Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

607–609

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Weikert, Christopher

Titel/Untertitel:

Von Jerusalem zu Aelia Capitolina. Die römische Politik gegenüber den Juden von Vespasian bis Hadrian.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 425 S. m. 1 Kt. = Hypomnemata, 200. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-20869-4.

Rezensent:

Benedikt Eckhardt

Die althistorische, für den Druck leicht überarbeitete Dissertation von Christopher Weikert stellt die erste fokussierte Monographie zur römischen Politik gegenüber den Juden zwischen der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. und dem Ende des Bar Kokhba-Aufstandes 136 n. Chr. dar; sie erschließt damit detailliert einen Zeitraum, den allgemeinere Darstellungen auch aufgrund der zahlreichen chronologischen Probleme gelegentlich vernachlässigen.
Der erste von drei Hauptteilen untersucht die Rolle der Juden in Ideologie und Politik der flavischen Dynastie. Eine recht ausführliche Einführung in die Geschichte des Vierkaiserjahres und die Legitimationsbedürftigkeit Vespasians bereitet den Boden für die Bewertung des Triumphes über die Juden als eines zentralen Bausteins flavischer Herrschaftsrepräsentation (35–67). Die »Verstetigung des Triumphs« (68–82) wurde bereits von Vespasian durch die Errichtung eines Triumphbogens und des Templum Pacis sowie die Prägung von Münzen mit Iudaea capta/devicta/recepta-Legenden angestrebt; sie erwies die neuen Herrscher als Garanten von Sicherheit und Frieden und lenkte zugleich von den blutigen Auseinandersetzungen des Bürgerkriegs ab. Erst Domitian wandte sich nach dem Germanienfeldzug 83 n. Chr. anderen Themen zu. Vor dem Hintergrund dieser herausgehobenen Rolle der Juden in der kaiserlichen Herrschaftsrepräsentation diskutiert W. Aspekte der flavischen Politik gegenüber den Juden. Mit der großen Mehrheit der Forschung sieht er Titus als Verantwortlichen für die Tempelzerstörung an und schließt einen Fortbestand der Opfer nach 70 je­denfalls für Jerusalem aus (83–97). Nicht bestätigen lassen sich Vermutungen zum Verbleib des gesamten eroberten Landes in kai-serlichem Besitz (103–109) und zum Aufbau einer neuen jüdischen Selbstverwaltung (Patriarchen) durch Rom; die Flavier haben im Gegenteil auf offizielle Mittlerpositionen verzichtet (109–116). Privilegien für Juden in der Diaspora wurden aufrechterhalten; es be­stand weiterhin Rechtssicherheit, und auch die vermuteten Verfolgungen Domitians sind nicht beweisbar (117–124). In sorgfältiger Ab­wägung entzieht W. so Vermutungen über einen »flavischen Ju­denhass« die Grundlage: Die flavische Politik war pragmatischer Natur. Auch die Einführung der Judensteuer war eine zweifellos repressive, jedoch primär finanzpolitische und auch nicht analogielose Vorgehensweise, insofern eine bestehende Steuer übernommen, ihre Bemessungsgrundlage allerdings verbreitert wurde (124–136). Jüdische Eliten in Rom gerieten wegen ihres Ju­dentums nicht in Gefahr (141–154), und auch das Bild der Juden in der Literatur ändert sich durch die flavische Erinnerungspolitik nicht, sondern hält an alten Stereotypen fest (155–159). Dass Rom in der jüdischen Apokalyptik zum Feindbild wurde (160–166), erklärt sich somit nach W. zwar plausibel aus den Ereignissen selbst, nicht aber aus einer generell judenfeindlichen Politik der flavischen Kaiser.
Der deutlich kürzere zweite Hauptteil (167–212) widmet sich Nerva und Trajan, wobei für Nerva keine Maßnahmen zum rö­misch-jüdischen Verhältnis namhaft zu machen sind: Die Reform der Judensteuer und das Verbot der Anklage wegen jüdischen Lebens richteten sich nicht an Juden, sondern an zu Unrecht be­langte römische Bürger (167–173). Auch für Trajan ist die Beleglage dünn; W. kann aber immerhin die Acta Alexandrinorum als Hinweis auf einen tatsächlichen, von der trajanischen Administration im Sinne der Juden entschiedenen Konflikt in Alexandria plausibel machen (180–184). Den Diasporaaufstand 116/17 n. Chr. stellt W. ganz in den Kontext des Partherfeldzugs und des durch Truppenabzüge verursachten Machtvakuums, das auch in anderen Gebieten zu Aufständen führte (190–195). Das brutale Vorgehen Trajans, notiert W., stellt aber den lokalen Kontext der Maßnahmen in der Kyrenaika, Ägypten und Zypern heraus (199 f.); Judäa hatte nicht in nennenswerter Weise am Aufstand teilgenommen und blieb deshalb verschont (201–212).
Der dritte Hauptteil (213–342) behandelt Hadrian, dessen Ju­denpolitik allzu oft auf der Basis allgemeiner Ansichten zu seinen persönlichen Neigungen o. Ä. beurteilt worden ist (guter Überblick: 231–238). Bis zur unmittelbaren Vorgeschichte des Bar Kokhba-Aufstands sind weder judenfreundliche noch judenfeindliche Maßnahmen plausibel zu machen (246–259). Die Gründe für den Aufstand sind aufgrund der widersprüchlichen Überlieferung und der unklaren Chronologie seit Langem umstritten. W. stellt zunächst (263–271) die durch neuere numismatische und archäologische Evidenz inzwischen sehr gewichtigen Argumente zusammen, die für eine Gründung Aelia Capitolinas bereits 130 n. Chr. (Cassius Dio) und nicht erst 136 als Strafe für den Aufstand (Eusebius) sprechen. In der Tat erscheint hier kaum noch eine andere Positionierung vertretbar. Der Vergleich mit anderen Koloniegründungen lässt die Wahl des Ortes und die Bevorzugung einer nichtjüdischen Bevölkerung plausibel erscheinen, ohne dass man von einer beabsichtigten Provokation ausgehen muss; da überdies der Tempel des Jupiter Capitolinus nicht, wie Cassius Dio vermeintlich suggeriert, am selben Ort wie der frühere jüdische Tempel errichtet wurde, fällt ein weiteres provokatives Element fort (272–286). Das in der Historia Augusta als Grund für den Aufstand angegebene Beschneidungsverbot hält W. für unhistorisch; Antoninus Pius habe in seinem bekannten Reskript (Dig. 48,8,11pr) nicht eine ha­drianische Regelung mit Blick auf die Juden entschärft, sondern überhaupt als erster Kaiser Beschneidungen verboten (286–302).
Die von W. (301) angenommene Vollständigkeit der Digestenüberlieferung ist allerdings auf anderen Gebieten keineswegs festzustellen und daher ein schwaches Argument; aus Sicht des Rezensenten bleibt Raum für eine hadrianische Regelung, wenn sie auch nicht leichtfertig mit dem Kastrationsverbot gleichgesetzt wer-den darf und jedenfalls erst in das Jahr 136 gehören würde. Für den Aufstand bleibt in jedem Fall nur die Ideologie der Rebellen als Ausgangspunkt: Aus der Fokussierung auf Jerusalem und den Tempel schließt W. wohl mit Recht, dass bereits die Koloniegründung an sich bei bestimmten Gruppen als Grund ausreichte, den bewaffneten Konflikt zu suchen, denn die Hoffnung auf eine Wiederrichtung des Tempels rückte damit in weite Ferne (302–317). Nach der Niederschlagung des Aufstandes gingen römische Trup pen brutal und systematisch gegen die Bevölkerung Judäas vor; die rabbinische Annahme einer formal geregelten Religionsver-folgung weist W. allerdings zurück (326–331). Hier wäre bei anderer Be­wertung des Beschneidungsverbots zumindest partiell auch eine andere Deutung möglich.
Das Fazit (343–350) präsentiert die wesentlichen Ergebnisse in konziser Form; womöglich hätte man noch auf weitere Implikationen eingehen können. Diese betreffen insbesondere die Wechselwirkungen zwischen römischer Politik und jüdischer Identitätsbildung, die vor allem M. Goodman in mehreren Studien angedeutet hat. Wenn W. die flavische Judenpolitik als eher opportunistisch denn judenfeindlich zusammenfasst, da man trotz steuerlicher Repressionen das Leben nach jüdischen Traditionen gestattete (346), scheint die Relevanz solcher Fragen kurz auf: Banal gesagt brauchte man, um eine Judensteuer einziehen zu können, Juden; Repression und Toleranz sind insofern zwei Seiten derselben Medaille. Die sich hier ergebenden Identitätsfragen (etwa auch im Verhältnis zum Christentum) werden von W. nicht mehr erfasst, gehören aber wohl auch in eine andere Forschungstradition als diejenige, in die sich W. mit seiner primär ereignis- und politik-geschichtlich orientierten Herangehensweise stellt. W. hat eine äußerst sorgfältige und in ihren Ergebnissen überzeugende Arbeit vorgelegt, die vor allem durch ihren systematischen Aufbau und ihre Verlässlichkeit im Detail besticht. Auf einem vielbeforschten Gebiet wird W.s auch durch Indizes gut erschlossenes Buch sicherlich zu einer wichtigen Referenz für Forschung und Lehre werden.