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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

611–613

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter

Titel/Untertitel:

Samuel. Teilbd. 2: 1Sam 13–26.

Verlag:

Göttingen (Neukirchen-Vluyn): Neukirchener Theologie (Vandenhoeck & Ruprecht) 2015. 865 S. = Biblischer Kommentar Altes Testament, VIII/2. Geb. EUR 209,00. ISBN 978-3-7887-2920-2.

Rezensent:

Georg Hentschel

Nachdem der erste Band des Kommentars zu Samuel 2011 erschienen ist, hat Walter Dietrich den zweiten Band vorgelegt, der mit den Kapiteln 1Sam 13–26 eine »Kapazitätsgrenze« (VII) erreicht hat. D. gliedert die Erzählung in 1Sam 13–26 in vier größere Ab­schnitte und widmet ihnen jeweils eine eigene Einleitung: Sauls Königsherrschaft (1Sam 13–15), Davids Erscheinen bei Hofe (1Sam 16–18), David auf der Flucht (1Sam 19–23) sowie David und die Gewalt (1Sam 24–26). Da mit 1Sam 16 der große zweite Teil des Erzählwerkes über die frühe Königszeit beginnt, der bis 2Sam 5 reicht, erläutert D., wie er sich die Entstehung dieser Kapitel vorstellt (190–200).
In einer Zeit, in der gerade die revidierte Lutherübersetzung und ihr katholisches Pendant erschienen sind, wird bereits die Übersetzung in diesem Kommentar Interesse wecken. Sie zeigt in aller Ehrlichkeit, dass wir den ursprünglichen Text bisweilen nicht mehr kennen (13,1: »… Jahr alt war Saul, als er König wurde«). Dass die Septuaginta die bessere Vorlage repräsentieren kann, wird an zahlreichen Stellen deutlich. In 1Sam 17 erweist sich aber der längere masoretische Text eindeutig als der ursprünglichere. Mitunter ist aber der gesamte Passus »schleierhaft«, so dass nur die bisherigen Lösungsversuche präsentiert werden können (577 f.).
D. übernimmt die Gliederung des Biblischen Kommentars, füllt aber zumindest »Form« und »Ort« »etwas eigenwillig« (VIII). Die »Form« entspricht der sogenannten synchronen Analyse. »Dazu gehören linguistische, strukturalistische, narratologische, im weitesten Sinn literaturästhetische Wahrnehmungen am Text.« Es mag Skepsis wecken, wenn D. immer wieder chiastische oder konzentrische Strukturen entdeckt. Aber auf diese Weise lässt sich oft das Zentrum bzw. der Wendepunkt der Erzählung besser erkennen. In 1Sam 25 ist es z. B. Abigajils Rede (V. 23–31). Bezüglich der Charaktere hütet sich D. vor jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei. Saul ist auch in der letzten Erzählung (1Sam 26) keine »bloß negative Figur«. »Er kann seine Verfehlung einsehen und eingestehen, er kann den Rivalen zur Rückkehr einladen.« (836) D. wehrt sich gegen die in Mode gekommene Verunglimpfung biblischer Gestalten. »Moralische Urteile in der Exegese haben oft etwas Bedrückendes.« (174) D. weiß außerdem, dass hebräische Erzählungen Raum dafür lassen, sie unterschiedlich zu verstehen (829).
Unter »Ort« behandelt D. die sogenannte diachrone Analyse. D. zeigt klar, wie sich die beiden Perspektiven – Synchronie und Diachronie – ergänzen. Dabei geht D. nicht immer nur von »groben« Kriterien – Wiederholung und Widerspruch – aus, sondern auch von den »feineren«: »Wo und wie wird die Einzelerzählung mit dem engeren und weiteren Kontext verwoben, wo weitet sich der geistige und theologische Horizont erkennbar über den der frühen Königszeit hinaus aus?« (755) Dadurch ist er sehr zuversichtlich, die Entstehung eines großen Erzählwerkes erfassen zu können. Er hat sich längst von der Hypothese einer Aufstiegsgeschichte Davids verabschiedet, denn ihr »Anfang und ihr Ende lassen sich kaum mit Sicherheit bestimmen.« (193) Es gibt aber »einen durchgehenden Plan […], nach dem die Geschichte der ersten Könige gestaltet worden ist – und aller Wahrscheinlichkeit nach auch einen Autor, der sie so gestaltet hat.« (195) Da echte Anzeichen einer deuteronomis­tischen Redaktion weitgehend fehlen, plädiert D. für einen höfischen Erzähler, der etwa im 7. Jh. v. Chr. das umfangreiche Werk ge­schaffen hat, das von 1Sam 1 mindestens bis 1Kön 2 reicht. Im Bereich von 1Sam 13–26 hat sich dieser Erzähler auf zwei ältere Werke stützen können: einen Erzählkranz über Aufstieg und Niedergang der Sauliden und einen weiteren über David als Freibeuter. D. wehrt sich in jedem Fall dagegen, Erzählungen aus den Samuelbüchern erst in der persischen Ära anzusetzen, und weist auf die völlig andere Sprache der Chronik hin (816, Anm. 41).
Das theologische Verständnis ist herausgefordert, wenn ein »schlimmer Geist […] von Jhwh her« Saul überfällt. Die Erzähler versuchen, »ihren Glauben an ihren, den einen Gott Israels zusammenzubringen mit vielfältigen schmerzlichen bis traumatischen Erfahrungen.« (276) D. achtet auch darauf, dass Saul das Orakel befragt und eine Auskunft erhält, die ihm aber die freie Entscheidung nicht nimmt (23,10–13). »Der Lauf irdischen Geschehens ist bei Gott nicht unabänderlich festgeschrieben; der Mensch steht nicht unter einem unentrinnbaren Fatum.« (687)
D. ist zuversichtlich, dass er die Frage nach dem historischen Geschehen nicht nur stellen, sondern auch beantworten kann. So ließ sich z. B. »gar nicht leugnen, dass David eine Zeitlang Vasall der Philister, genauer: Achischs von Gat, war« (597). Man kann natürlich fragen, ob David wirklich einen so wechselvollen Weg gegangen ist: Musiktherapeut am Hof Sauls, Heirat mit Michal, Flucht, Bandenführer, Wechsel zu den Philistern, Stadtkönig von Ziklag und schließlich König von Juda. »Das ist keine geradlinige Karriere, gewiss nicht – historisch unmöglich ist sie nicht.« Dieser Lebenslauf »besitzt einen nicht geringen Grad an historischer Plausibilität.« (470)
In diesem Kommentar ist auch genügend Raum, um auf die jüdische Auslegung wie auf die Interpretation der Kirchenväter einzugehen. Ein hilfreiches Register lässt schnell erkennen, auf welchen Seiten Einblicke in die Positionen von Josephus Flavius, Augustinus oder Raschi angeboten werden. Zahlreiche Illustrationen ergänzen die Rezeptionsgeschichte.
Da der Kommentar oft auf Kontroversen hinweist, können sich die Leser auch ein eigenes Urteil bilden, das vom Autor abweicht. D. entscheidet sich, Sauls Verwerfung in 1Sam 15 für »gerechtfertigt« zu halten, denn »1 Sam 15 ist eine Geschichte über erwarteten und nicht erbrachten Gehorsam« (184). Er schließt sich der Interpretation an, wonach Amalek »nicht eine Nation von vielen« sei, sondern »der Inbegriff einer durch nichts verursachten, vollkommen willkürlichen, erbarmungslos grausamen, auf die Vernichtung des Geg­ners, nein: Israels, zielenden Gewalt.« (183) Müssen deshalb aber auch »Kinder und Säuglinge« sterben (15,3)? Warum darf David nach seinem Sieg über die Amalekiter (30,17–19) die Beute nach Gutdünken verteilen (V. 21–31), während Saul keinerlei Freiheit eingeräumt wird? Genügt es, zu sagen, dass David in Gottes Augen »besser« sei als Saul (185)? Hängt das unterschiedliche Urteil über Saul und David nicht entscheidend davon ab, dass Saul auf dem Schlachtfeld gefallen ist, während David Sauls Reich übernehmen konnte? Saul und David werden auch an anderer Stelle mit zweierlei Maß gemessen. Saul wird es als ein schlimmes Vergehen angerechnet, dass er in höchster Not selbst ein Opfer darbrachte (1Sam 13,7b–15a). David durfte dagegen bei der Überführung der Lade jeweils nach sechs Schritten einen Stier und ein Mastkalb opfern (2Sam 6,13). D. möchte den Grund für die Anklage gegen Saul (13,13) nicht »in einer grundsätzlichen Ablehnung des Laienopfers« sehen (44). Ähnelt aber das Urteil Samuels nicht doch der späteren Verwerfung eines Opfers durch den amtierenden König (2Chr 26,18)?
Solche Einwände lassen sich aber m. E. nur selten erheben. D. kann sich bei seinem Kommentar nicht nur auf Jahrzehnte eigener Forschung stützen, er hat die Auslegung der Samuelbücher auch durch eine Reihe von Tagungen angeregt. Der vorliegende Kommentar bietet daher auch einen vorzüglichen Überblick über die unterschiedlichen Forschungsansätze. Das alles wird in einer klaren und lebendigen Sprache dargeboten, für die die Leser dankbar sein werden.