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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

693–704

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Stefan Tobler

Titel/Untertitel:

Das Zweite Vatikanische Konzil

50 Jahre danach

I Einleitende Bemerkungen und Übersicht


Das Jahr 2017 wird im Raum der evangelischen Kirche und Theologie weitherum gefeiert – berechtigterweise. Weniger verständlich ist, warum ein anderes Jubiläum im gleichen Kreis offenbar ziemlich unbemerkt vorübergegangen ist: 2015 waren 50 Jahre nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils vergangen, jenes kairos in der römisch-katholischen Kirche, an dem in mancher Hinsicht reformatorische Anliegen zum Tragen kamen. Dabei wäre es ja höchst bedeutsam, zu verstehen, welche Prozesse in der katholischen Kirche heute bestimmend sind und welche theologischen Impulse von ihr ausgehen.

Zwölf sehr unterschiedliche Titel liegen diesem Bericht zugrunde, davon elf in deutscher Sprache. Die meisten richten sich an eine theologische Fachleserschaft, aber es gibt – zum Glück – auch den Versuch, einem breiteren kirchlich interessierten Publikum wichtige Grundlinien des Konzils in Erinnerung zu rufen. Darunter fällt eine abwechslungsreich gestaltete Broschüre, herausgegeben von der deutschen katholischen Ökumene-Referenten-Konferenz,1 mit dem dezidierten Aufruf, in der Ökumene nicht nur weiterzugehen (wie bisher), sondern über das Bisherige hinaus weiter zu gehen (Kappes/Oeldemann, 46). Konkrete Vorschläge für solche möglichen Schritte finden sich dort ebenso wie ein gut ausgewähltes, thematisch geordnetes Literaturverzeichnis zur Vertiefung. In ähnlichem Geist, mit dem Schwerpunkt auf der ökumenischen Vor- und Nachgeschichte des Konzils, bietet Dietmar Winkler eine Art große Laudatio auf das Lebenswerk von Kardinal König.2 Dessen Beitrag an den Verlauf und die Rezeption des Konzils lässt sich, neben der Öffnung auf die anderen Kirchen hin, mit Stichworten wie Synodalität/Konziliarität und Dezentralisierung umschreiben – Stichworte, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, wie die Entwicklung unter dem Pontifikat von Papst Franziskus zeigt. Die einzige weitere Monographie unter den hier zu besprechenden Titeln stammt von Johannes Schelhas.3 Sie ist eine thematisch umfassende, knapp gehaltene Einführung in Geschichte, Themen und Ertrag des Konzils mit dem Ziel, es »im Denken dieser und der nächsten Generation zu bewahren« (Schelhas, 5). Dass es ihm dabei im Besonderen um die Bewahrung der Dynamik von Erneuerung und Öffnung des Konzils geht, wird aus dem ganzen Duktus seiner Ausführungen deutlich, ebenso wie die Überzeugung, dass gerade darin die Katholizität seiner Kirche zum Ausdruck kommt, die in den 16 Konzilsbeschlüssen »zu neuer Blüte« (Schelhas, 200) gekommen sei.

Alle weiteren hier zu besprechenden Publikationen sind Sammelbände, die die Diskussionslage zu einzelnen Themen wiedergeben. Sie seien hier vorab kurz genannt, beginnend mit jenen fünf Titeln, die einander insofern ähnlich sind, als sie jeweils alle wichtigen Themen des Konzils in den Blick nehmen und dessen Intention von Öffnung und Dialog betonen. Das umfassendste Werk, das bereits in einer zweiten und ergänzten Auflage erscheint, wurde von Jan-Heiner Tück herausgegeben und umfasst 34 Beiträge.4 Einen Schwerpunkt auf die Frage des interreligiösen Dialogs (mit vier von 16 Beiträgen) legt der Band von Dirk Ansorge.5 Als ein »Konzil der Metaphern« bezeichnen es die Herausgeber Mariano Delgado und Michael Sievernich6 und legen den Schwerpunkt dabei auf vier Themenbereiche: Hermeneutik, Kirche und Liturgie, Welt und Kultur und Evangelisierung, Religionen, Spiritualität. Die dezidiertesten Stellungnahmen dafür, das Konzil in der Perspektive des Aufbruchs zu lesen und diese Lesart auch heute fruchtbar zu machen, finden sich im Sammelband von Philipp Thull,7 dessen Beiträge zudem strikt auf die Länge von höchstens zehn Seiten beschränkt bleiben, was zu Prägnanz nötigt. Im Band von Christoph Böttigheimer schließlich steht die Frage nach der Rezeption im Vordergrund, die ja immer auch eine Frage des Ausblicks in die Zukunft ist.8

Die letzten vier zu besprechenden Titel haben je eine Beson-derheit. Von Myriam Wijlens9 wurden Beiträge gesammelt, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche beschäftigen, und zwar im Besonderen in der Erfahrung Ostdeutschlands. Der englischsprachige Band von Gavin D’Costa und Emma Jane Harris1o ist eine Sammlung von zehn eher lose zusammenhängenden Beiträgen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zu zwei Themen geradezu konträre Standpunkte vertreten (zur Rolle der Medien und zur Frage nach einer ›Anpassung‹ an die säkulare Welt und Sprache) – dies im Unterschied zu allen anderen hier ge­nannten Büchern, die je eine ziemlich einheitliche Linie repräsentieren. Der einzige evangelische Band, dessen Beiträge allerdings nur teilweise dem Konzilsjubiläum gelten, sondern vielmehr der allgemeinen Frage nach der ökumenischen Großwetterlage, ist derjenige von Fulvio Ferrario. 11 Die einzige Publikation schließlich, die im Spektrum der gegenwärtigen katholischen Theologie eine deutlich andere Position als die bisher genannten einnimmt (nämlich: Skepsis gegenüber der liturgischen Erneuerung des Konzils und auch gegenüber anderen Weichenstellungen), ist eine Sammlung von Studien zu Liturgiereformen vom Trienter Konzil bis zum Zweiten Vatikanum, herausgegeben von Stefan Heid.12

Bevor exemplarisch einzelne Themen und offene Debatten aufgegriffen werden, seien hier zwei allgemeine Beobachtungen angeführt. Die eine ist das fast vollständige Fehlen evangelischer Stimmen, wenn vom Band von Ferrario abgesehen wird. Sogar ein so umfassendes Werk wie dasjenige von Jan-Heiner Tück enthält nur einen einzigen Beitrag (von Michael Bünker) aus evangelischer Sicht. Außer bei Philipp Thull (von Walter Fleischmann-Bisten) fehlen sie in allen anderen Sammelbänden, auch wenn diese dezidiert ökumenisch ausgerichtet sind. Woran das wohl liegen mag: an der fehlenden Offenheit der katholischen Herausgeber oder an mangelndem Interesse oder fehlender Kompetenz bei der heutigen Generation deutschsprachiger evangelischer Theologen? Das Letztere wäre ein schlechtes Zeichen, nicht nur für die ökumenische Ernsthaftigkeit evangelischer Theologie, sondern allgemeiner für die ›Katholizität‹ ihres Denkens als eines unabdingbaren Horizonts, womit hier die Bereitschaft zum dialogischen In-Beziehung-Setzen und auch Überschreiten eigener Denkformen gemeint ist, was sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit weltlich-kulturellen Phänomenen bewähren soll, sondern zuallererst im vertieften und beständigen Gespräch mit der Konfession, die ihr ge­schichtlich und kulturell letztlich sehr nahe steht.

Doch zurück zur innerkatholischen Diskussion (und damit zur zweiten vorangehenden Beobachtung), in der es keineswegs an Kontroversen fehlt – vielmehr »ziehen sich – quer durch die Ge­meinschaft der Glaubenden – scharfe Auseinandersetzungen um das Verständnis des Konzils.« (Peter Hünermann in Tück, 40) So stehen sich etwa in Italien zwei Strömungen der Konzilsinterpretation gegenüber, die eher ›progressive‹, in geschichtlichen Prozessen denkende von Bologna (Giuseppe Alberigo) und diejenige von Rom (Brunero Gherardini), die die Kontinuität mit der vorkonziliaren Tradition betont und noch weiter stärken möchte (vgl. die kurze Beschreibung von Karl-Heinz Menke in Tück, 346 ff.). Von diesen Auseinandersetzungen liest man in den hier besprochenen Büchern aber immer nur aus einer Sicht – mit Ausnahme, bezeichnenderweise, des englischsprachigen Bandes. Es fehlen einander widersprechende Positionsbezüge, die den Leser zum Urteil nötigen. Diese Tatsache scheint ein Zeichen für genau jenen Mangel an innerkirchlichem Dialog zu sein, der von manchen Autoren mit Nachdruck beklagt wird. Man bleibt unter sich. In diesem Umfeld steht die deutschsprachige Theologie in ihrer großen Mehrheit für ein weltoffenes, ökumenisch und interreligiös engagiertes Chris­tentum, was aber in der katholischen Weltkirche nur ein Spektrum unter anderen darstellt. Den einzigen Kontrapunkt im Rahmen dieses Literaturberichts stellt das Buch von Heid dar.

II Die Verbindlichkeit eines ›pastoralen‹ Konzils


Papst Johannes XXIII. hatte bei der Einberufung des Konzils dessen ›pastoralen‹ Charakter betont. Diese Bezeichnung gibt bis heute Anlass zu kontroversen Interpretationen. Auf Seiten von ›Konzils-skeptikern‹ wird die Argumentation verwendet, das Zweite Vatikanum habe bewusst auf dogmatische Aussagen verzichten und keine Festlegungen in der Lehre vornehmen wollen, geschweige denn ›Neues‹ als verbindlich zu erklären und damit älteren Aussagen des katholischen Lehramts zu widersprechen. Durch diesen geringeren Grad der Verbindlichkeit (J.-H. Tück erwähnt eine entsprechende Einschätzung durch Kardinal Ratzinger von 1988, in Tück, 96) könne man darum ruhig einzelne Weichenstellungen des Konzils wieder in Frage stellen (Peter Hünermann bringt das Beispiel von Kardinal Brandmüller, in Ansorge, 28). Michael Sievernich legt hingegen auf überzeugende Weise dar, was diese Selbstbezeichung meinte. In der Intention von Johannes XXIII. sollte es ein »pastorales, und das heißt ein positiv auf den zeitgenössischen Kontext bezogenes Konzil« werden, um damit »die Kirche im Horizont der globalen Moderne […] zu verorten und sich damit den kulturellen und religiösen Welten zu öffnen« (Sievernich in Ansorge, 2 und 5). Es ging also »weder um den Verzicht auf theologische Aussagen, noch um die Dominanz primär pastoraler Fragen«, sondern darum, dass Lehre und Disziplin »nicht zeitlos und ortlos im Abstrakten« schweben (Sievernich in Ansorge, 9 und 11; derselbe Autor nochmals ähnlich in Delgado/Sievernich, 35–38). Die Glaubenslehre ist geschichtlich gewachsen und kann nie abgesehen vom jeweiligen kulturellen Kontext verstanden und neu ausgedrückt werden. Diese geschichtshermeneutische Einbettung aller Konzilstexte könnte nun allerdings auch wieder gegen einzelne Teile davon gewendet werden, wie Bertram Stubenrauch darlegt: Wenn – so wird gelegentlich argumentiert – vor 50 Jahren die Öffnung auf die säkulare Welt und auf die Religionen ein Gebot der Stunde war, so gehe es heute vielmehr darum, die reine Lehre der einen wahren Religion zu betonen; darum könnten Konzilstexte wie Nostra Aetate und Dignitatis Humanae als zeitgebunden sozusagen ad acta gelegt werden, zumal diese beiden ja nur als ›Erklärungen‹ und nicht als ›Konstitutionen‹ verabschiedet wurden. Dem Argument der abgestuften Verbindlichkeit der Konzilstexte widerspricht Jan-Heiner Tück überzeugend (in Tück, 15 ff. und 94 ff.): »Das Ökumenismusdekret, aber auch die beiden Erklärungen Nostra Aetate und Dignitatis humanae buchstabieren die in den Konstitutionen grundgelegte dialogische Öffnung der Kirche näher aus und konkretisieren sie.« (103) Eine Berufung auf die rein formale Autorität eines Konzils ist allein nicht ausreichend, da das Zweite Vatikanum ja tatsächlich jede unfehlbare Verlautbarung wie auch jede explizite Verurteilung gerade vermieden hatte. Allerdings sollte dabei unbestritten bleiben: Das Konzil war als »epikletischer Akt« (Bertram Stubenrauch in Böttigheimer, 27) zugleich ein »verbindlicher lehramtlicher Akt« (35), von dem man sich als Katholik nicht einfach distanzieren kann. Dennoch bleibt ein offener Raum: »Wie viel an Verbindlichkeit und wie viel an Freiheit gewährt ein Konzil, das diesen beiden Dimensionen – Verbindlichkeit und Freiheit – erklärtermaßen verpflichtet sein wollte?« (21)

Peter Hünermann, zusammen mit Bernd Jochen Hilberath Mitherausgeber des fünfbändigen Konzilskommentars, hat vor einigen Jahren einen dezidierten Vorschlag dafür gemacht, wie man die Autorität des Zweiten Vatikanischen Konzils verstehen könnte. Er sieht es in Analogie mit einer verfassunggebenden Versammlung, dessen Textkorpus als »konstitutionelle Texte für das Glaubensleben« zu verstehen seien, die Glaubenskonsens thematisieren (Hü­nermann in Tück, 48 f.). Es gehe um »verbindliche Aussagen, da-mit das Evangelium in unserer Zeit angemessen verkündet werden kann« (Hünermann in Ansorge, 40). Dies sei dem Menschen als Freiheitswesen angemessen: Konstitutionelle Texte »führen weder in eine juridische, noch eine ekklesiologische Enge, insofern sie vom Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes her die grundlegenden (transzendentalen) Freiheitsbeziehungen thematisieren, die im Glauben gegeben sind und vernünftige, freiheitliche Regelsetzungen ermöglichen.« (Hünermann in Tück, 50) Der Vorschlag Hünermanns hat den expliziten Widerspruch von Papst Benedikt XVI. (J.-H. Tück in Tück, 29 f.) und auch anderer Theologen provoziert, worauf Hünermann in den vorliegenden Bänden wiederum Antwort zu geben sucht (in Tück, 40–62, auch in Ansorge, 23 ff.). Bernd Jochen Hilberath widmet dem Vorschlag einen kritisch-freundschaftlichen Beitrag (in Böttigheimer, 140–156) und möchte den Akzent stärker auf die geistliche Dimension der synodalen Versammlung legen. Im Sinne von Hünermanns Vorschlag könnte man jedoch auch die Stoßrichtung von Kardinal Kaspers Beitrag lesen, wo er schreibt: Lumen Gentium ist grundlegend, aber es wollte keine systematisch ab­schließende Lehre von der Kirche darstellen, sondern überlässt es der nachkonziliaren Rezeption, wie die beiden Pole communio (1. Jahrtausend) und communio hierarchica (2. Jahrtausend) ins dritte Jahrtausend hineingenommen werden: Die Konzilstexte seien Wegweisung in die Zukunft (Kasper in Tück, 245).

III Kontinuität, Bruch oder Reform?


Das Bestreben der Konzilsväter war es, die Texte mit möglichst großer Mehrheit zu verabschieden. Sie drücken immer auch einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen theologischen Strömungen aus. Entsprechend kann man sie heute unterschiedlich lesen. Eine »Hermeneutik der Kontinuität« wurde einer »Hermeneutik des Bruchs« entgegengestellt, wobei es die Lesart des Bruchs sowohl in einer progressiven als auch in einer traditionalistischen Variante gibt, erstere bejahend (die Kirche habe zum Glück viel alten Ballast über Bord geworfen), letztere kritisch (die ›Schule von Rom‹ mit B. Gherardini vertrete die »These vom mannigfachen Traditionsbruch«, vgl. Menke in Tück, 346; ähnlich ja auch die Piusbruderschaft) und verbunden mit dem Appell, wieder in die bewährten Bahnen der Tradition zurückzufinden. Sämtliche hier besprochenen Titel beziehen sich auf diese Kontroverse und auf den Vorschlag der Sprachregelung durch Benedikt XVI., der 2005 anstelle einer »Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches« für eine »Hermeneutik der Reform und der Kontinuität« plädierte; vgl. dazu im Besonderen die Beiträge von Thomas Schüller (in Ansorge, 411–433) und Jan-Heiner Tück (in Tück, 94–123). Die Deutung des letzten Papstes finde »in der aktuellen theologischen Szene immer breitere Zustimmung« (Schüller in Ansorge, 415), weil damit »Kontinuität im Grundsätzlichen und Diskontinuität im Blick auf Einzelfragen zusammengehen« (Tück in Tück, 28, sich auf Kardinal Koch beziehend) und damit – neben der Ablehnung einer allzu progressiven Lesart des Bruchs (Hans Schelkshorn in Tück, 66) – doch auch die Reformpotentiale des Konzils anerkannt werden. Kardinal Walter Kasper betont die Dynamik: Das Konzil sei »im Sinn einer innovativen Kontinuität« (Kasper in Tück, 244) zu verstehen, und die Kontinuität der Reform sei ihr Wesen: ecclesia semper purificanda (Kasper in Tück, 261).

Eine nuanciertere Beschreibung der verschiedenen Konzilshermeneutiken bietet Roman Siebenrock. Er unterscheidet acht Formen (in Böttigheimer, 104–110) und plädiert selber nachdrücklich für eine »Hermeneutik der Wandlung«. Wenn das Konzil mit den Worten von Johannes Paul II. ein »Seminar des Heiligen Geistes« war, so hat es sich gerade dadurch als etwas unableitbar Neues gezeigt; der polnische Papst hatte keine Angst, von »grundlegend Neuem« zu sprechen, das im Konzil aufleuchtete (vgl. dessen Ansprache zur Einführung des CIC 1983, wiedergegeben bei Th. Schüller, in Ansorge, 425). »Deshalb ist die vorauslaufende Tradition von ihrer neuen Vermessung durch das Zweite Vatikanische Konzil her zu lesen, nicht umgekehrt.« (Siebenrock in Böttigheimer, 101 f.) Da »Neues als Möglichkeit des biblischen Gottes« (136) verstanden wird, sind Erneuerung und Reform der »Normalfall des christlichen Lebens« (137). Für Mariano Delgado und Michael Sievernich lässt sich die zentrale Intention des Konzils unter den Begriff der Evangelisierung bringen: In diesem Sinn habe es den »Mut zu größeren Diskontinuitäten« gehabt, zu dem von Johannes XXIII. gewünschten »Sprung nach vorn«, in Analogie mit dem ur­christlichen Apostelkonzil und dessen Öffnung über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus (Delgado/Sievernich, 30 f.).

Wenn man mit Benedikt XVI. den Begriff der Kontinuität bruchlos neben denjenigen der Reform stellen will, muss man den Begriff schon sehr weit dehnen. Gesprengt wird er in der klaren Bejahung der Religionsfreiheit (vgl. Maurilio Guasco in Ferrario, 2) und in der offenen Haltung zur säkularen Welt (vgl. den Exkurs zum Antimodernisteneid und dem gewandelten Dogmabegriff bei Schelhas, 51–69). Hat die Kirche durch die Begegnung mit der Welt eine »Weitung ihrer Identität« erfahren und sich dadurch in ihrer Substanz verändert, oder betrifft die Anpassung nur die »Anwendung« oder das »Erscheinungsbild« eines immer Gleichen (vgl. Schüller in Ansorge, 418) – diese Frage bleibt offen und hängt ja ganz davon ab, wie man den Kern des Bleibenden definiert.

IV Kontroverse um die Liturgiereform


In der katholischen Kirche gibt es bis heute eine Mehrzahl von Riten, auch in der westlichen Tradition (vgl. den Beitrag von Hans-Jürgen Feulner in Tück, 185–218, und ders. in Heid, 239–274). Dennoch: Von verschiedener Seite wird die »Rückentwicklung hin zum universalkirchlichen Zentralismus« und ein »Pendelrückschlag in Richtung auf fixierte Ritualität« beklagt (Albert Gerhards in Ansorge, 356 und 365; ähnlich Jürgen Bärsch in Thull, 34 f.), während das Konzil doch gerade die »Abkehr vom Prinzip weltweiter Uniformität« wollte, damit der Gottesdienst »nach Jahrhunderten wieder zu einem Gemeinschaftserlebnis werden sollte« (Gerhards in Ansorge, 368).

Ein anderer Flügel der katholischen Kirche sieht in der nachkonziliaren Entwicklung hingegen geradezu eine Gefährdung der katholischen Identität. Man beschreibt die Entwicklung als eine »Operation am lebenden Objekt« (so der Buchtitel von Heid), die dem Patienten schlecht bekommen könnte, und spricht von der Notwendigkeit einer »Reform der Reform« (so schon Kardinal Ratzinger 1998). Kurt Koch versteht dies als »modifizierende Weiterführung der bisherigen Liturgiereformen Roms« (in Heid, 24) in dem Sinne, als die nachkonziliare Entwicklung »neben den vielen Lichtpunkten […] auch viel Schatten« gebracht habe: Sie sei »in verschiedener Hinsicht hinter den Grundnormen der konziliaren Konstitution über die Heilige Liturgie zurück geblieben oder sogar in eigenwilliger Weise über sie hinaus gegangen« (Koch in Heid, 23), indem sie versucht habe, »das der christlichen Liturgie Ureigene dem Alltagsleben der Menschen so sehr anzupassen, dass das gläubige Sensorium für das in der Liturgie gegenwärtige Mysterium Gottes schwinde« (24). Der Gottesdienst dürfe nicht in erster Linie missionarisch ausgerichtet sein, sondern sei »liturgische Anbetung des dreieinen Gottes« (25) und als solche Opus Dei, Handeln Gottes selbst. Die Kirche feiere den »Glaubensinnenraum des Dogmas, der sich im Kerygma der Schrift weit nach allen Seiten hin öffnet« (Peter Hofmann in Heid, 33), und so habe die Liturgie in ihrem Kern »objektive Qualität als göttliches Mysterium« (50). Aus dieser Perspektive wird nun aber genau jene Entwicklung nach dem Konzil problematisch, die zumeist als dessen zentrale Errungenschaft gesehen wird, nämlich der direkte Einbezug der ganzen Gemeinde in das gottesdienstliche Geschehen. Pointiert wird dieser Paradigmenwechsel durch Johannes Nebel kritisiert (in Heid, 53–90). Von der actio ecclesiae, verstanden als Opfer Christi und höchste Anbetung, habe sich das Interesse auf die celebratio als äußerliche liturgische Handlung und gemeindliche Feier hin verschoben. An die Stelle des objektiven Mysteriums des Kultes sei die subjektive Befindlichkeit getreten, verbunden mit weitreichenden Änderungen im Verständnis von Amt und Messe. Dieses »neue Paradigma der Liturgie als Gemeindefeier« (57) sei von der Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium nicht intendiert gewesen, sondern habe unter Beeinflussung durch die Pascha-Mysteriums-Theologie von Odo Casel die nachkonziliare Entwicklung bestimmt (eine positive Beurteilung von Casel hingegen bei A. Gerhards in Tück, 133, und bei H. Hoping in Tück, 163–184). Die plena et actuosa participatio als Kernforderung von SC sei nur recht zu verstehen, wenn sie als Teilnahme an der actio ecclesiae verstanden wird, deren Träger das Klerikat (Nebel in Heid, 88) und deren Bezugspunkt die Universalkirche sei. Eine vergleichbare Stoßrichtung haben alle, vorwiegend liturgiegeschichtlichen Beiträge aus dem Sammelband von Heid; sie sind der Abwehr einer (in den konziliaren Liturgiereformen angeblich vorherrschenden) Geschichtsinterpretation gewidmet, die »in der Liturgie eine Verfallsgeschichte von einer edlen, demokratischen Urliturgie zu klerikalem Prunk und Ritualismus sehen« (Heid in Heid, 166). In ironischem Sinne bezeichnet so zum Beispiel Harm Klueting (der sich gerne selbst zitiert) die Bemühungen der katholischen Aufklärung des 18. Jh.s um eine Anpassung von Form und Inhalt der Liturgie an den »Genius der Zeit« als »Aggiornamento« – um damit diesen zentralen Begriff des Konzils in seiner Tendenz zu ›entlarven‹, auf aufklärerische Irrwege zu führen (Klueting in Heid, 181).

Mit diesen Bemerkungen sind die Linien einer tatsächlich scharfen innerkatholischen Kontroverse abgesteckt, da es immer auch um grundlegende ekklesiologische Positionen geht, um das Amtsverständnis und um den Einbezug des ganzen Volkes Gottes in das Leben der Kirche. In Bezug auf die Liturgie geht es allerdings um Fragen, die sich durch polarisierende und vereinfachende Antworten nicht lösen lassen. Man kann den Gedanken einer »Reform der Reform« aufnehmen, ohne gleich das ganze Konzil in Frage zu stellen, und damit die bleibende Besinnung auf die Dimension von Mysterium und Anbetung meinen, wie es Helmut Hoping tut (in Tück, 183). Man muss danach fragen, wie eine aktive Anteilnahme aller Gläubigen am Gottesdienst auch unter den Bedingungen eines zunehmenden Traditionsverlusts zum Tragen kommen kann, so dass Gotteserfahrung möglich wird (vgl. Benedikt Kranemann in Delgado/Sievernich, 232–247). Sind christliche Bildung und katechetische Unterweisung dafür der Schlüssel (Alcuin Reid in Heid, 201–219)? Braucht es auch ein Experimentierfeld für neue liturgische Formen, damit der Gottesdienst »lebendige Feier der jeweiligen Gemeinde« bleibt (Johann Pock in Tück, 147–162, Zitat 161)? Ist es die Spiritualität einer »samaritanischen« Kirche mit ihrer Option für die Armen (Gustavo Gutierrez in Delgado/Sievernich, 405–421, Margit Eckholt in Delgado/Sievernich, 205–224, und Adrian Taranzano in Ansorge, 434–456) oder die Besinnung auf die »Mystik des Konzils« (Mariano Delgado in Delgado/Sievernich, 422–443), die auch den Gottesdienst mit Leben füllt?

V Die Debatte um das ›subsistit‹


Eine weitreichende Entscheidung des Konzils war es, die katholische Kirche nicht einfach mit dem Mystischen Leib Jesu Christi in eins zu setzen (»est«, wie es in Orientalium Ecclesiarum übrigens noch stehengeblieben ist, OE 2; vgl. Dirk Ansorge in Ansorge, 178 f.), sondern diesen als in jener »daseiend, verwirklicht« zu bezeichnen (»subsistit in«, wie Lumen gentium 8 formuliert). Unbestrittenermaßen war damit auch eine ökumenische Öffnung intendiert. Die Auseinandersetzung um das genaue Verständnis dieser Formulierung ist aber damit nicht abgeschlossen, wie die Erklärung der Glaubenskongregation Dominus Iesus aus dem Jahr 2000 zeigt (vgl. die Kritik daran von André Birmélé in Ferrario, 23–36).

Die eingehendste Analyse zu dieser Frage entstammt der Feder von Dirk Ansorge (in Ansorge, 160–198). Wenn das subsistit von seiner scholastischen Wurzel her gelesen wird, wie es Kardinal Ratzinger tat, dann ist es ein Spezialfall von esse und lässt sich nicht vervielfältigen, was bedeutet: Nur in einer einzigen Kirche kann die wahre Kirche Christi verwirklicht sein (180). Diese scholastische Lesart war aber nicht die Absicht der Konzilsväter, wie u. a. W. Kasper und K. Lehmann in Antwort darauf betonten (181 f.). Es wurde ja von vielfältigen ekklesialen Elementen außerhalb der katholischen Kirche gesprochen (in LG 15 und UR 15). Bedeutet das subsis­tit somit schlicht vere adest und lässt die Möglichkeit offen, dass diese wahre Präsenz gleichermaßen auch in anderen Kirchen geglaubt werden kann (so Peter Knauer in Thull, 144)? So willkommen diese Lesart für den ökumenischen Dialog auch ist, geht sie vermutlich doch über die Intention des Konzils hinaus, wie Jan-Heiner Tück erläutert, weil »die singuläre Beziehung zwischen der einen Kirche Jesu Christi und der katholischen Kirche« nicht aufgegeben worden sei (in Tück, 109). Fulvio Ferrario beklagt genau dies aus evangelischer Sicht: in der heutigen Lehre des Vatikans sei kaum zu sehen, inwiefern das subsistit »vom est, dessen Platz es einnahm, unterschieden wird« (in Ferrario, 133).

Das subsistit, meint Werner Löser, sei nicht so sehr eine Aussage über andere Kirchen, sondern wolle den Unterschied zwischen Symbol und Sache wahren und damit der Gefahr des Triumphalismus wehren: »Im Symbol kommt das Symbolisierte zur Erscheinung«, d. h. »Die Kirche Gottes begegnet uns konkret in der römisch-katholischen Kirche« (in Ansorge, 154 und 155). Noch dezidierter gegen jede Überhöhung stellt sich Roman Siebenrock. Sich auf den Schlussabschnitt von LG 8 beziehend urteilt er, dass das subsistit »dynamisch gelesen werden muss in der Dramatik von Sünde und Erneuerung« (in Thull, 55). Die katholische Kirche muss den Weg der Demut gehen, da sie »zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig« ist; die Heiligkeit der Kirche besteht in ihrer beständigen »Bereitschaft zur Umkehr« (54).

VI Ökumene und die Missdeutung des Leuenberger Modells


Hat »das Ökumenemodell des 20. Jahrhunderts ausgedient« (Ferrario in Ferrario, 134), weil es im Wesen protestantisch war, während der Katholizismus faktisch zum Modell der organischen Einheit zurückgekehrt sei? Muss man sagen: »Das 40 Jahre alte evangelische Ökumenemodell der Leuenberger Konkordie (1973) ist mit den ökumenischen Einheits- und Zielvorstellungen Roms nicht kompatibel.« (W. Fleischmann-Bisten in Thull, 109)?

Diese Skepsis und die Reduktion der ökumenischen Frage auf die Alternative »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« versus »sichtbare Einheit« finden sich an mehreren Stellen (z. B. bei Dirk Ansorge, in Ansorge, 171). Werner Löser zeigt zwar auf, wie sehr Unitatis Redintegratio die Sichtweise erweitert hat: Während in früheren katholischen Stellungnahmen die Adjektive una und unica Einförmigkeit und Ausschließlichkeit der Kirche ausdrückten, ist in UR nun Einheit in Mannigfaltigkeit und Inklusivität ge­meint (Löser in Ansorge, 141). Er interpretiert UR 4 so: »Die ›dauernde Reform‹, zu der die Kirche gerufen ist, zielt nicht zuletzt dahin, dass soviel an Katholizität und innerer Weite wie nur möglich zum Tragen kommt, damit die bisher getrennten Kirchen ohne Aufgabe ihrer vom Heiligen Geist gewirkten Traditionen in der Gemeinschaft mit der erneuerten römisch-katholischen Kirche ihren Ort finden können.« (147) Allerdings sieht auch Löser das Leuenberger Modell von Kirchengemeinschaft als defizitär: Unter Aufnahme eines Zitats von W. Kasper aus 2004 schreibt er, dass Einheit mehr sei als ein »Netzwerk von Konfessionskirchen, die einander gegenseitig anerkennen, indem sie Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft aufnehmen« (150).

Gegen das Leuenberger Modell bzw. gegen das, was der Autor dafür hält, ist auch ein Beitrag von Kurt Koch gerichtet (in Tück, 403–436), wobei hier allerdings auch bedenkenswerte Impulse und ein klares Bekenntnis zum ökumenischen Engagement zu finden sind.

Er stellt die Zielvorstellung der »sichtbaren Einheit im gemeinsamen Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Äm­tern« dem Postulat »einer gegenseitigen Anerkennung der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften als Kirchen und damit als Teile der einen Kirche Jesu Christi« gegenüber (422), wobei er Letzteres nur als »Addition aller vorhandenen Kirchentümer« se­hen kann, im Bild einer Reihe von Einfamilienhäusern, wo man sich gelegentlich gegenseitig zum Essen einlädt. Er kann offenbar nicht sehen, dass die Leuenberger Konkordie gerade »die Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern einschließt« (was für ihn das unabdingbare Postulat ist, 423), allerdings eine differenzierte und in sich vielfältige Einheit. Diese Sicht auf ›Leuenberg‹ hat vielleicht auch damit zu tun, dass Koch es mit der Auslegungslinie der sogenannten »Differenz-Ökumene« identifiziert, die aber nicht die bestimmende Linie innerhalb der GEKE ist (vgl. die Verteidigung der Konsens-Ökumene durch Walter Schöpsdau, in Ferrario, 57–68, und in vergleichbarer Haltung die katholische Stimme von Angelo Maffeis, in Ferrario, 37–55). Die Kirchengemeinschaft der GEKE ist sehr wohl auf Sichtbarkeit der Einheit ausgerichtet – das ist in ihrer Gründungsurkunde unter dem Abschnitt der »Verwirklichung der Kirchengemeinschaft« festgeschrieben. Zu hoffen ist, dass der gegenwärtig in Gang befindliche Dialog zwischen der GEKE und dem Einheitssekretariat des Vatikans in dieser Hinsicht mit Vorurteilen aufräumen kann. »Kirchengemeinschaft« und »sichtbare Einheit« sind kein Gegensatz, sondern aufeinander hingeordnet.

Verschiedene weitere Beiträge plädieren nachdrücklich für eine Weiterführung des ökumenischen Aufbruchs des Konzils (so die Publikationen von Winkler und Kappes/Oeldemann), das von einer »Hermeneutik der Anerkennung« geleitet worden sei (Ansorge in Ansorge, 191). Ottmar Fuchs stellt fest, dass man zwar Kirchenzugehörigkeit abgestuft denken kann, Gnadenzugehörigkeit aber nicht: »Gottes Liebe ist nicht teilbar« (Fuchs in Tück, 588). Peter Knauer nimmt die Formulierung von LG 15 auf, das von einer wahren Verbindung im Heiligen Geiste redet, und folgert: »Eine solche Verbindung kann nicht unvollkommen sein; nur ihre Anerkennung kann unvollkommen sein.« (Knauer in Thull, 142) Für ihn wäre eine Anerkennung der anderen Kirchen ein notwendiger Schritt in der Dynamik der Ekklesiologie des Konzils; auch die Schlüsselfrage nach dem Amt sieht er als lösbar (144).

VII Stichwortartiger Hinweis auf weitere Themen


und Debatten


War Gaudium et spes in Bezug auf die säkulare Welt zu optimis­tisch?

– Dafür gibt es einige zustimmende Beiträge. Ralph Martin (in D’Costa/Harris, 137–163) bezieht sich u. a. auf Karl Rahner und sieht in GS eine Unterschätzung der Sünde. Josef Pilvousek beschreibt am Beispiel von Erzbischof Bengsch die Skepsis der damaligen ostdeutschen Bischöfe in Bezug auf die »Bejahung der Welt, der Kultur, der Technik« (in Wijlens, 25–48, Zitat 42). Hans Schelkshorn (in Tück, 63–93) sieht den Versuch einer Brücke zur Moderne zwar als wegweisend, beurteilt die schöpfungstheologisch oder allgemein biblischen Begründungsstrategien hingegen als kurzschlüssig.

– Die meisten Autoren wehren sich gegen den Optimismusvorwurf. Ingeborg Gabriel bezeichnet ihn als oberflächlich: GS kenne die Ambivalenz der Moderne, sei aber von einer »Hermeneutik der Anerkennung« geleitet, und die Lektüre der »Zeichen der Zeit« sei von christlicher Hoffnung geprägt (in Thull, 61, und in Tück, 631). Das Ernstnehmen der säkularen Welt sei gleichzeitig die Chance, das Apostolat der Laien hochzuschätzen (James Hanvey in D’Costa/ Harris, 54 ff.). GS sei nicht zu optimistisch, da es christologisch-kenotisch argumentiere: Christus finde man nicht in einer überweltlichen Sphäre oder in der Innerlichkeit allein, sondern »in der Tiefe der Immanenz«, in einem »Wagnis der Liebe […], das zu Passion werden muss« (Roman Siebenrock in Böttigheimer, 130).

In welcher Beziehung steht der neue Codex Iuris Canonici von 1983 zum Konzil?

– Mit zunehmender Schärfe wird in der katholischen Kanonistik heute diskutiert, ob der CIC von 1983 – schon 1959 angekündigt und vom Konzil geplant – sozusagen als dessen letztes Dokument zu sehen sei und somit den Interpretationsrahmen für das Konzil abgebe.

– In ihren Beiträgen wehren sich Thomas Schüller (in Ansorge, 411–433) und Myriam Wijlens (in Böttigheimer, 37–62) gegen diese Sichtweise und betonen, dass der CIC immer vom ganzen Corpus der Konzilstexte her gelesen werden muss, was auch schon Papst Johannes Paul II. bei dessen Einführung betont hatte.

– Der CIC habe aber (noch) nicht alle Impulse des Konzils aufgenommen und benötige wohl seinerseits eine Reform. So können die Ortsbischöfe im CIC fast als »weisungsgebundene Verwaltungsbeamte des Papstes« erscheinen (Schüller in Ansorge, 415). In der Frage des Laienapostolats gehe der CIC zwar wie LG vom Volk Gottes aus (Johannes Beutler in Thull, 11), aber dies sei dann doch »nur bruchstückhaft in das kirchliche Recht eingegangen« (Sabine Demel in Thull, 70). Ein einseitiges Amtsverständnis führe dazu, dass die Laien immer noch nicht wirklich ernst genommen werden (Hermann Pottmeyer in Wijlens, 168).

Ist eine communio-Ekklesiologie ohne innerkirchlichen Dialog überzeugend?

– Im Allgemeinen wird der communio-Begriff eng mit dem Ereignis und den Texten des Konzils in Verbindung gebracht und gelobt (in Kappes/Oeldemann, 14–17, kurz zusammengefasst). Al­lerdings ist er nicht ohne Ambivalenzen.

– Man kann einen dreifachen communio-Begriff unterscheiden: communio fidelium, communio ecclesiarum und communio hierarchica (Ormond Rush in Wijlens, 155). Es besteht die Tendenz, dass Letzterer überwiegt und dann einem echten Dialog-Modell eher entgegengestellt wird – ausführlich analysiert Hermann Pottmeyer diesen Zusammenhang (in Wijlens, 161–175): Das Konzil war ein wahrhaftes Ereignis des Dialogs und hatte den Dialog mit der Welt und den Religionen zum Thema, aber es wird nicht leicht von innerkirchlichem Dialog gesprochen, aus Angst vor einem Autoritätsverlust der Hierarchie.

– Ähnlich urteilen, mehr oder minder scharf, Bernd Jochen Hilberath (in Böttigheimer, 153 f.), Slavomír Dlugoš und Sigrid Müller (in Tück, 629), Jan-Heiner Tück (in Tück, 25), Peter Hünermann (in Tück, 40) und Peter Walter (in Delgado/Sievernich, 96–100). Diese Tendenz, so möchte der Rezensent anfügen, wird zurzeit unter dem Pontifikat von Franziskus hoffentlich wieder nachhaltig korrigiert.

Gibt es Tendenzen zu einer restriktiv-traditionalistischen biblischen Hermeneutik?

– Zu hoffen ist, dass die Stimme von Peter Hofmann keine bedeutendere Strömung in der katholischen Kirche repräsentiert. Eingebettet in die Liturgie verortet er den Gebrauch der Schrift und erklärt, wer »das eigentliche und theologisch einzig legitime Subjekt der Schriftlektüre ist: die Kirche selbst«, denn »Die Schrift legt sich eben nicht selbst aus« (in Heid, 48 f.). Notabene: Nicht nur die Interpretation, sondern sogar die Lektüre der Schrift wäre damit einzig dem Kollektiv ›Kirche‹ (unter Leitung des Lehramts) vorbehalten!

– In klarer Distanzierung zu solchen Aussagen wird von anderen Autoren auf die grundlegende Neuausrichtung in der Exegese verwiesen, die in Dei Verbum zum Ausdruck kam und die auch in nachfolgenden päpstlichen Schreiben bestätigt wurde, die die Be­rechtigung der historisch-kritischen Exegese als Korrektiv »für verstiegene und verfehlte Auslegungen« anerkennen (Roman Kühschelm in Tück, 543). Dabei bleibt eine ganze Spannbreite, auch in den Konzilstexten, zwischen der Anerkennung der historisch-kritischen Exegese und dem Modell der Väterexegese, die ebenfalls in ihrem bleibenden Wert genannt wird (Ludger Schwienhorst-Schönberger in Tück, 526–529).

Zwei kleine ›Perlen‹ seien noch gesondert erwähnt.

– Ottmar Fuchs – in intensivem Dialog mit zeitgenössischen Intellektuellen außerhalb der kirchlichen Bezugspunkte – denkt selbstkritisch und kreativ über Formen, Ressourcen und Kontexte einer gegenwärtigen Pastoral nach: ein gelungenes Beispiel, wie die Linie von Gaudium et spes mit dessen Ausrichtung auf dialogisches Lernen heute weitergeführt werden kann. Der Glaube ist nicht notwendig, sondern überflüssig und gerade so überaus kostbar, er ist »Gratisbeigabe überfließender Gnade« (Fuchs in Tück, 590), Ausdruck der »Erwählung zur universalen Liebe«, aber »nicht gegen die anderen, die nicht erwählt sind, sondern in Proexistenz für sie« (Fuchs in Tück, 596).

– Hans-Joachim Sander sucht eine Topologie Gottes in den Zeichen der Zeit. Gott ist nicht in Utopien zu finden, sondern – mit einem Begriff von Foucault – in Heterotopien. »Wer von Gott spricht, ist auf Heterotopien geeicht; das ist die Weltfähigkeit des Glaubens und macht seine pastorale Konstitution unausweichlich.« (Sander in Böttigheimer, 179)

VIII Abschließende Beobachtungen


Jede Interpretation des Konzils sei ein »gefährliches, weil der akuten Gefahr von Missverständnissen, Verwirrungen, Streitereien ausgesetztes Unternehmen.« (Peter Hünermann in Tück 40 f.) In dieser Gefahr steht ein kurzer Literaturbericht erst recht. Aus der Fülle des Materials auszuwählen und sich auf einzelne Themen zu beschränken ist notwendigerweise eine subjektive Entscheidung. Dass einige in der katholischen Kirche heute besonders intensiv diskutierte Themen wie Frauenordination, Zölibat, Wiederverhei ratung Geschiedener und Homosexualität nicht nur in dieser Übersicht fehlen, sondern in der besprochenen Literatur keine Rolle spielen, ist nicht verwunderlich: Es waren nicht oder kaum Themen des Konzils selbst. Die Art der Konzilsrezeption, um die heute gerungen wird, entscheidet aber auch über die Art und Weise, wie neu aufkommende Fragen angegangen werden.

Wer aus dieser Fülle die große Linie nicht aus dem Blick verlieren möchte, dem sei die souveräne Analyse von Hünermann empfohlen, der »die zentralen theologischen Aussagen des Konzils« benennt (in Ansorge, 23–51).

Gewiss war das Zweite Vatikanische Konzil ein bahnbrechendes und auch weiterhin zukunftweisendes Ereignis. Man braucht in der Einschätzung seiner Bedeutung nicht so weit zu gehen wie Peter Knauer, der LG 8 auf eine Weise liest, dass dort analog zur Menschwerdung des Sohnes eine »Kirchewerdung des Heiligen Geistes« ausgedrückt sei, unvermischt und ungetrennt. Er behauptet daher, dass »das II. Vatikanum wegen der von ihm begründeten dritten und abschließenden dogmatischen Grundformel an Rang dem trinitarischen Konzil von Nizäa (325) und dem christologischen Konzil von Chalcedon (451) gleichkommt.« (Knauer in Thull, 138) Das wäre – entgegen der ökumenischen Intention Knauers – ein ökumenischer Rückschritt, für die Orthodoxie wegen der Analogie mit den altkirchlichen gemeinsamen Konzilien, für reformatorische Sensibilität wegen der Betonung eines ›abschließenden‹ Charakters einer dogmatischen Definition – während das Konzil ja Öffnung, nicht Abschluss meinte.

Viel zu denken gibt und gäbe das Erbe des Konzils, auch für evangelische Theologie. Dies im Besonderen, wenn man es im Sinn von Walter Kasper versteht. Die Kirche – auch die römisch-katho-lische – kann »in dieser Weltzeit […] nie die reine und strahlende Braut Christi sein, sie bedarf immer wieder der Reinigung (Eph 5,26 f.); sie ist ecclesia semper purificanda« (Kasper in Tück, 261). Ob das nicht doch letztlich dasselbe meint wie ecclesia semper reformanda, wovon sich Kasper in der Fußnote allerdings ausdrücklich distanziert, bleibt zu diskutieren. Die Kirche kann jedenfalls immer nur Hinweis von sich weg sein, auf das himmlische Jerusalem, und gerade darin ein starkes Zeichen der Hoffnung in dieser Welt.

Fussnoten:

1) Kappes, Michael, u. Johannes Oeldemann[Hrsg.]: Ökumenisch weiter gehen!Die Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils aufnehmen und weiterführen. M. e. Vorwort v. G. Feige. Paderborn: Bonifatius; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 60 S. Kart. EUR 4,90. ISBN 978-3-89710-567-6 (Bonifatius); 978-3-374-03781-0 (Evangelische Verlagsanstalt).
2) Winkler, Dietmar W.: Wann kommt die Einheit? Ökumene als Programm und Herausforderung. Graz u. a.: Styria Premium 2014. 152 S. = Kardinal König Bibliothek, 4. Kart. EUR 16,99. ISBN 978-3-222-13386-2.
3) Schelhas, Johannes: Das Zweite Vatikanische Konzil. Geschichte – Themen – Ertrag. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2014. 232 S. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-7917-2622-9.
4) Tück,Jan-Heiner [Hrsg.]: Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. 2., aktualis. u. erw. Aufl. Freiburg. i. Br.: Verlag Herder 2013. 760 S. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-451-33568-6.
5) Ansorge, Dirk [Hrsg.]: Das Zweite Vatikanische Konzil. Impulse und Perspektiven. Münster: Aschendorff 2013. 473 S. = Frankfurter Theologische Studien, 70. EUR 29,00. ISBN 978-3-402-16057-2.
6) Delgado, Mariano, u. Michael Sievernich[Hrsg.]: Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute. Freiburg. i. Br.: Verlag Herder 2013. 456 S. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-451-34051-2.
7) Thull, Philipp [Hrsg.]: Ermutigung zum Aufbruch. Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013. 188 S. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-534-26312-7.
8) Böttigheimer, Christoph [Hrsg.]: Zweites Vatikanisches Konzil.Programmatik – Rezeption – Vision. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 256 S. = Quaes­tiones disputatae, 261. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-451-02261-6.
9) Wijlens, Myriam [Hrsg.]: Die wechselseitige Rezeption zwischen Ortskirche und Universalkirche. Das Zweite Vatikanum und die Kirche im Osten Deutschlands. Würzburg: Echter Verlag 2014. 178 S. = Erfurter Theologische Studien, 46. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-429-03698-0.
10) D’Costa, Gavin, and Emma Jane Harris[Eds.]: The Second Vatican Council. Celebrating its Achievements and the Future. London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2014. 192 S. Kart. US$ 28,00. ISBN 978-0-567-17911-1.
11) Ferrario, Fulvio [Hrsg.]: Umstrittene Ökumene. Katholizismus und Protestantismus 50 Jahre nach dem 2. Vatikanum. Hrsg. unter Mitarbeit v. M. Jonas. Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 142 S. = Rom und Protestantismus – Schriften des Melanchthon-Zentrums in Rom, 2. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-152263-5.
12) Heid, Stefan [Hrsg.]: Operation am lebenden Objekt. Roms Liturgiereformen von Trient bis zum Vaticanum II. Berlin: be.bra wissenschaft verlag 2014. 392 S. m. 16 Abb. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-95410-032-3.