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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1162 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Garhammer, Erich, u. Heinz-Günther Schöttler [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik.

Verlag:

München: Don Bosco 1998. 203 S. gr.8. Kart. DM 44,-. ISBN 3-7698-1132-1.

Rezensent:

Henning Schröer

Dieser Band vereinigt 11 Beiträge, die mit dem Kongreß der "Arbeitsgemeinschaft für Homiletik" vom 23.-27.9.1996 in Erfurt in Zusammenhang stehen, der dem Thema "Predigt als offenes Kunstwerk" gewidmet war. Gerhard Marcel Martin hatte 1984 diese generative Formel ins Spiel gebracht. Der Band ist mehr als ein Tagungsbericht, denn er bringt nach drei Grundsatz-Referaten des Kongresses vier Aufsätze, die aus den dortigen Workshops erwachsen sind, und schließlich vier Beiträge, die im Nachgang zur Tagung entstanden sind. So ist, "aufgebaut wie ein Triptychon" (8), eine gehaltvolle diskursive Präsentation des aktuellen Themas "Homiletik und Rezeptionsästhetik" zustande gekommen. Garhammers Eingangsreferat "Boomt jetzt die Ästhetik? Homiletik und Rezeptionsästhetik" führt eindrücklich in die Problematik ein.

Zuerst zwei historische Beispiele für die "Ästhetik als Anregungspotential": "Bocaccios Decameron als Antipredigt" und "Lessings ,Nathan’ - eine dramatisierte Predigt". Ihnen folgen als aktuelle Beispiele U. Ecos "Der Name der Rose" und im "Epilog" das Gedicht von Paul Celan "Eden", lesbar auch als "weihnachtliches Präludium", und in ähnlicher Funktion ein Holzschnitt von HAP Grieshaber. Im Rekurs auf die Warnung von W. Welsch, den "Ästhetik-Boom als Anästhetik" zu mißbrauchen, ist G. zu Recht daran interessiert, diesen betäubenden Konsumtendenzen durch gewissenhafte Wahrnehmung sowohl der Homiletik wie der Ästhetik entgegenzutreten und so neue Predigt-Kompetenz zu gewinnen.

Karl-Heinrich Bieritz beschreibt die Geschichte der Theorie von der Predigt als offenem Kunstwerk formgerecht ästhetisch, reizvoll, narrativ.

Er setzt mit dem Grimmschen Märchen vom "eigensinnigen Kind" als Analogon für die Lage der Predigt ein, erinnert an Henning Luthers Rekurs auf Joseph Beuys’ Aktion (Basaltsteine-Verkauf für das Pflanzen neuer Bäume in Kassel), die der Predigt als "Inszenierung" entspricht. Es folgt Martins schon erwähnter Prospekt im Bild der "Ährenlese auf dem offenen Predigt-Feld", dann kommt W. Engemanns Plädoyer für "ambiguitäre Predigt" mit dem Bild der "Verdummung des Salzes" in der so genannten "obturierten" (verklumpten) Predigt und schließlich, bezogen auf J. Hermelinks und E. Müskes Aufsatz über "Predigt als Arbeit an mentalen Bildern" (1995) das Bild der Hochzeit zu Kana: "Etwas verwandelt sich wunderbar". Von diesen Exempla her wendet auch er sich gegen "Anästhetisierung", besonders im Trend zur "Virtualisierung" und "Simulation", und empfiehlt "Predigt in der ’Schule der Andersheit’: Aufforderung zum Eigensinn", was ihm die Gelegenheit gibt, zu dem Ausgangsmärchen, tiefsinnig und elegant zugleich, zurückzukehren.

G. M. Martins Rückblick zeigt aufschlußreich, wie er seinen Ansatz durch Erfahrungen mit dem Bibliodrama ausgebaut hat. Dafür bringt auch er ein eindrückliches Beispiel, eine synästhetische Andacht mit der Konstellation: Tersteegen ("Gott ist gegenwärtig"), Ps. 30 und Hilde Domins Gedicht "Rückkehr der Schiffe".

Heinz-Günther Schöttler bietet Überlegungen zu Moderne Kunst als e-vocatio auf dem Weg zur Predigt. Er bezieht sich auf zeitgenössische Werke mit dem Anspruch auf ästhetische Autonomie und kann das an Felix Droeses "Bild von den Kindern, die nicht mehr essen wollen" überzeugend belegen. - Reinhold Zwick schlägt sachkundig und anregend für das homiletische Handwerk die Brücke zur Rezeptionsästhetik des Mediums Film. - Schöttlers zweiter Beitrag "...wie Gott mitspielt" Bibliodrama und die unerhörte Botschaft ist eine vorzügliche Studie zu den Möglichkeiten des Bibliodramas als "kleiner theodramatischer Form". Er nimmt Urs von Balthasars große Konzeption von Theodramatik fundamentaltheologisch eigenständig auf und erörtert damit auch die Nähe von Predigt und Bibliodrama in der Suche nach dem Heiligen in Text, Rolle und Sendung. - Das dramatisch spielerische Moment ist auch die Zielsetzung in dem Aufsatz von Isolde Karle zu Männersprache und Frauensprache in Gottesdienst und Predigt, weil sie die notwendige Kritik an androzentrischer Sprache nicht einfach mit der feministischen Strategie einer Frauensprache kontert, sondern die "spielerische Vielfalt", die keine Ideologie nötig habe, experimentell empfiehlt: "Denn im Gottesdienst der im Namen Jesu Versammelten gilt weder Männersprache noch Frauensprache etwas, sondern die Vielfalt der schöpferischen Möglichkeiten in Christus" (134).

Etwas philosophisches Wasser in den Wein der Rezeptionsästhetik scheint mir Klaus Müller mit seinem Beitrag Herbst der Hermeneutik? zu gießen, der die applikative Hermeneutik Gadamers, die in der katholischen Kirche hohe Resonanz gefunden hat, kritisch aufs Korn nimmt, und versucht, doch fundamentalkonstante Letztbegründungen als Voraussetzung aufzuweisen. Die alte Problematik des Verhältnisses von Dogmatik und Hermeneutik kehrt wieder. Mir scheint aber, es ist ein voreiliger Winter, der den Herbst der Hermeneutik reklamiert. - Auch die Exegese kommt in diesem Band zu ihrem Recht. Knut Backhaus zeigt anschaulich auf, wie historisch-kritische Exegese nicht an der Rezeptionsästhetik vorbei gehen kann und sich dem Applikationsproblem stellen muß und damit das klassische Thema von Schrift und Tradition erneuert. Schon der Titel Die göttlichen Worte wachsen mit dem Leser, ein Zitat von Gregor, zeigt die Relevanz der Kirchenväter. - Manfred Josuttis erörtert neu das Verhältnis von Predigt und Liturgie: Gottes Wort im kultischen Ritual. Er zeigt auf, wie die Hermeneutik der Predigt in die Ritualtheorie hineingeführt werden muß und der "Rezeptionsprozeß als Konversionsgeschehen" aufgefaßt werden sollte. - Den Abschluß bildet Wilfried Engemanns semiotisches Plädoyer: Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung. "Spiel und Ernst als Elemente einer Kriteriologie der Homiletik" (191), das ist ein guter Ansatz für die Verbindung von Rezeption und Produktion, die in Jesu Gleichnisrede ihr Paradigma finden kann. Interessant die positiven Anknüpfungen an K. Barth.

Der reichhaltige Band eignet sich gut für homiletische Seminare, aber auch für Impulse zu allsonntäglicher Predigtpraxis. Er zeigt, daß protestantische und katholische Homiletik gemeinsame Themen haben. Meines Erachtens müßte nicht nur der Spielraum, sondern auch auch die Spielzeit des Textes und der Predigt anagogisch erörtert werden. Die Applikation bleibt methodisch ein Problem; der Rückgriff auf K. Berger bei Backhaus scheint mir nicht auszureichen. Die Kategorie der Fremdheit nutzt sich auch schon etwas ab. Das Thema Wort und Bilder ist ständig präsent und als Bildungsaufgabe der Predigt noch wenig erschlossen, ebenso wie die Frage, ob die Predigt nicht auch Ritualkritik enthalten sollte. Der gelegentlich erwähnte Unterschied von Kunst und Handwerk sollte homiletisch didaktisch genützt werden. Deutlich wird: Die Theorie lebt nicht allein von Ecos Semiotik, die allerdings unverzichtbar bleibt. Die kontextuelle Praxis kommt mit Ritual, Bibliodrama, Bildmeditation, Filmerfahrung und weiteren hier noch nicht erörterten kulturtheologischen Praxisformen (Performance, Videos, Kabarett, Bibelmusik) glücklicherweise neu mit ins Spiel. Statt mit Theorie-Jargon zu blenden, ist gegenseitige Erhellung möglich. Zwischen Geheimlehre und Rezeptverschreibung leitet diese offene Präsentation deutlicher homiletischer Klärungen dazu an, die Predigt als offene Rede-Mitteilung für die Kunst des Lebens in der Aufmerksamkeit hörenden Handelns, mit Wissen und Gewissen, mehr als zur Zeit üblich zu schätzen. Im ganzen: mehr als eine Schwalbe für den Sommer und kein Schnee von gestern.