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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1158–1161

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Zehner, Joachim

Titel/Untertitel:

Das Forum der Vergebung in der Kirche. Studien zum Verhältnis von Sündenvergebung und Recht.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 520 S. gr.8 = Öffentliche Theologie, 10. Kart. DM 78,-. ISBN 3-579-00392-5.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Die umfangreiche und breit gefächerte Studie zum Thema Sündenvergebung von Joachim Zehner, die 1997 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen wurde, ist geleitet von der Beobachtung, daß Sündenvergebung in der kirchlichen Praxis im Gegensatz zur neutestamentlichen Botschaft nur noch einen marginalen Stellenwert einnimmt (49; 418). Für die Kirche sei das Amt der Schlüssel in der Gemeinde ein Rätsel geworden (11f.; 443). Diesem Mißstand möchte Z. durch "einen systematisch-theologischen Beitrag" begegnen, der zur Erneuerung der theologischen Rede von der Sündenvergebung "in ihrer vertikalen und horizontalen Dimension" und damit zugleich zu neuer Erfahrung von Sündenvergebung in den Gemeinden verhelfen soll (49). Aufgabe der Systematischen Theologie sei es, "nicht nur vom Neuen Testament her (zu) postulieren, sondern auch auf(zu)zeigen, wie die Vollmacht zu vergeben und das Gebot untereinander zu vergeben, heute Wirklichkeit werden kann" (102 f.). Der Akzent der Studie liegt dabei entschieden auf der horizontalen Dimension der Sündenvergebung, d. h. auf der zwischenmenschlichen Vergebung und ihrer "gesellschaftserneuernden Funktion" (111), die ihrerseits auf die Notwendigkeit eines kirchlichen Forums der Vergebung verweise (vgl. 243 ff.; 420). Die im Rekurs auf den religionspädagogischen Umgang mit dem Thema der Sündenvergebung (17-40) präzisierte Aufgabenstellung (vgl. die Einführung, 11-51) wird im ersten Teil der Studie in Angriff genommen durch den Aufweis der gesellschaftlichen Dimension von Vergebung (57-173) mit dem Ziel, die Rede von der Sündenvergebung durch straf- und völkerrechtliche Beispiele "an der ,Wirklichkeitserfahrung’ zu ,verifizieren’".

Mit diesem Versuch orientiert sich Z. an Gerhard Ebeling (vgl. 55, Anm. 4 den Verweis auf Wort und Glaube Bd. 3, 173-204), der allerdings nicht die Rede von der Sündenvergebung, sondern das "Reden von der Sünde ... an der Breite der Wirklichkeitserfahrung verifiziert" sehen wollte und dafür das offene Gespräch mit den Humanwissenschaften empfahl. Fraglich ist aber, ob sich dieses Vorgehen auf die Rede von der Sündenvergebung übertragen läßt. Die von Z. im folgenden präsentierte Analyse des Täter-Opfer-Ausgleichs (64-75) und die Verjährungsdebatte (76-91) im strafrechtlichen Bereich, der deutsch-französischen Versöhnung und des Abkommens von Camp David auf völkerrechtlicher Ebene eröffnet zwar die Möglichkeit, das Phänomen der Vergebung wahrzunehmen. Eine ,Verifikation der Rede von der Sündenvergebung an der Wirklichkeitserfahrung’ im strengen Sinne ist dabei nach meinem Urteil aber schwierig, weil in den angeführten Beispielen die Rede von Sündenvergebung explizit kaum vorkommt.

Aus der materialen Analyse der strafrechtlichen Beispiele entwickelt Z. die Leitgedanken, "daß zwischen der kirchlichen Rede von göttlicher Sündenvergebung, der menschlichen Vergebung und dem Recht ein unauflöslicher Zusammenhang" bestehe (93), gleichzeitig aber "zwischen göttlicher und menschlicher Vergebung deutlich unterschieden werden" müsse, "ohne sie zu trennen" (100), und daß die Gesellschaft "ein vom Staat getrenntes kirchliches Forum der Vergebung" benötige (101). Im Rückgriff auf das Programm des Kommunitarismus (102 ff., bes. 105) fordert Z. sodann, die Kirche müsse "ein ihr angemessenes Forum schaffen" (109), welches "die Letztbegründung der ethischen Werte in ... der Vorstellung des Guten" gewährleiste und Vergebung als "Moment des gemeinschaftlichen Austauschs und des menschlichen Einbringens dieser Werte" vermittele (110).

Auf völkerrechtlicher Ebene wertet Z. die deutsch-französische Versöhnung 1950-1963 (117-133) als ein klares Beispiel für eine Versöhnungspolitik mit Bezug zur christlichen Sündenvergebung (127), während er in der Verständigung von Camp David (134-153) Vergebung nur ansatzweise gegeben findet, weil hier "Schuldeinsicht und Schuldeingeständnis sowie Wiedergutmachung als Zeichen tätiger Reue" (147) fehlten. Solle "die befreiende Kraft der Vergebung" auch zwischen Völkern verschiedener Religionen wirksam werden, so bedürfe es "eines ethischen Grundkonsenses der Religionen", der zu ermitteln erlaube, "was Schuld ist" (152). Auf dieser Basis ließe sich - das ist ein wesentliches Anliegen Z.s - "die friedensstiftende Funktion der Vergebung ... auch Nichtchristen einsichtig" machen (152). Z. setzt dabei voraus, daß "die gesellschaftliche Bedeutung von Vergebung ... auch ohne christlichen Glauben einsichtig" ist, zumal der "im Christentum zentrale Gedanke der Vergebung" sich "in abgeschwächter Form auch in anderen Religionen" fände (156).

Nachdem Zehner im ersten Teil der Arbeit "das Phänomen menschlicher Vergebung" in seiner gesellschaftlichen Relevanz aufgezeigt hat, geht es ihm im zweiten Teil darum, die Bedingungen für den "Empfang der Vergebung in der Kirche und ihre Weitergabe" (177-239) zu klären. Als systematisch-theologische Basis wird hier das Projekt "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" ausgewertet. Die dort erreichte "Klärung konfessioneller Verwerfungen" legt Z. zunächst als einen "Schritt zur innerkirchlichen Vergebung" aus (179 ff.). Den Ausführungen zur Rechtfertigungslehre, die er im Durchgang durch die Unterscheidungslehren sorgfältig analysiert und zustimmend rezipiert, versucht er sodann eine Deutung für den "inneren Zusammenhang zwischen der Vergebung als Moment der Rechtfertigung des Sünders und der zwischenmenschlichen Vergebung" zu entnehmen (179; vgl. 184.185-204). Dabei greift er zwar die Einsicht auf, daß Sündenvergebung "streng genommen nur ein Teil der Rechtfertigung" sei (189; 197), bringt diese dann aber doch im Gesamtduktus seiner Arbeit nicht zum Zuge, indem er Vergebung faktisch als Zentralthema christlichen Glaubens und kirchlichen Handelns darstellt. Für die im weiteren Fortgang des Kapitels aufgeworfenen Fragen, wie, wo und von wem Sünden vergeben werden, macht sich Z. die ökumenische Verständigung in der Sakramentenlehre und in der Amtsfrage (205-220; 221-227; 227-231) zunutze, um "die Vergebung im umfassenden Sinne in den kirchlichen Vollzügen wieder praktizieren und einlösen zu lernen" (244).

Wie das konkret aussehen soll, zeigt der dritte Teil der Arbeit über das "kirchliche Forum der Vergebung" (243-415). Die Aufgabe sieht Z. hier darin, "Sündenvergebung ... in ihrer geistlichen Tiefe zu erkennen und zu begreifen" (173), "die Orte der Sündenvergebung in der Kirche systematisch-theologisch zu bestimmen" (246) und von da aus den "Zuspruch der Sündenvergebung in den kirchlichen Vollzügen und die Schulderfahrung im gesellschaftlich-menschlichen Alltag überzeugend zusammenzudenken" (411).

"Die konstitutiven kirchlichen Vollzüge" sind nach Z. "die Formen und das Forum (der Vergebung) in der Gemeinde. Sie nehmen mich in Gottes Vergebung hinein und machen so fähig zum Vergeben oder zum Schuldeingeständnis und zur Bitte um Vergebung." Die Kirche als Forum der Vergebung wird dabei von Z. nicht als "zivilreligiöses Phänomen" (249) verstanden; sie sei vielmehr eine "frei zu wählende, nicht in das politische System integrierte ... Einrichtung" (249), die konstituiert werde "durch Taufe und Abendmahl sowie durch aus der Taufe resultierende Merkmale wie den Versöhnungsweg und die Beichte" (243).

Als dogmatischen Ertrag seiner Studie formuliert Z. rückblickend, "daß Sündenvergebung (wieder) in den Zusammenhang" der "grundlegenden kirchlichen Vollzüge", nämlich Taufe und Abendmahl, "gebracht und in seinem Vollzug durchdacht worden ist" (431). Durch die Feier des Gottesdienstes mit dem liturgischen Zielpunkt des Abendmahls (402; 432) werde die Kirche dabei selbst "Ort und Mittel des Friedens" (400 ff.). Von da aus lasse sich "auch das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit" grundlegend überdenken, und zwar in dem Sinne, daß nach "dem Prinzip der Subsidiarität ... das Forum der Vergebung mit dem Ordnungsgefüge der Gesellschaft" zu verbinden wäre (408). "Subsidiarität hieße, der Staat und das staatliche Recht sollen nicht mehr in jedem Falle eingreifen" (409). Der von Z. angestrebten Zusammenschau von Sündenvergebung Gottes und zwischenmenschlicher Vergebung entspricht es dabei, daß ihm die Unterscheidung von weltimmanent gedachter, "menschlich wiedergutzumachender Schuld" und "nicht mehr wiedergutzumachender Sünde" vor Gott fragwürdig erscheint (392 f.), und daß nach seinem Verständnis "Sünde auch mit Moral" - im Sinne der von einer Gesellschaft oder Gruppe akzeptierten und durch Tradition stabilisierten Verhaltensnormen - zu tun hat (393). Sünde dürfe nicht mehr "allein als Personsünde" und Sündenvergebung "nicht allein als Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft gedacht werden" (442; vgl. 435). Im Zuge der einseitigen Konzentration auf die Tatsünden und die daraus entstehende Schuld vernachlässigt Z. allerdings die Frage nach der Bedeutung der Sünde für die Subjektivität und Identität des Menschen und nimmt sich damit die Möglichkeit, die Rolle der Sündenvergebung im Zusammenhang der Konstitution menschlicher Individualität zu reflektieren und auf dieser Basis den Zusammenhang und die kategoriale Differenz von zwischenmenschlicher Vergebung und Sündenvergebung Gottes ausführlicher zu entwickeln.

Den ethischen Ertrag (437-444) der angestellten Untersuchung erblickt Z. darin, daß der "vorgetragene Vergebungsbegriff in seiner vertikalen und horizontalen Dimension ... zur Begründung einer evangelischen Ethik" beitrage (437). Denn die Vergebung Gottes bewirke "nicht nur Glauben, sondern eine Handlungsorientiertheit, die es ermöglicht, zwischenmenschliche Vergebung zu einem wesentlichen Moment etwa einer Rechtsethik werden zu lassen" (437). Der Kirche als Forum der Vergebung komme dabei die Funktion zu, Sünde "um des Vergebens und nicht des Richtens willen zur Sprache" zu bringen und aufgrund der allen Christen übertragenen Vollmacht "menschliche Schuld als Sünde" zu kennzeichnen (439). Im straf- und völkerrechtlichen Kontext biete sich die Kirche als Forum der Vergebung dafür an, Vergebung, die "keine Möglichkeit des Staates" ist, in den "vorrechtlichen Raum" zurückzudelegieren (440). Das Forum der Vergebung müsse dabei "in den staatlichen Gesetzen verankert und nach dem Subsidiaritätsprinzip als Möglichkeit außergerichtlicher Konfliktregulierung auf Dauer gewährleistet sein" (441). Die Kirche ihrerseits könne durch die Sakramente das Amt der Schlüssel in seelsorgerlicher, richterlicher (d. h. ermahnender) und vergebender und schließlich auch in lehramtlicher Vollmacht wahrnehmen (443), indem sie als Forum der Vergebung den "Ort der gesellschaftlichen bzw. interreligiösen Normverständigung im Dialog" entstehen läßt (444). Auf diese Weise bringe sie die emanzipatorische Bedeutung von Vergebung zur Geltung, die "mich von den Folgen meiner Tat" entbindet und "in den Zustand selbständiger Entscheidung gelangen" läßt, wobei "die errungene Unabhängigkeit ... nicht in die isolierte Eigenständigkeit selbstverantwortlicher Individuen" führe, "sondern in eine erneuerte Gemeinschaft auf der Grundlage gemeinsam anerkannter Normen und Wertvorstellungen" (444).

Das Engagement und die persönliche Überzeugung, die diese Arbeit ausstrahlen, werden in beeindruckender Weise systematisch-theologisch umgesetzt. Denn Z. argumentiert nicht nur übergreifend für die gesellschaftliche, auch Nichtchristen zugängliche Bedeutung von Vergebung und für die zentrale Funktion der Kirche als Forum der Vergebung, er bezieht auch in vielen dogmatischen Einzelfragen klare Position. Und doch: Ein Blick etwa in die Tagespresse läßt einen eher die von Z. betonte Unmöglichkeit der Vergebung von seiten des Menschen als die gesellschaftliche Bedeutung von Vergebung wahrnehmen.

Nicht umsonst ist wohl der Täter-Opfer-Ausgleich bisher nicht zur Durchführung gelangt. Und auch im Vergleich zu der von Z. anvisierten Rolle der Kirche als dem durch die Sakramente konstituierten Forum der Vergebung und als Ausgangspunkt für eine auf der Grundlage gemeinsam anerkannter Normen und Wertvorstellungen erneuerte Gemeinschaft wirkt der Blick in die volkskirchliche Öffentlichkeit ernüchternd. Eine Reflexion auf die mögliche Reichweite der vorgetragenen dogmatischen und ethischen Ergebnisse unter den Bedingungen der gegenwärtigen Situation der Kirche wäre daher gerade im Interesse der angestrebten neuen Erfahrung von Vergebung und Gemeinschaft wichtig gewesen.