspraxis die Grenzen zwischen Textkritik und Redaktionsgeschichte durchlässig werden. Das Nebeneinander von strikt-konservativem und davon abweichendem, hermeneutisch-interpretierendem Handschriftentypus ist nach Meinung des Vf.s möglich, da alle Handschriften an einer »Hermeneutik der Analogie« Anteil hatten, die aufgrund von Ähnlichkeiten Buchstaben, Worte und Sätze innerhalb eines Textes oder zwischen Texten austauschbar machten, so dass auch bei Abweichungen der Lesarten Texte nicht als widersprüchlich verstanden werden mussten. Das galt für Gesetzestexte gleichermaßen wie für narrative und poetische Texte, so dass es keinen Unterschied zwischen »halachischen« und »aggadischen« Texten gab. Das Nebeneinander der zwei Typen strikt-konservativer und interpretierender Handschriften lässt nach ihrem Verhältnis zueinander fragen. Beide Texttypen seien für eine schriftgelehrte Leserschaft abgeschrieben worden, so dass eine Qualifizierung der interpretierenden Handschriften, zu de­nen nach Meinung des Vf.s auch die protomasoretischen Texte sowie die der hebräischen Vorlage der Septuaginta gehören, als Populär- oder Vulgärtexte ebenso wenig trifft, wie als Sektentexte. Vielmehr sei von einem funktionalen Polysystem der Ergänzung beider Typen auszugehen, wie das Nebeneinander beider Texttypen in Qumran zeige. Auch seien die Texte nicht durch eine Auto ritätsdifferenz etwa derart unterschieden, dass der interpretie-rende Text hinter der Textautorität des strikt-konservativen Typs zurückstehe. Damit hat der Vf. als seinen Hauptkontrahenten Em­manuel Tov ausgemacht, für den der protomasoretische Text als Master-Text auf Priesterkreise am Jerusalemer Tempel zurückging und weitgehend mit dem textus receptus identisch von höchster Autorität war.
Das vom Vf. zugrunde gelegte Modell des polymorphen Nebeneinanders der zwei Typen von Handschriften lässt allerdings Fragen offen. Der Vf. weiß beredt über die Hermeneutik der Funktionen des Typus der interpretierenden Handschriften zu berichten, doch sucht man vergeblich nach den Funktionen der strikt-konservativen Texte in Relation zu den interpretierenden Texten in diesem polyfunktionalen System, wohl weil der Vf. der Meinung war, dass er sich dann wieder zu sehr Emmanuel Tov nähern müsste. Daher sei die Frage erlaubt, welchen Handschriftentypus die Schreiber der interpretierenden Texte zugrunde legten: Sie kopierten, wie die Qumran-Handschriften zeigen, nicht interpretierende Texte, stapelten also nicht Interpretation des Textes auf vorangegangene Interpretationen im Text, was in der Abfolge einer Viel zahl von Handschriften zu recht kruden Ergebnissen führen müsste, sondern orientierten sich jeweils als Vorlage an Texten des strikt-konservativen Typs als Ausgangspunkt ihrer Interpretation. Zur Wahrnehmung der Funktion eines Master-Textes wurde auch dieser strikt-konservative Texttypus immer wieder abgeschrieben. Das aber heißt in der Konsequenz, dass der strikte Texttypus zwar nicht gegenüber dem je einzelnen Text des interpretierenden Ty­pus eine höhere Autorität hat, wohl aber in der Dialektik beider Texttypen insgesamt als jeweiliger Ausgangspunkt und insofern als Master-Text von besonderer, durch die Funktion bedingter Autorität war. Damit aber bleibt der modernen Textkritik nach wie vor die Aufgabe gestellt, bei Abweichungen innerhalb von Handschriften des interpretierenden Typus wie des protomasoretischen Textes und der Septuaginta nach dem ursprünglicheren Text als näher an der Vorlage des strikt-konservativen Texttypus zu fragen.
Die Studie des Vf.s hat allerdings ein Recht darin, dass die Textvarianten bereits als Teil der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte des Textes zu begreifen sind. Wenn der Vf. von einem »mindset of supplementation« und »a notion of complementary« in der Ar­beitsweise der jüdischen Schriftgelehrten der nachexilischen Zeit spricht, so lässt das angesichts der Durchlässigkeit der Grenzen von Text- und Redaktionsgeschichte vorsichtig sein mit Thesen, widersprüchlich erscheinende Rechtssätze und Rechtskorpora der Tora seien durch ihre Fortschreibung abrogiert, aus dem Verkehr gezogen und also »recycled« worden. Sie konnten nach dem Verständnis der nachexilischen jüdischen Schriftgelehrten wie noch jetzt im Pentateuch komplementär nebeneinander stehen, wie auch die unterschiedlichen Lesarten der Handschriften.