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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

589–602

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Rudolf von Sinner*

Titel/Untertitel:

Theologie in Lateinamerika

Neuere Entwicklungen



Inmitten der Beerdigung Gottes und des Requiems auf die Religion
hat ein Regen neuer Götter niederzugehen begonnen,
und ein neuer religiöser Duft hat unsere Räume und unsere Zeit erfüllt.

Rubem Alves (1933–2014)

Theologie in Lateinamerika war ein sehr beliebtes Thema in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren, als die Theologie der Befreiung große, in der deutschen römisch-katholischen wie evangelischen Theologie durchaus kontroverse Beachtung erfuhr. Vor dem und im Jahr 1992, anlässlich des Bedenkens der 500 Jahre der Conquista, der »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus und der ihr folgende Kolonisierung mit ihren zumal für die Urvölker vernichtenden Folgen, kam es zu einer Kulmination. Danach jedoch brach das Interesse in Deutschland und Europa rasch ab, obwohl die Befreiungstheologie in Lateinamerika wie andernorts weitergedacht wurde – etwa als südkoreanische Minjung-Theologie, indische Dalit-Theologie, Black Theology in Südafrika und den USA und weltweit als feministische Theologie, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, die freilich, entsprechend ihrer Kontextualität, ebenfalls in Formulierung und Reformulierung begriffen sind. Befreiungstheologien sind entstanden als Antwort auf Unterdrückung politischer, wirtschaftlicher, sozialer, religiöser und ethnischer Art, wobei sie theologisch ihre Stärke daraus beziehen, dass sie befreiende Grundlinien biblischer Theologie wie den Exodus und die Praxis und Verkündigung des historischen Jesus wiederentdeckt haben. Auch nach der Überwindung der Militärdiktaturen und dem wirtschaftlichen Aufschwung vieler Länder Lateinamerikas – freilich auch den Rückschlägen in Politik und Wirtschaft, wie zurzeit in Brasilien – ist die lateinamerikanische Befreiungstheologie keineswegs tot, was sich etwa in den verschiedenen Auflagen des Weltforums für Theologie und Befreiung zeigt, das wie jüngst in Montreal jeweils im Umfeld des Weltsozialforums stattfindet und maßgeblich von Luiz Carlos Susin von der Päpstlichen Universität von Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien – also der Stadt, in der auch das Weltsozialforum als Kontrastveranstaltung zum Davoser Weltwirtschaftsforum gegründet wurde – verantwortet wird.1

Nun ist Theologie in und aus Lateinamerika aber nicht nur Befreiungstheologie. Das war schon früher so, ist heute aber sichtbarer geworden. Die römisch-katholische Theologie auf dem Kontinent hatte moralisch, politisch und sozial weitgehend konservative Züge, was sich in einigen Ländern wie etwa in Argentinien auch in der Unterstützung der Militärdiktatur zeigte. Demgegenüber waren die Kirchen in Chile und vor allem in Brasilien zwar nicht mehrheitlich progressiv, nahmen aber eine gegenüber den Armen und politisch Verfolgten solidarischere und gegenüber den Diktaturen kritischere Haltung ein, zumal sie die Repression auch selbst zu spüren bekamen.2 Zu erwähnen sind weiter evangelikale Tendenzen, die im Allgemeinen eine konservative Theologie vertreten. Un­ter ihnen gibt es jedoch Positionen, die kontextuell erhobene Anliegen sozialer Gerechtigkeit mit einbeziehen, weil die bedrängende Armut in Lateinamerika – und andernorts – einfach nicht zu übersehen ist. Es waren gerade die lateinamerika-nischen Vertreter wie der in Argentinien lebende Ekuadorianer René Padilla und der Brasilianer Valdir Steuernagel, die auf dem L ausanner Kongress für Weltevangelisation von 1974 darauf drängten, Evangelisation in einem ganzheitlichen Sinne – nicht nur als Seelenheil, sondern auch den Leib einbeziehend – zu betrachten. Daraus ging das Konzept der »ganzheitlichen Mission« (missão integral) hervor, namentlich im Umfeld der bereits 1970 gegründeten Fraternidade Teológica Latino-americana (Lateinamerikanische theologische Bruderschaft).3

Die vor allem in den letzten 30 Jahren stark gewachsenen Pfingstkirchen haben zunächst kaum eigene schriftliche und akademisch verantwortete Theologie hervorgebracht, was sich inzwischen aber geändert hat.4 Zur Kontextualisierung dieser Feststellung sei erwähnt, dass die akademische theologische Ausbildung in Lateinamerika zunächst den katholischen Seminarien der Orden und nach und nach auch den Diözesen oblag. Zum Teil wurden diese Seminarien in päpstliche, privat organisierte Universitäten eingegliedert. Es gibt in Lateinamerika viele private Hochschulen und Universitäten, an denen die Mehrheit der Studierenden eingeschrieben ist – in Brasilien sind es 75 % aller Immatrikulierten. Theologie gibt es nur an privaten, meist konfessionellen Einrichtungen. Nordamerikanische, protestantische Missionare waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s besonders um die Bildung der Eliten bemüht, um sie für den Protestantismus zu gewinnen, und gründeten so Privatschulen und private Hochschulen. In einigen Ländern, wie etwa in Brasilien, können theologische Bachelor- und/oder Lizentiatsstudiengänge sowie Magister- und Doktorgrade staatlich anerkannt werden. Seit diesem Jahr sind in Brasilien kurrikulare Leitlinien für das Studium der Theologie in Kraft, die die inzwischen 162 staatlich anerkannten Bachelorstudiengänge von rein innerkirchlichen Ausbildungskursen für Kleriker unterscheiden. Deren Einhaltung ist für die Erteilung bzw. Erneuerung der Akkreditierung unbedingte Voraussetzung. Mehr und mehr suchen auch Pfingstkirchen Anschluss an eine wissenschaftlich ver­antwortete, akademische Ausbildung.5

Die Befreiungstheologie selbst ist weitergewachsen und zeigt sich als indigene, afro-amerikanische, als interkulturelle und in­terreligiöse Theologie, ebenso als öffentliche Theologie. Die Befreiungstheologie bleibt darin, in meiner Wahrnehmung und Diktion, ihrer Berufung als kontextuelle und im weiten Sinne katholische, d. h. für die weltweite Kirche im Anschluss an biblische und theologische Traditionen bedeutsame Theologie treu, die sich in neuem Umfeld freilich neu bewähren und formulieren muss.6 Weiterführungen wie die erwähnten, ob sie sich nun explizit Theologien der Befreiung nennen oder nicht, tragen zu solcher Reorientierung bei.

Ich möchte im Folgenden eine begrenzte, aber m. E. repräsentative Auswahl von Trends in der jüngeren in Lateinamerika veröffentlichten theologischen Literatur vorstellen. Dabei ist einschränkend zu sagen, dass ich mich zwar nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich auf Brasilien beziehe, das gleichsam einen Kontinent im Kontinent bildet. Die Sprachgrenze zwischen Portugiesisch und Spanisch ist kulturell und politisch doch sehr spürbar, und so muss ich zugeben, dass ich auch dort, wo ich im Original spanisch publizierte Literatur verwende, diese von diesseits der Grenze betrachte. Als seit 15 Jahren in Brasilien lebender Schweizer stehe ich jener Welt sozusagen doppelt fremd gegenüber, was zu meiner eigenen Lokalisierung zu bemerken ist. Vier Tendenzen drängen sich meiner Ansicht nach auf, um die derzeitige theologische Theoriebildung und deren religiösen und zeitgenössischen Hintergrund zu verstehen. Da es sich um Trends handelt, die auf bestimmte Herausforderungen reagieren und bestimmte theologische Grundbegriffe kolportieren, benenne ich sie jeweils als »im Zeichen von« stehend: 1) Theologie im Zeichen der Befreiung, ausgehend von neu-eren Entwicklungen in der Befreiungstheologie; 2) Theologie im Zeichen der Interkulturalität und des interreligiösen Dialogs; 3) Theologie im Zeichen des Geistes, namentlich soweit sie im Rahmen von Pfingstkirchen entwickelt wird, und 4) Theologie im Zeichen des Wohlstands, der auch andernorts auffindbaren, spürbaren Tendenzen zu einem »Health and Wealth«-Gospel.

I Theologie im Zeichen der Befreiung

Die Theologie der Befreiung ist weiterhin in Publikationen, Vorträgen und Kongressen präsent. Sie hat mehrfach selbstreflexive Bilanzen und Ortsbestimmungen vorgenommen.7 Ein aus meiner Sicht nach wie vor zentraler Text von Hugo Assmann von 1994 über eine »Theologie der Bürgerschaftlichkeit (cidadania) und der Solidarität, oder: die Befreiungstheologie fortführen« hat notwendige Neuerungen angezeigt insofern, als eine befreiende Theologie zur Bildung – als nicht angeboren verstandener – Solidarität und zum Einfordern konkreter Rechte beitragen soll.8 Damit wird der aus den Militärdiktaturen überkommenen und daraus verständlichen Idee Gegensteuer gegeben, wonach das Gesetz ungerecht sei und damit nicht als Mittel zur Erreichung besserer Gerechtigkeit dienen könne.9 Es geht also um eine befreiende Theologie in demokratischen Zeiten, die den realen Armen, den Ausgeschlossenen, der »Wegwerfware« einer Gesellschaft, die nicht einmal mehr zur Produktion des Reichtums der anderen vonnöten ist, zur vollen Bürgerschaftlichkeit (cidadania, citizenship) verhelfen will. Armut ist dabei nicht nur eine soziale und wirtschaftliche, sondern auch eine politische Kategorie.10 Dies bedeutet unter anderem das Wahrnehmenkönnen eigener Rechtssubjektivität und -ansprüche, die Kenntnis des Rechts und seiner Organe, ein Grundgefühl für das Staats- als Gemeinschaftswesen, zu dem alle Staatsbürgerinnen und -bürger gehören, und natürlich ein Rechtssystem, was nicht nur für die besitzende Elite, sondern für die gesamte Bevölkerung schützend und kompensierend zur Verfügung steht. In dieser Linie ist vor allem seit der Jahrhundertwende eine unter anderem durch südafrikanische Erfahrungen und theologische Reformulierungen angeregte öffentliche Theologie entstanden, die eine Rekontextualisierung der Befreiungstheologie für unerlässlich hält.11 Sie folgt dieser im Hinblick auf die vorrangige Option für die Armen – in einem weiten Sinne verstanden als Personen, die in subalterner Position am Rande der Gesellschaft stehen – und auf die zentrale Bedeutung der Praxis nicht nur für die Anwendung, sondern für die Formulierung von Theologie. Eine öffentliche Theologie sieht die Notwendigkeit, dem veränderten Umstand des Übergangs zu demokratischen und damit grundsätzlich legitimen Staatsformen insoweit Rechnung zu tragen, als sie stärker konstruktiv und ko­operativ ins Auge fasst, welche rechtlichen, politischen und wirts chaftlichen Veränderungen zu einer effektiven Besserung des Lebensstandards vor allem der Ärmsten beitragen. Sie beschäftigt sich weiterhin mit religiöser Pluralität und Diversität, die auch und gerade unter christlichen Denominationen zu ständigen Verhandlungen nötigen. Welche Präsenz von Religion und namentlich verfassten Religionsgemeinschaften in einer demokratischen Öffentlichkeit ist in einem säkularen und religiös pluralen Staat möglich und sinnvoll?12 Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, dass viele lateinamerikanische Staaten deutlich vor den europäischen, einschließlich der Kolonialländer Spanien und Portugal, eine säkulare Verfassung annahmen und die Staatsreligion abschafften. In Gesellschaft und Politik ist die römisch-katholische Kirche dennoch nach wie vor eine sehr stark prägende Kraft; sie hat seitdem und durch den Verlust ihrer rechtlichen Vorrangstellung Ende des 19. Jh.s deutlich an Einfluss gewonnen. Brasilien freilich ist heute nicht nur das katholischste, sondern auch das am stärksten pfingstlich geprägte Land der Erde, was die enormen Veränderungen des religiösen Feldes unterstreicht und belegt.13 International werden neue Modelle für die Befreiungstheologie gesucht, die kreativ aus der Praxis entstehen und für die Praxis entwickelt werden.14 In diesen Zusammenhang gehört auch eine Theologie der Stadt, wie sie namentlich von katholischen Theologen wie José Comblin (1923–2011) seit Langem eingefordert und inzwischen auch durch umfassende Forschungen und Studien unterlegt wird.15 Angesichts der enormen, in wenigen Jahrzehnten erfolgten Verstädterung eines traditionell ländlichen Lateinamerikas mit chaotischen, von deutlichen Gegensätzen zwischen Reich und Arm und in gewissen Stadtvierteln von Drogenbanden bestimmten Verhältnissen ist das mehr als angezeigt. Mexico City und São Paulo gehören zu den größten Städten und Ballungsräumen der Welt. Luiz Carlos Susin zeichnet eine Theologie der Stadt als politische Theologie vom und im öffentlichen Raum, die von der eschatologischen Vision des neuen Jerusalem her zu betrachten ist und als geschichtliche Stadt eines prophetischen Wortes bedarf, denn Jerusalem ist etwa bei Jesaja auch die von Korruption und dem Recht des Stärkeren zerstörte Stadt.16 Dies bedarf eines Neubedenkens gerade im Hinblick auf die notwendige pastorale, praktische Di­mension einer Neuformulierung Systematischer Theologie, die diese neue Verortung des Glaubens explizit aufzunehmen und im Lichte der Tradition zu reflektieren vermag. So disloziert sich im Rahmen einer Neuinterpretation der »Zeichen der Zeit«, aber eben auch der »Zeichen der Orte«17 die Frage nach dem »Wer« oder »Was« Gottes zum »Wo« Gottes, wie es auch schon in der Befreiungstheologie prominent war und sich vor allem angesichts von Leiden in aller Dringlichkeit stellt.18 Gott in der Stadt zu entdecken, und dies auch und gerade an »befremdlichen Fundstellen für die Gottespräsenz« (Hans-Joachim Sander), bedeutet auch einen Neuzugang zum saeculum, zu einer Theologie der Weltbeziehung, die sich einreiht in eine plurale, diverse, mobile, ja flüssige Stadt, in der Kirchen zwar nach wie vor eine wichtige, für viele Menschen zentrale Rolle spielen, aber zu einer unter vielen religiösen wie nichtreligiösen Optionen geworden sind.19

Ein weiteres, wichtiges Element in der Neubestimmung befreiender Theologie sind die post- und deskolonialen Theorien. Die deskolonialen Theorien sind als lateinamerikanische, kontextuelle Kritik der und Ergänzung zu den anglophon bestimmten postkolonialen Theorien entstanden. Die Bedeutung lateinamerikanischer Menschenrechtsdiskurse schon seit dem 16. Jh. etwa ist lange weitgehend unbeachtet geblieben, ebenso wie die Verstrickung der Kolonialmächte in die Verletzung von Menschenrechten in den Kolonien, als in Europa selbst längst von »universalen« Menschen- und Bürgerrechten die Rede war. Selbst der Terminus »Menschenrechte« ( derechos humanos) findet sich bereits bei Bartolomé de las Casas (1484–1566) in der Mitte des 16. Jh.s.20 Einer der Hauptvertreter deskolonialer Theorie ist der in den USA lehrende Argentinier Walter Mignolo, der historische Erfahrungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent im kritischen Dialog mit europäischer Philosophie und afrikanischen und asiatischen Autoren und ihrem postkolonialen Denken reflektiert.21 Dabei geht es nicht darum, eine Form von lateinamerikanischer Essentialisierung vorzunehmen, sondern im Gegenteil das Augenmerk auf das Störende, Verunsichernde, die Bruchlinien und Suchbewegungen zu legen. La­teinamerika ist wie andere Kontinente auf der Suche nach seiner Identität bzw. den dort gelebten Identitäten im Plural. Zu dieser Suche gehört eine kritische Aufarbeitung der Geschichte, ihrer Wunden und der in ihr vorhandenen Abhängigkeiten.

II Theologie im Zeichen der Interkulturalität und des interreligiösen Dialogs


Eine andere Denklinie, die allerdings nur teilweise zu unterscheiden ist, weil auch sie dezidiert im Zeichen der Befreiung steht, ist der Versuch, auf vom Westen deutlich verschiedene Denk- und Lebensweisen zu reflektieren und diese in einen interkulturellen Dialog einzubringen. So hat der Schweizer katholische Theologie Josef Estermann, der viele Jahre in der Andenregion gelebt hat, ausführlich über Religion und Theologie im andinen Kontext Lateinamerikas geschrieben. Seine Forschungen und Gedanken hat er unter dem Titel »Religion und Theologie im andinen Kontext Lateinamerikas« im Rahmen der Reihe »Theologie interkulturell« des Fachbereichs Katholische Theologie der Universität Frankfurt am Main vorgetragen.22 Interkulturelle Theologie beginnt mit Fremdheitserfahrungen.23 So wird bereits aus der Kolonialzeit überliefert, der Inka Atawallpa hätte das ihm vom Pater Vincente Valverde überreichte Buch, die Bibel, zunächst an sein Ohr gehalten und dann in den Staub geworfen mit dem Hinweis »Es spricht nicht«. Valverde verstand dies als Beweis für Atawallpas Heidentum und als Rechtfertigung für die folgende gewaltsame Unterwerfung der Inkas. Aus der folgenden, asymmetrischen und dennoch kreativen Begegnung von Katholizismus mit andinen Religionsformen entstanden vielfältige Formen von Synkretismus. Dies ist zunächst nicht überraschend, zumal wenn man wie schon Pannenberg das Christentum überhaupt als synkretistisches Phänomen betrachtet.24 Es ist auch besonders gut nachvollziehbar, wenn man sich vorstellt, dass das Weiterleben andiner Religion unter Adaptation an Elemente katholischer Religion es der Bevölkerung ermöglichte, dem aufoktroyierten Glauben zu widerstehen. So hat die »Mutter Erde«, die Pachamama, die Leben ermöglicht und hervorbringt, Zeiten der Unberührbarkeit. Zu diesen gehört seit der Begegnung mit dem Christentum die Karwoche. Nach Auffassung der andinen Bevölkerung trauert Pachamama in dieser Woche um ihren Partner, so dass die Pachamama – christlich die »Jungfrau Maria« – und Jesus – andin als Schutzgeist Apu Taytayku – nicht als Mutter und Sohn, sondern als Paar gesehen werden. Man könnte das unmittelbar als Widerspruch gegen die Orthodoxie des christlichen Glaubens ansehen und in diesem Sinne zu bekämpfen suchen. Es geht aber nach Estermann um das Erkennen einer tieferen Botschaft: »das Ideal des Lebens in Fülle (in den Anden ›gut Leben‹ oder vivir bien genannt) ist in Gefahr, wenn die fundamentale Beziehung der Komplementarität gestört oder gar verunmöglicht ist, wie dies in der Karwoche symbolisch der Fall ist. Oder etwas abendländischer ausgedrückt: Erlösung ist nur möglich, wenn Himmel und Erde zusammenkommen, Bergspitzen und Pachamama, Jesus und Maria.«25 In der Tat ist das buen vivir (Sumak Kawsay), das sogar Eingang in die Staatsverfassungen Boliviens und Ekuadors gefunden hat, inzwischen auch in befreiungstheologische Debatten und in die Diskussion um Alternativen zum ökonomizistischen Modell des Spätkapitalismus aufgenommen worden.26 Gemäß Roberto Zwetsch war das darauf aufbauende »soziale, gemeinschaftliche und produktive« Wirtschaftsmodell des ersten indigenen Präsidenten Boliviens, Evo Morales, recht erfolgreich.27 Diese aus indigenen Ge­meinschaften erhobene Vorstellung eines glücklichen Lebens – ein utopischer Horizont eher denn ein konkretes Programm – stützt sich auf die Prinzipien der Gleichheit unter Respektierung der Vielfalt und gemeinschaftlichen Reziprozität auch mit den Ökosystemen der Umwelt. Von hier aus kann und soll sich ein interkultureller Dialog, oder, wie Estermann im Verein mit anderen Vertreterinnen und Vertretern dieser Richtung um den Wiener Philosophen Franz-Martin Wimmer sagt, »Polylog« ergeben, der damit beginnt, diese unbekannten und wohl für viele zunächst einmal irritierenden Stimmen zur Kenntnis und ernst zu nehmen.28

Dass Lateinamerika inzwischen nicht einfach mehr ein »katholischer Kontinent« ist – obwohl sich hier nach wie vor die größte katholische Bevölkerung weltweit findet –, ist inzwischen weit herum bekannt. Das enorme Anwachsen der Pfingstkirchen spricht für sich und hat etwa Brasilien heute in absoluten Zahlen auch zum pfingstlichsten Land der Erde werden lassen. Andere Weltreligionen wie Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus finden sich ebenfalls an verschiedenen Orten und sind zum Teil in Zunahme begriffen, sie sind aber zahlenmäßig etwa im Vergleich zu Europa noch sehr bescheiden. Wichtig ist freilich die Entde-ckung der Religionen der Urvölker, wie oben anhand von Josef Estermanns Ansatz beschrieben wurde, und der verschiedenen Synkretismen, die sich aus den verschiedenen Formen der Begegnung mit europäisch-katholischer Religion ergeben haben. Weiter zu erwähnen wären auch die afro-amerikanischen Religionen. Beide Religionsformen und ihre vielfältigen Entwicklungen sind schwer zu ergründen, weil sie keine Schriftreligionen und auch das in ihnen vorhandene religiöse Wissen und die religiöse Praxis nur be­schränkt öffentlich zugänglich sind. Die Tendenz zumal ka­tholischer Theologen ist es, die eigentlich als Bedarf auf der Hand liegende christliche Ökumene zu überspringen und sich dem interreligiösen Dialog und einer Theologie der Religionen zuzuwenden.29 Dies ist der Fall des Ansatzes zu einer »Theologie des religiösen Pluralismus« des spanischen Clarentinerpaters José Maria Vigil, der seit Jahrzehnten in Lateinamerika lebt, zunächst vor allem in Nicaragua, dann in Panamá.30 Das nach dem bekannten befreiungstheologischen Schema »Sehen, Urteilen, Handeln« aufgebaute, als theologisch-akademisch verantwortetes, aber für die Erwachsenenbildung in 24 Gruppensitzungen konzipierte Buch will sich mit der Bedeutung des Faktums des religiösen Pluralismus für die eigene, in diesem Falle katholische Religion auseinandersetzen. Dabei wird von der konkreten Lebenswirklichkeit der Beteiligten ausgegangen und diese mit Informationen und Reflexionen vertieft. Die Grundthese ist, dass alle Religionen wahr sind (zentral Kapitel 15). Im Anschluss u. a. an John Hick’s »the Real« setzt sie dabei eine Einheit der Wirklichkeit voraus, auf die die verschiedenen Religionen je auf ihre Weise zugreifen. Sie sind dabei unter sich komplementär. In Parallelität zum Missionskonzept der »Inkulturation« spricht der unter katholischen Autoren in Lateinamerika stark rezipierte spanische Theologe Andrés Torres Queiruga von »Inreligionation« (span. inreligionisación).31 Die religiöse Erfahrung des Subjekts ist in seine Kultur und Religion eingebettet und kann durch Erfahrungen und Einsichten aus anderen Religionen bereichert werden. »Religiös zu sein, bedeutet interreligiös zu sein« (K. Pathil). Daraus entsteht eine »ökumenische Bewegung« im weiten Sinne, die in Lateinamerika seit der »Versammlung des Volkes Gottes« in Quito 1992 auch als »Makroökumenismus« be­zeichnet wird, ein von Bischof Pedro Casaldáliga geprägter Begriff, einem über Jahrzehnte in Brasilien verwurzelten und intensiv mit indigenen Völkern im Kontakt und in Solidarität stehenden Spanier. In der schon für die Befreiungstheologie wichtigen Fokussierung auf das Reich Gottes, einer regnozentrischen Theologie also, wird der Kampf »für die Sache Jesu, für das Gottesreich«, das »Leben, Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Gnade«32 bringt, als makroökumenische Aufgabe par excellence verstanden. Man kann schließen, dass Religion das eigentlich Menschliche und umgekehrt ist, denn Auftrag und Sendung für jenes Gottesreich sind zutiefst menschlich. In diesem Ansatz ist auffällig, dass als Gesprächspartner zwar indigene Religionen, aber kaum afro-amerikanische in den Blick kommen, an-sons­ten aber an den weltweit betriebenen Religionsdialog vor allem mit den sogenannten – in Lateinamerika mit Ausnahme des Chris­tentums wie gesagt wenig präsenten – Weltreligionen angeknüpft wird. Zugleich kommt der höchst notwendige Dialog unter dem in La­teinamerika in sich enorm vielfältigen Christentum kaum zur Sprache. Welche Theologien finden wir in diesen neuen Ausdrucksformen des Christentums?

III Theologie im Zeichen des Geistes


Die Pfingstkirchen sind in Brasilien und überhaupt in Lateinamerika eine beachtliche Kraft geworden. Gemäß der Volkszählung von 2010 bezeichnen sich 13 % der brasilianischen Bevölkerung als Pfingstler und rund 5 % sind als »nicht definierte evangélicos« eingestuft, von denen die meisten wohl auch den Pfingstlern zuzurechnen sind. Außerdem gibt es starke charismatische Bewegungen innerhalb der historischen Kirchen, so dass die Zahl der Pfingstler noch höher einzustufen ist. Es gibt allerdings zwischen ihnen erhebliche Unterschiede, die hier nicht eingehend behandelt werden können.33 Ich werde mich auf die Assembleias de Deus (AD), die »Versammlungen Gottes« beschränken, und zwar jene, die zur Generalkonvention gehören, und darin wiederum hauptsächlich auf eine erste eigene Systematische Theologie der AD, die erstmals 2006 veröffentlicht worden ist.34 Obwohl die AD von schwedischen Missionaren gegründet worden und deren Leitung sehr bald in die Hand von Brasilianern übergegangen ist, ist der theologische Einfluss klar nordamerikanisch bestimmt. Auch die Missionare sind in der Tat durch die USA gegangen und kamen von dort nach Brasilien. Einflussreich war vor allem Nels Lawrence Olson (1910–1993) mit seiner dispensationalistischen Theologie, die von verschiedenen Phasen realisierter Eschatologie im Zusammenhang mit historischen Ereignissen ausgeht, nicht zuletzt unter Verweis auf den Traum Nebukadnezars und seine Deutung durch den Propheten Daniel.35 Freilich spielt auch das Buch der Offenbarung eine zentrale Rolle, neben weiteren Propheten wie Hesekiel, Jesaja, Sacharja und Habakuk. Die Erwartung der Endzeit, des durch den wiederkommenden Herrn als letzte Dispensation aufgebrachten tausendjährigen Reiches, der Entrückung der Gläubigen, das Gericht Jesu über ihre Taten und dem entsprechend die Übergabe des ihnen zustehenden Lohns ist zentraler Aspekt pfingstlichen Glaubens.36 In hermeneutischer Hinsicht wird die Bibel literalistisch verstanden als »Offenbarung Gottes an die Menschheit. Ihr Autor ist Gott selbst. Ihr wirklicher Ausleger ist der Heilige Geist. Sein zentraler Inhalt ist der Herr Jesus Christus«.37 Entsprechend gehören zur Eschatologie weiterhin das Gericht Jesu über die Geretteten, die große Bedrängnis (Mt 24,21), das Ende des Reiches des Antichristen, das Gericht über die Völker nach der Schlacht von Harmageddon, das Endgericht nach dem letzten Aufstand und dem Gericht über den Teufel sowie der neue Himmel und die neue Erde. Der Aufstieg Israels ist ein wichtiger Anzeiger des kommenden Endes, weswegen der Staat Israel meist mit unkritischem Wohlwollen betrachtet, unterstützt und bereist und die Schuld für die gegenwärtigen Probleme einseitig den Paläs­tinensern in die Schuhe geschoben wird. Auch der verheerende Tsunami von 2004 (unter Verweis auf Lk 21,25) wird als Zeichen der kommenden Endzeit eingestuft, ebenso wie die Zunahme der Ar­mut, von Epidemien usw. Die Naherwartung des Endes hatte lange Zeit zur Folge, dass sich Pfingstler nicht in die Politik einmischten, was sich freilich mit der Redemokratisierung und der Konstituante 1986–1987 geändert hat. Heute kann in Brasilien und auch anderen Ländern wie etwa Guatemala, das in Lateinamerika prozentual den höchsten Anteil an Pfingstchristen aufweist, keine Politik ohne die Pfingstkirchen gemacht werden; die von der AD dominierte Frente Parlamentar Evangélica (überparteiliche parlamentarische Front der evangélicos) ist eine mächtige Verbindung in beiden Parlaments­kammern Brasiliens. Auch sind die Pfingstkirchen keineswegs so untätig in der Bekämpfung der Armut und von Krankheiten, wie die genannte Position suggerieren mag. Hier wie in anderen Bereichen sind de facto Veränderungen im Gange. Die Bedeutung von Heilung und insbesondere Geistheilung in vielen Pfingstkirchen (und darüber hinaus) darf nicht unterschätzt werden, und die aus ihnen hervorgegangenen Neopfingstkirchen (s. u., IV) setzen einen ihrer Schwerpunkte in der Heilung im Hier und Jetzt.38 Dennoch spielt der Millenarismus nach wie vor eine beachtliche Rolle in den Pfingstkirchen. Im Kapitel der Teologia Sistemática Pentecostal über die Pneumatologie wird kritisch über die »Veränderungen« geschrieben als charakteristisch für die Zeit des Antichristen, worin dann die Befreiungstheologie, das Wohlstandsevangelium und die ökume-nische Bewegung negativ Platz finden. Deswegen erwarten Pfingstchristen, von der Welt schlecht behandelt zu werden, da sie sich ihr nicht anpassen (unter Verweis auf Röm 12,1 f.). Die kontrakulturelle Haltung – etwa was die Enthaltsamkeit von Rauchen, Alkohol, aber auch des Tanzens und der weltlichen Musik anbelangt – hatte schon in den von US-amerikanischen Missionaren gegründeten historischen Kirchen ihr Vorbild, wird allerdings durch die »explosionsartige« Ausbreitung des »Gospel«, der von Musik über Tanz bis zu weiteren Praktiken fast alles umfassen kann, konterkariert, indem das Weltliche sozusagen »getauft« und in die kirchliche Praxis hineingenommen wird.39 So haben wir in diesem Feld eine enorme, weiter wachsende Vielfalt, die kaum zu übersehen ist, sich ständig vermehrt, verändert und in verschiedener Weise in die Gesellschaft einbringt. Ein Spezialfall innerhalb der Pfingstbewegung sind die Neopfingstkirchen, denen ich mich jetzt zuwende.

IV Theologie im Zeichen des Wohlstands


Die neopfingstlichen Theologien kamen in Brasilien in den 1970er Jahren auf und brachten eine Reihe von heute sehr einflussreichen Kirchen hervor. Darunter ist vor allem die Universale Kirche des Reiches Gottes (Igreja Universal do Reino de Deus – IURD) zu nennen, die global in mehr als 80 Ländern präsent ist. Es handelt sich aber auch um eine Tendenz, die in vielen anderen, auch Pfingstkirchen und historischen Kirchen zu finden ist. Sie zeichnen sich namentlich durch das »health and wealth gospel« aus, das »prosperity gospel«, in dem also persönlicher Wohlstand und umfassende Gesundheit als zentrale Ziele gesehen werden. Obwohl die als neopfingstlich klassifizierten Kirchen relativ wenig bekennende Mitglieder aufweisen – die IURD etwa bemüht sich gar nicht, Ge­meinde aufzubauen, sondern ist eine Event-Kirche –, ist ihre öf­fentliche Sichtbarkeit sehr hoch, vor allem durch eine starke mediale Präsenz und große, zentral gelegene Gebäude wie jüngst der »Tempel Salomos« in São Paulo.40 Für den Gründungs- und obersten Bischof der IURD, Edir Macedo Bezerra, gilt Folgendes: »dies ist nicht ein denominationales Projekt, viel weniger noch ein persönliches, sondern etwas so Großartiges, aus einer spirituellen Sicht, dass es über die Vernunft selbst hinausgeht. Das wird gewiss den schlafenden Glauben der im Glauben Kalten oder Lauwarmen erwecken und sie in eine nationale und, dann, globale Erweckung hineinwerfen.«41 Ein klarer Anspruch mit auch politischen Obertönen.42

Zu Macedos Grundkategorien gehört der Dualismus zwischen »natürlichem« oder »emotionalem Glauben« auf der einen und »übernatürlichem« und »rationalem« Glauben auf der anderen Seite. In seinem Buch »Sind wir alle Kinder Gottes?« antwortet Macedo, dass diese Frage negativ zu beantworten sei. Nur die sind Kinder Gottes, die die Sinne durch die Vernunft, das Fleisch durch den Geist überwunden haben, die nicht aufgrund ihrer Emotionen und Gefühle (dazu wird etwa auch die Depression gerechnet, unter der Macedo einst selbst gelitten hat) leben, sondern als durch den Geist neu Geborene. Die im Geist Getauften »haben dieselbe Fähigkeit und Voraussetzungen, die Taten des Herrn Jesus zu verwirklichen und noch größere«.43 Gott habe das Leben geschaffen mit dem Ziel, »dass es in Fülle gelebt werde, d. h. mit allen seinen Rechten und Privilegien, ohne irgendeine Form von Not, Angst oder Sorge«44. Die wahren Kinder Gottes sollen und müssen dabei zu ihrem Recht kommen und sollen nicht wie Bettler leben, denn zur Fülle des Lebens gehöre auch finanzielles Wohlergehen. Dabei wird die Es­chatologie in die Gegenwart hinein aufgelöst: Jetzt und hier soll der Gläubige seine Existenz zum Guten verändern und das entfernen, was ihn zu seinem Glück hindert. Das Reich der Dunkelheit und das Reich Gottes stehen in dieser Welt und in dieser Zeit im Widerstreit. Kind Gottes zu sein bedingt Opfer, die als Ausdruck festen Glaubens vor allem in Form von Geldspenden an die Kirche erfolgen, wobei in vielfacher Hinsicht – nicht nur in der IURD – die Verse des Propheten Maleachi zentral sind: »Bringt aber die Zehnten in voller Höhe in mein Vorratshaus, auf dass in meinem Hause Speise sei, und prüft mich hiermit, spricht der HERR Zebaoth, ob ich euch dann nicht des Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die Fülle.« (Mal 3,10) Glaube ist dabei etwas zu Leis­tendes: Er ist die Voraussetzung zur wahren Taufe und muss durch Konsequenzen in der Lebensführung erwiesen werden. Ge­genüber den klassischen Pfingstkirchen werden ebendiese Früchte des Geis­tes hervorgehoben, während das Zungenreden als Illusion bezeichnet wird. Hermeneutisch verfolgt Macedo einen literalistischen Biblizismus, der von einer göttlichen Inspiration des jeweiligen Autors ausgeht und vor allem die Verheißungen Gottes wörtlich und präsentisch nimmt. Zweifel sind hier wie in der Praxis der Kirche nicht vorgesehen. Wie bei allen Literalismen ist aber die Auswahl der entsprechenden Bibelstellen sehr selektiv, was sich auch in den Gottesdiensten der IURD widerspiegelt. Es geht in den Predigten dort nicht um kursorische Auslegung, sondern um das Wei-tergeben der Grundbotschaft aufgrund relativ weniger biblischer Bezüge .

In der Regel werden eher Studien über den Neopentekostalismus zitiert als dessen Autoren selbst, was freilich auch damit zu tun hat, dass wenig Eigenreflexion stattfindet und die vorhandenen Schriften programmatischen und populären und nicht wissenschaftlichen Charakter haben. Hier habe ich demgegenüber be­wusst einen prominenten Vertreter des Neopentekostalismus zu Wort kommen lassen. Dennoch müssen seine Aussagen mit wissenschaftlichen Studien und dem wirklichen öffentlichen Auftreten Macedos und seiner Kirche abgeglichen werden. Es muss auch in Anschlag gebracht werden, dass es Macedo darum zu tun ist, sich stets deutlich anders als die römisch-katholische Kirche und zu­gleich als führende Kraft innerhalb der evangélico Kirchen – »evangelische« Kirchen, mit denen vor allem die Pfingstkirchen gemeint sind – zu positionieren. Darum kann er in moralischen Themen, die in den anderen Kirchen, sowohl der katholischen als auch der evangélicos, weitgehend Konsens sind, auch abweichen, etwa was den Schwangerschaftsabbruch betrifft, zu dem er sich recht liberal verhält und darum von Politikern, Medizinern und Juristen gerne hofiert wird.

So ergibt sich insgesamt für die Theologie in Lateinamerika, ob sie nun explizit als akademische Theologie betrieben oder in Ab­grenzung zur Akademie als populäre und geistlich reichhaltige Theologie vertreten wird, ein sehr vielfältiges, ja widersprüchliches Bild. Es entspricht der enormen religiösen Mobilität, wie sie auch aus Afrika bekannt ist und in der Tat in gewisser Verbindung steht.45 Wir haben heute Zugang zu Primärliteratur, wie es sie vor noch nicht allzu langer Zeit nicht gab, was einen solchen Überblicksartikel erst ermöglicht. Eine kritische und selbstkritische Reflexion ist vor allem in den klassischen Pfingstkirchen wie der Assembleia de Deus im Kommen. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal, das weiterer Beobachtung und theologischer Reflexion bedarf, ist die Eschatologie: Von einem weltflüchtigen Millenarismus bis zu einer in die Gegenwart hinein aufgehobenen Eschatologie einerseits, einem interreligiösen Regnozentrismus andererseits ist alles zu finden. Theologie in Lateinamerika bleibt so spannend wie spannungsvoll.

Abstract


Theology in Latin America has usually been identified with the Theology of Liberation. Indeed, in Latin America as elsewhere, such theology is still vigorously present. However, there are other tendencies that are to be seen, reflecting the high religious diversity and mobility in Latin America. The present article presents four selective, but representative tendencies: theology in the sign of liberation (1) as a theology of citizenship, as public theology and theology of the city; theology in the sign of interculturality and interreligious dialogue (2) as Andine theology and macroecumeni cal theology; theology in the sign of the Spirit (3) as Pentecostal theology, more and more inserted in this world and no longer only otherworldly, and theology in the sign of health and wealth (4), a growing and publicly dominant tendency reflecting social upward mobility or the desire for it. Theology in Latin America remains highly interesting and full of tensions.

*) Dr. theol. habil., Professor für Systematische Theologie, Ökumene und interreligiösen Dialog an der Faculdades EST (ehemals Escola Superior de Teologia) in São Leopoldo, Rio Grande do Sul, Brasilien, und Direktor des dortigen Ethik-Instituts; Professor Extraordinary an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch, Südafrika; Forschungsstipendiat CAPES/Humboldt 2013–2016 an der Georg-August-Universität Göttingen und der Ludwig-Maximilians-Universität München. – Ich danke der Postdoktorandin Dr. Nívia Ivette Nuñez de La Paz, meiner früheren Doktorandin Dr. Eneida Jacobsen und dem derzeitigen Doktoranden Raphaelson Steven Zilse im Rahmen unseres Austauschs am Institut für ihre wertvollen Beiträge und Anfragen zu diesem Artikel, ebenso meinen Kollegen Prof. Dres. Enio Ronald Müller, Franz Gmainer-Pranzl, Martin Dietz und Vítor Westhelle für ihre Kommentare und Anregungen.

Fussnoten:

1) Siehe http://justicepaix.org, Zugriff am 31.8.2016; Marcella Althaus-Reid, Ivan Petrella and Luiz Carlos Susin (Eds.), Another Possible World, London 2007; Mary N. Getui, Luiz Carlos Susin and Beatrice W. Churu (Eds.), Spirituality for Another Possible World, Nairobi 2008; Gerald M. Boodoo (Ed.), Religion, Human Dignity and Liberation, São Leopoldo 2016.
2) Vgl. Rudolf von Sinner, The Churches and Democracy in Brazil. Towards a Public Theology Focused on Citizenship, Eugene, Or. 2012.
3) Vgl. Tim Chester (Ed.), Justice, Mercy and Humility. Integral Mission and the Poor, Milton Keynes 2003; C. Rene Padilla, Mission between the Times. Essays on the Kingdom, 2nd, revised edition, Langham 2010.
4) Vgl. etwa Isael de Araújo, Dicionário do Movimento Pentecostal, Rio de Janeiro 2007; Antonio Gilberto et al., Teologia Sistemática Pentecostal, Rio de Janeiro 2008.
5) Vgl. Sinner, The Churches and Democracy (Anm. 2), 336–342; die Leitlinien finden sich auf http://portal.mec.gov.br/index.php?option=com_docman& view=download&alias=16071-pces060-14-1&Itemid=30192 und ihre Sanktionierung durch den Minister für Bildung und Erziehung wurden am 8.9.2016 im Bundesblatt n° 173, 8, veröffentlicht, http://pesquisa.in.gov.br/imprensa/jsp/visualiza/index. jsp?jornal=1&pagina=8&data=08/09/2016 (Zugriff am 10.12.2016).
6) Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Florian Höhne u. Tobias Reitmeier (Hrsg.), Contextuality and Intercontextuality in Public Theology (Theologie in der Öffentlichkeit, 4), Münster 2013.
7) Vgl. etwa Ignácio Ellacuria u. Jon Sobrino (Hrsg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, 2 Bde., Luzern 1995–1996; Raúl Fornet-Betancourt (Hrsg.), Befreiungstheologie. Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft, 3 Bde., Mainz 1997; jetzt auch den Überblick bei Bruno Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen 2013.
8) Hugo Assmann, Teologia da Solidariedade e da Cidadania. ou seja: continuando a Teologia da libertação, in: Ders., Crítica à Lógica da Exclusão, São Paulo 1994, 13–36. Assmann hat mit gewisser Folgerichtigkeit dann auch aus der Theologie zu den Erziehungswissenschaften gewechselt.
9) Vgl. etwa Elsa Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod: Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998.
10) Vgl. Roberto E. Zwetsch, Armut und Reichtum im urbanen Kontext, in: Franz Gmainer-Pranzl u. Eneida Jacobsen (Hrsg.), Deslocamentos – Verschiebungen theologischer Erkenntnis. Ein ökumenisches und interkulturelles Projekt (STSud 54, STSud.I 16). Salzburg 2015, 79–121, hier 86, Maria Carmelita Yasbek zitierend. Vgl. auch schon die Heidelberger Dissertation des brasilianischen lutherischen Alttestamentlers Milton Schwantes, Das Recht der Armen, Frankfurt am Main 1977. Zu Stadt, Bürgerschaftlichkeit und Kirche vgl. etwa Carlos M. Galli, Der Christus Gottes ist und wohnt in der Stadt, in: Eckholt, Margit u. Stefan Silber[Hrsg.]: Glauben in Mega-Citys. Transformationsprozesse in lateinamerikanischen Großstädten und ihre Auswirkungen auf die Pastoral. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2014. 483 S. = Forum Weltkirche – Entwicklung und Frieden, 14. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7867-3011-8, hier: 226–274, vor allem 248–253.
11) Vgl. in globaler Weite Florian Höhne u. Frederike van Oorschot (Hrsg.), Grundtexte: Öffentliche Theologie, Leipzig 2015.
12) Vgl. Rudolf von Sinner u. Ronaldo Cavalcante (Guest Eds.), Special Issue – Public Theology in Brazil, International Journal of Public Theology 6/1 (2012), 1–130; Eneida Jacobsen, Rudolf von Sinner u. Roberto E. Zwetsch (Hrsg.), Public Theology in Brazil – Social and Cultural Challenges (Theologie in der Öffentlichkeit, 6), Münster 2013.
13) Vgl. Rudolf von Sinner (unter Mitarbeit v. Oneide Bobsin u. Alessandro Bartz), Religiöse Mobilität in Brasilien, in: Christine Lienemann-Perrin u. Wolfgang Lienemann (Hrsg.) Religiöse Grenzüberschreitungen. Studien zu Bekehrung, Konfessions- und Religionswechsel, Wiesbaden 2012, 477–505 (Lit.).
14) Vgl. Thia Cooper (Hrsg.), The reemergence of Liberation Theologies: Models for the Twenty-First Century, New York 2013.
15) Eckholt/Silber, Glauben in Mega-Citys (Anm. 10); José Comblin, Teología de la ciudad, Estella 1972; ders., Called For Freedom. The Changing Context of Liberation Theology, Maryknoll 1998.
16) Luiz Carlos Susin, Die Stadt, die Gott will. Ein Platz und ein Tisch für alle, in: Eckholt/Silber, Glauben in Mega-Citys (Anm. 10), 275–287.
17) Vgl. Vítor Westhelle, Os sinais dos lugares: as dimensões esquecidas, in Martin Norberto Dreher (Hrsg.), Peregrinação. FS Joachim Herbert Fischer, São Leopoldo 1990, 255–268; ders., Eschatology and Space: The Lost Dimension in Theology Past and Present, New York 2012.
18) Galli, Der Christus Gottes (Anm. 10), vor allem 233 f.; vgl. Hans-Joachim Sander, Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006; protestantischerseits etwa Roberto E. Zwetsch (Hrsg.), Cenários urbanos: realidade e esperança. Desafios às comunidades cristãs, São Leopoldo 2014.
19) Vgl. hierzu auch Franz Gmainer-Pranzl, Welt-Theologie. Verantwortung des christlichen Glaubens in globaler Perspektive, Interkulturelle Theologie - Zeitschrift für Missionswissenschaft 38 (2012), 408-432, sowie das österreichisch-brasilianische Kooperationsprojekt Deslocamentos, in: Franz Gmainer-Pranzl/ Eneida Jacobsen (Hrsg.), Deslocamentos – Verschiebungen theologischer Erkenntnis. Ein ökumenisches und interkulturelles Projekt, Innsbruck/Wien 2016. Hans-Joachim Sander, Die Zeichen der Zeit und der Stadtbewohner Gott. Zur urbanen Topologie des christlichen Glaubens, 123–136, spricht dort etwa von »räumlichen Relativierungsschüben« (128, Anm. 8) und sich Heterotopien auszusetzen, »Anders-Orten«; die »befremdlichen Fundstellen« 130.
20) Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Indiosklaverei, in: Werkauswahl Bd. 3/1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. v. Mariano Delgado, Paderborn 1996, 82.
21) Walter D. Mignolo, Local Histories, Global Design. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Reissue with a new preface, Princeton 2012; vgl. jetzt Heike Walz, Menschenrechte in Argentinien zwischen Religion und Gesellschaft. Postkoloniale Perspektiven für Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie. Noch unveröffentlichte Habilitationsschrift, Humboldt-Universität Berlin: Evangelisch-Theologische Fakultät, 2015.
22) Estermann, Josef: Apu Taytayku. Religion und Theologie im andinen Kontext Lateinamerikas. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2012. 224 S. m. Abb. u. Ktn. = Theologie interkulturell, 23. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-7867-2930-3.
23) Siehe hierzu auch die Arbeiten des in Deutschland lebenden Kubaners Raúl Fornet-Betancourt, etwa: Lateinamerikanische Philosophie zwischen Inkulturation und Interkulturalität, Frankfurt am Main 1997; Michelle Becka, Interkulturalität im Denken Raúl Fornet-Betancourts, Nordhausen 2007; neuerdings Roberto E. Zwetsch (Hrsg.), Conviver. Ensaios para uma teologia intercultural latino-americana, São Leopoldo 2015.
24) Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, Göttingen 1967.
25) Estermann, Apu Taytayku (Anm. 22), 57.
26) In Ekuador ist die Rede vom »Sozialismus des guten Lebens«. Vgl. Giuseppe De Marzo, Buen vivir. Para una democracia de la Tierra, La Paz 2010.
27) Zwetsch, Armut und Reichtum im urbanen Kontext (Anm. 10), 118–120.
28) Vgl. die seit 1998 herausgegebene Zeitschrift Polylog, www.polylog.net (Zugriff am 3.6.2016).
29) Vgl. in diese Richtung auch die verschiedenen Sammelbände einer pluralistischen Theologie der Befreiung, etwa Luiza E. Tomita, José M. Vigil u. Marcelo Barros (Hrsg.), Teologia latino-americana pluralista da libertação, São Paulo 2006.
30) Vigil, José Maria: Theologie des religiösen Pluralismus. Eine lateinamerikanische Perspektive. Hrsg. v. U. Winkler. Übers. v. H. Büchel. Innsbruck u. a.: Tyrolia Verlag 2013. 492 S. = Salzburger Theologische Studien, 48. Salzburger Theologische Studien Interkulturell, 12. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7022-3193-4.
31) Andrés Torres Queiruga, Cristianismo y religiones: »Inreligionación« y cristianismo assimétrico, in: Sal Terrae 997 (1997), 3–19; ders., El diálogo de las religiones, Santander 1999.
32) Vigil, Theologie des religiösen Pluralismus (Anm. 30), 348.
33) Vgl. Cecil M. Robeck, Jr. u. Amos Young (Hrsg.), The Cambridge Companion to Pentecostalism, New York 2014; Rudolf von Sinner, Pfingstbewegung und Bürgerrechte in Brasilien – zwischen Weltflucht und Dominanz, in ThLZ 137 [2012], H. 5, 507–522; Peter Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009; Richard Shaull u. Waldo Cesar, Pentecostalism and the Future of the Christian Churches: Promises, Limiations, Challenges, Grand Rapids, 2000. – Für diesen und den folgenden Abschnitt danke ich sehr für die Zuarbeit von Raphaelson Steven Zilse, der selbst aus der Assembleia de Deus stammt, aber bisher an lutherischen Hochschulen studiert hat und sich zurzeit, neben deskolonialen und lateinamerikanischen Ansätzen, in die Theologie Schleiermachers vertieft.
34) Gilberto et al., Teologia sistemática pentecostal (Anm. 4).
35) O plano divino através dos séculos, Rio de Janeiro 141994. Ein weiteres, recht dialogisches Werk ist die von Stanley Horton herausgegebene Systematische Theologie, eine Übersetzung aus dem Amerikanischen: Stanley M. Horton (Hrsg.), Teologia Sistemática. Uma Perspectiva Pentecostal [1994], übers. v. Gordon Chown, Rio de Janeiro 1996.
36) Hierzu Ciro Sanches Zibordi, Escatologia – a Doutrina das Últimas Coisas, in: Gilberto et al., Teologia sistemática pentecostal (Anm. 4), 483–560.
37) Antonio Gilberto, zitiert von Claudionor Andrade, Bibliologia – a Doutrina das Escrituras, in: Gilberto et al., Teologia Sistemática Pentecostal (Anm. 4), 17–48, hier 26.
38) Vgl. etwa João C. Schmidt, Wohlstand, Gesundheit und Glück im Reich Gottes: Eine Studie zur Deutung der brasilianischen neupfingstlerischen Kirche Igreja Universal do Reino de Deus, Münster 2006.
39) Vgl. Magali do Nascimento Cunha, Explosão Gospel. Um olhar das ciências humanas sobre o cenário evangélico no Brasil, Rio de Janeiro 2007.
40) http://sites.universal.org/templodesalomao/, Zugriff am 5.9.2016. Vgl. auch Simon Coleman, The Globalisation of Charismatic Christianity: Spreading the Gospel of Prosperity, Cambridge 2000; André Corten, Jean-Pierre Dozon u. Ari Pedro Oro (Hrsg.), Les nouveaux conquérants de la foi: l´église universelle du royaume de Dieu (Brésil), Paris 2013; Andreas Heuser (Hrsg.), Pastures of Plenty: Trac-ing Religio-Scapes of Prosperity Theologies in Africa – and Beyond, Frankfurt u. a. 2015.
41) http://www.otemplodesalomao.com/#/otemplo, Zugriff am 14.11.2014.
42) Vgl. etwa Paul Freston, Evangelicals and Politics in Asia, Africa and Latin America, Cambridge 2001, 11–60; Rudolf von Sinner, »Struggling with Africa«: Theology of Prosperity in and from Brazil, in: Heuser, Pastures of Plenty (Anm. 40), 117–130.
43) Edir Macedo, O poder sobrenatural da fé, Rio de Janeiro 2003, 64.
44) A. a. O., 71.
45) Vgl. Sinner, »Struggling with Africa« (Anm. 42).