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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

582–584

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schaeder, Hildegard

Titel/Untertitel:

Impulse für die evangelisch-orthodoxe Begegnung. Ausgewählte Schriften von 1949 bis 1972. Hrsg. v. K. Pinggéra, J. Wasmuth u. Ch. Weise. M. e. biographischen Hinführung v. G. Bauer.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2016. 252 S. = Forum Orthodoxe Theologie, 17. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-13529-2.

Rezensent:

Martin Illert

Die ökumenischen Beziehungen der EKD zum Moskauer Patriarchat zwischen 1948 und 1970 gestaltete die Osteuropahistorikerin Hildegard Schaeder (1902–1984) auf der operativen Ebene mit. Als Referentin für orthodoxe Kirchen im Kirchlichen Außenamt der EKD in Frankfurt am Main organisierte S. u. a. den spektakulären Moskau-Besuch Niemöllers (1952), die Reise Heinemanns (1954) in die Sowjetunion und die drei ersten bilateralen theologischen Dialoge zwischen EKD und Moskau 1959, 1963 und 1967. Als S. 1948 auf Initiative Niemöllers im Frankfurter Außenamt angestellt wurde, verfügte sie über eine bemerkenswerte fachliche Qualifikation durch ihre Dissertation zum theologisch-politischen Motivkomplex »Moskau, das dritte Rom« und mehrere im Auftrag des »Geheimen Preußischen Staatsarchiv« verfasste Studien zur Siedlungsgeschichte Osteuropas. S.s ökumenische Vision war von der Erfahrung interkonfessioneller Solidarität während ihrer zweijährigen Haft im KZ Ravensbrück geprägt.
Der Band enthält vor allem solche Arbeiten S.s, die in das Vorfeld der 1959 erfolgten Dialogaufnahme der EKD mit dem Moskauer Patriarchat fallen. Den Aufsätzen sind Übersichten zu S.s Publikationen und ihren Lehrangeboten als Frankfurter Honorarprofessorin sowie ein Personenregister beigefügt. Die Konzentration auf die Aufsätze der 1950er Jahre ist deshalb gerechtfertigt, weil die vor 1943 verfassten Arbeiten S.s bereits in der Bielefelder Dissertation Heike Anke Bergers von 2007 einer kritischen Würdigung unterzogen worden sind und die nach 1963 verfassten Arbeiten S.s in eine Phase des schwindenden Einflusses der Orthodoxiereferentin auf die Gestaltung der Dialoge fallen. In ihrer umfangreichen »Hinführung« zum Werk der »Osteuropahistorikerin, bekennende[r] Christin und Ökumenikerin« beschreibt G. Bauer S. treffend als Teil eines Netzwerkes der »Bekennenden Kirche«, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeit des Kirchlichen Außenamtes prägte (38). Die unter Niemöller praktizierte Eigenständigkeit des Außenamtes nicht allein gegenüber den staatlichen Instanzen, sondern auch gegenüber kirchlichen Gremien wie dem Rat der EKD, stellt Bauer dabei deutlich heraus (45).
Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Kirchen-Staats-Verhältnis in der Sowjetunion. Eine zweite Gruppe nimmt die Rolle des Moskauer Patriarchats in der Ökumenischen Bewegung in den Blick. Einzelne Beiträge widmen sich darüber hinaus liturgischen Fragen und der hesychastischen Theologie. Um die Ausführungen S.s in ihre wissenschaftlichen, kirchlichen und ökumenischen Kontexte einzuordnen, zieht B. mit Gewinn unveröffentlichte Zeugnisse S.s aus dem EZA Berlin und aus dem Zentralarchiv der EKHN in Darmstadt heran. Zusätzlich hätte die staatliche Perspektive auf sowjetischer Seite durch eine Charakteristik S.s in einem KGB-Bericht aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR eingebracht werden können (BStU HA XX/4 236).
Mit Blick auf die hier veröffentlichten Aufsätze erscheint die im Vorwort von den Herausgebern formulierte Kritik, S. habe gemeinsam mit anderen Vertretern des deutschen Protestantismus der 1950er und 1960er Jahre »eklatant unkritische Einschätzungen zum Ausmaß der Religionsfreiheit in der Sowjetunion« gepflegt (4), zunächst plausibel. Vor dem Hintergrund der Archivdokumente ist die Annahme, S. habe das Ausmaß der Repression nicht wahrgenommen, jedoch nicht aufrechtzuerhalten. So bestätigte S. beispielsweise am 27. November 1963 gegenüber dem Rat der EKD und am 17. Januar 1964 gegenüber epd, dass die Berichte über die Be­drückung der Religion in der Sowjetunion »den offenkundigen Tatsachen« entsprächen, wie die Akten des EZA belegen (EZA 2/1763 bzw. EZA 6/6216). Hilfreicher als das Pauschalurteil der Herausgeber ist deshalb die Beobachtung Bauers, S. habe es im Sinne von »Strategien ›versteckten Schreibens‹« (54) vermieden, in Publikationen Kritik an der ihr bekannten Unterdrückung der Religion in der Sowjetunion zu üben. S.s Absicht, sich vom innerevangelischen Antikommunismus der 1950er Jahre abzugrenzen, der weder davor zurückschreckte, von einer »sowjetisch-orthodoxen Kirche« zu sprechen, noch den Vergleich des Moskauer Patriarchats mit den »Deutschen Christen« scheute, dürfte ein Grund für diese Kommunikationsstrategie gewesen sein. Darüber hinaus wäre zu untersuchen, inwieweit das Motiv einer institutionellen Selbstreinigung für das Handeln des Kirchlichen Außenamtes nach 1945 eine Rolle spielte. Zugleich mit ihrem Werben für einen Dialog mit dem Moskauer Patriarchat votierte S. nämlich nachdrücklich für die Beendigung der bis 1945 im Geiste der NS-Kirchenpolitik gepflegten und gegen das Moskauer Patriarchat gerichteten Zusammenarbeit zwischen der evangelischen Kirche und der antikommunistischen Russischen Auslandskirche.
Aus der Sicht des Rezensenten ist es eine offene Frage, ob die Aufsätze S.s auch heute noch »Impulse für die evangelisch-orthodoxe Begegnung« geben können, wie dies der Titel des Bandes nahelegt. Wo in ihnen die Theologie des Hesychasmus mitsamt ihren ökumenischen Potentialen erörtert wird, wie etwa im Aufsatz von 1956 zum Glaubensbekenntnis des Gregor Palamas, mag man kritisch darauf hinweisen, dass EKD und Moskauer Patriarchat seit langer Zeit dem Bereich der Dogmatik nur geringe Aufmerksamkeit widmen und sich ganz auf den Bereich der Sozialethik konzentrieren. Wo die Aufsätze das Verhältnis von Kirche und Staat in der Sowjetunion in den Blick nehmen, wirkt die Neigung S.s problematisch, scheinbar voreilig Entsprechungen zwischen Byzanz und der sowjetischen Gegenwart zu konstruieren, um diese dann kirchenpolitisch und ökumenisch zu verwerten. Angemessener als die Erwartung von Impulsen für den bilateralen Dialog ist deshalb der von den Herausgebern im Vorwort zum Ausdruck gebrachte Wunsch einer innerevangelischen Diskussion »über Sinn, Grenze und Eigenart dieses ökumenischen Erbes« (2). Für einen solchen Leserkreis bleibt aus Sicht des Rezensenten tatsächlich ein Gedanke, den S. in mehreren der hier vorgelegten Aufsätze entfaltet, bis heute relevant: Gegen die Mehrheit ihrer Zeitgenossen war die Osteuropahistorikerin der Ansicht, dass das Moskauer Patriarchat gegenüber dem sowjetischen Staat ebenso wie gegenüber den anderen christlichen Kirchen eine eigene theologisch begründete Agenda vertrat, die nicht mit der Umsetzung politischer Vorgaben der sowjetischen Führung identisch war. Angesichts einer aktuellen Renaissance von Orthodoxie-Stereotypen vor dem Hintergrund der politischen Spannungen zwischen Ost und West hat dieser Gedanke S.s wieder Beachtung verdient.