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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

613–615

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hermisson, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Deuterojesaja (Jes 49,14–55,13).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 788 S. = Biblischer Kommentar Altes Testament, 11/3. Geb. EUR 190,00. ISBN 978-3-7887-3042-0.

Rezensent:

Ulrich Berges

Mit diesem dritten Kommentarband zu Deuterojesaja kommt fast ein halbes Jahrhundert der Auslegung an ihr Ende. Nachdem Karl Elliger ab 1970 bis zu seinem Tod am 31.10.1977 an der Kommentierung von Jes 40,1–45,7 gearbeitet hatte, übernahm Hans-Jürgen Hermisson das so verheißungsvoll begonnene Unternehmen. Nach zehn Jahren erschienen die ersten weiteren Faszikel, so dass der zweite Band zu 45,8–49,13 im Jahre 2003 vorlag. Im Vorwort jenes Bandes hatte der Vf. seiner Zuversicht Ausdruck verliehen, auf den noch fehlenden letzten Teil brauche die Leserschaft nicht mehr so lange zu warten. Der Rezensent ist gewiss: Das Warten hat sich gelohnt! Der erste Satz im Vorwort lautet: »Dreißig Jahre reichen nicht aus, Deuterojesaja zu verstehen« (VII). Das ist sehr wahr, wie auch die anschließende Bemerkung, die immer schwieriger wer-dende Beurteilung der Wachstumsprozesse erfordere einen Schritt zurück.
Die Rezension wird sich besonders auf die Seiten konzentrieren, die zuvor noch nicht als Faszikel erschienen sind (561–788), aber auf die früheren zurückgreifen, wenn es sich als geboten erweist. Dies ist bereits für das Ende von 54,17 der Fall, wo das Erbe der »Knechte JHWHs« darin besteht, dass ihre Gerechtigkeit von Gott kommt. H. lässt nicht unbemerkt, dass hier erstmalig der Plural »Knechte« steht (559). Die Besonderheit ergibt sich aber auch daraus, dass danach nur noch von den Knechten (56,6; 63,17; 65,8 f.13 ff.; 66,14) und niemals mehr vom Knecht die Rede ist. Was liegt dann näher, als in den Knechten die Nachkommenschaft des Knechts aus Jes 53 zu erkennen, wie dies u. a. Koole, Beuken, Blenkinsopp, Berges vorgeschlagen haben? Dies gilt umso mehr, als H. den Bezug von 54,17 auf das dritte Gottesknechtslied explizit unterstützt (560). Doch hält H. einen Konnex zu Jes 53,11 über das Stichwort »Gerechtigkeit« nur dann für relevant, »wenn die Texte vom gleichen Autor stammten und original zusammengehören« (561). Das würde aber den methodologischen Vorrang der diachronen vor der synchronen Analyse bedeuten. Wenn benachbarte Texte die gleichen Lexeme aufweisen, die sonst im Umfeld nur noch selten oder gar nicht mehr vorkommen, so ist das für die synchrone Auslegung relevant und muss danach diachron aufgearbeitet werden. Solche Bezüge werden nicht erst »nachträglich« in einem »Textkonvolut« entdeckt (561), sondern sind das Ergebnis einer aufmerksamen Lektüre, die allen synchronen und diachronen Sinnkonstruktionen gleichermaßen vorausliegt.
In den Ausführungen zu Jes 55 geht H. davon aus, dass hier der Abschluss des Jesajabuches vorliege, wobei die Bezüge zu Jes 40,1–11 eine große Klammer bilden, die aber nicht auf die gleichen Verfasser zurückgehen. Die Ansicht von Höffken, die Stichwortverbindungen zu Jes 56 könnten auf einen weicheren Übergang hindeuten, wird in einer Anmerkung referiert (580, Anm. 8). Die Verbindungen zwischen 55,13 und 56,5, sowie zwischen 55,12 und 56,3 werden für unbedeutend gehalten, »weil diese Wiederkehr von Stichwörtern nicht sinntragend ist, also auch für das Jesajabuch in der Endgestalt keine bedeutsame Funktion hat und für das Deuterojesajabuch gar nichts besagt« (635). Die beiden niederländischen Jesaja-Spezialisten Koole und Beuken, die H. im Vorwort lobend hervorhebt, haben das ganz anders gesehen, so wie viele moderne Ausleger nach ihnen. Während H. die beiden Auszugsverse 55,12–13 zunächst dem Grundbestand zuweist (V. 1–5.8–13), der noch vor dem Auszug aus Babylon verfasst worden sei (590), zieht er danach auch eine Zeit nach der Rückkehr ins Kalkül (653).
Am Ende der großen Kommentierung steht eine ausführliche Zusammenfassung (657–760), die von Register, Literaturverzeichnis, Corrigenda abgeschlossen wird (763–788). Die Überschrift des ersten Teils der Zusammenfassung »Deuterojesaja. Der Prophet und das Buch« ist wegweisend (vgl. Berges, »Jesaja. Der Prophet und das Buch« 2000, 22014). Hinter den Kapiteln, die auch auf mehrere Autoren zurückgehen können, steht an der Basis ein einzelner exilischer Prophet (663). Damit hat H. den Ansatz seines Vorgängers Karl Elliger konsequent fortgesetzt. Die These von levitischen Trägerkreisen (u. a. Werlitz, Berges) steht, anders als H. meint (662), der prophetischen Autorschaft nicht entgegen, sondern versucht, die anonymen Verfasser literatur- und theologiegeschichtlich zu verorten. Dem ist H. auch nicht gänzlich abgeneigt, wenn er die Psalmensprache und die kultischen Formen u. a. des Heilsorakels als möglichen Rahmen für die Verkündigung Deuterojesajas ansieht und daraus vorsichtig folgert: »Vielleicht ist seine Anonymität mit dieser Herkunft zu erklären: Auch die Psalmendichter bleiben ja in der Regel anonym, man erfährt allenfalls ihre Zugehörigkeit zu einer Sängergilde« (665). Der zweite Teil der Zusammenfassung trägt den Titel »Das Buch und der Prophet: Schichten der literarischen Überlieferung« (682–739). Die Grundüberlegungen H.s, die er auf dem Colloquium Biblicum Lovaniense 1987 vertrat (BETL 81, 1989), gelten grosso modo auch für den vorgelegten Kommentar. Die wichtigste Änderung betrifft die Kapitel 54–55, die jetzt gänzlich dem exilischen Deuterojesaja abgesprochen werden. Damit sind auch einige Ausführungen zu diesen Kapiteln in den vorherigen Faszikeln zu korrigieren (683, Anm. 84). Solche Modifikationen sind nicht nur unvermeidlich, sondern ehren den Exegeten und seine Wissenschaft vom Alten Testament, die offen bleiben müssen für derartige Erkenntnisfortschritte.
Konsequent verteidigt H. eine deuterojesajanische Grundschrift in Jes 40–52* und nicht nur in 40–48* oder in einem noch engeren Rahmen. Der Wechsel von »Jakob/Israel« zu »Zion/Jerusalem« ab Jes 49 sei kein Grund, einen nachexilischen Standpunkt anzunehmen, denn der Auszugsbefehl am Ende von Jes 48 verlange geradezu nach einer Zielperspektive, die nur in der judäischen Heimat liegen könne (683 ff.). Mit einiger Vehemenz richtet sich H. gegen die in der Forschung breit belegte Tendenz, den sogenannten Prolog von 40,1–11 als geschichteten Text zu verstehen, weil sich in ihm die unterschiedlichen Redaktionsstufen von Jes 40–55 gleichsam eingelagert hätten. H. erkennt nur V. 7b als Ergänzung an: »Das ist der einzige Zusatz« (687). Dass Deuterojesaja als Fortschreibung Protojesajas zu verstehen sei (so u. a. Clements), lehnt H. mit guten Gründen ab. Gemeinsame Elemente wie der Gottestitel »der Heilige Israels« oder die Zionsthematik würden sich viel e infacher aus breiter gestreuten Traditionen herleiten lassen. Dabei beruft sich H. nun selbst auf die Sängerthese: Der häufige Bezug auf Zion sei für den Jerusalemer Jesaja nicht ungewöhnlich, »ebensowenig bei einem Propheten, der in der Tradition der Tempelsänger zu Hause ist« (697; vgl. 731). Die Bezüge von Jes 40,1–11 auf Jes 6 seien auch nicht derart exklusiv, dass man von einer direkten Fortschreibung sprechen könnte (u. a. gegen Albertz). Wie literarische Fortschreibungen tatsächlich aussehen, könne man in den tritojesajanischen Kapiteln bestens beobachten, z. B. in der dortigen Aufnahme von Elementen der Gottesknechtslieder (702). Die Antwort auf die Frage, warum es überhaupt zu einem Anschluss des Deuterojesajabuches an Protojesaja gekommen ist, sei letztlich noch unbeantwortet. Doch läge es auf der Hand, dass die Unheilsbotschaft Jesajas durch die neue Heilsinitiative Gottes für sein Volk auf eine Fortsetzung offen gewesen sei (702 f.). Hilfreich sind die klaren Ausführungen zu den einzelnen Schichtungen, wie der Grundschrift ohne die Gottesknechtslieder. Sie seien erst von der Naherwartungsschicht eingearbeitet worden. Überhaupt komme dieser Schicht für die Neuausgabe des Deuterojesajabuches die entscheidende Rolle zu (729). Die Bilderschicht habe kompositorisch das Gesamtbild nicht mehr beeinflussen können. Übrig bleiben Verse und Versteile, die H. keiner der Schichten zuweisen kann (»Restliche Texte«, 734 ff.).
Ein übersichtliches Schema fasst diese Überlegungen bestens zusammen (738 f.). Den Abschluss dieses großen Kommentars bilden theologische Beobachtungen zur Grund-, Ergänzungs- und Bilderschicht (740–760). Wer sich erstmalig oder nach längerer Abstinenz wieder der Auslegung deuterojesajanischer Texte zu­wendet, sollte diese Seiten unbedingt zu­erst lesen. In aller Klarheit stellt H. auf S. 782 die inhaltlichen Modifikationen gegenüber den früheren Ausführungen zusammen. Schon deshalb ist ein Blick hierauf vor dem Beginn der Lektüre an­gesagt, gerade wenn es sich um solche Leser handelt, die das Werk nicht über die Faszikel haben anwachsen sehen.
Mit diesem Band hat H. seinem exegetischen Lebenswerk die Krone aufgesetzt. Weder durch Lob wird diese Leistung gemehrt, noch durch Kritik geschmälert.