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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

572–574

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Spichal, Julia

Titel/Untertitel:

Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich.

Verlag:

Göttingen u. a.: V & R unipress 2015. 299 S. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 57. Geb. EUR 45,00. ISBN 978-3-8471-0421-6.

Rezensent:

Bernd Schröder

Vorweg: Diese an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien erarbeitete und im Jahr 2014 als Dissertation angenommene Untersuchung ist verdienstvoll. Denn sie hält ein Problem vor Augen, das dem Christentum mutmaßlich seit seiner Entstehung inhärent ist und scheinbar stets wieder aufzubrechen droht: Antijudaismus als Kehrseite des in Jesu Kreuzestod und Auferweckung erkannten, christologisch ausformulierten Heils (so in Anlehnung an Rosemary Radford Ruether formuliert).
Jutta Spichal geht dieser Problematik im Blick auf den evangelischen Religionsunterricht der Primar- sowie der Sekundarstufe[n] I und II nach, exemplarisch im Blick auf Österreich sowie die deutschen Bundesländer Bayern und Niedersachsen. Sie will »einen Beitrag für die Qualitätssicherung von Lehrplanvorgaben und Schulbuchinhalten für den christlichen Religionsunterricht hinsichtlich der Darstellung des Judentums und des christlich-jüdischen Verhältnisses« leisten (14). Dabei kann sie anknüpfen an frühere, ähnlich gelagerte Untersuchungen, durchgeführt von ihrem Doktorvater Martin Rothgangel, von Helga Kohler-Spiegel und insbesondere von Peter Fiedler.
Die Gliederung der Arbeit ist klar und nachvollziehbar. Sie setzt mit notwendigen Prolegomena ein: Erläuterung von Fragestellung und Vorgehensweise (Kapitel 1), Klärung zentraler Begriffe und vorausgesetzter Wissensbestände wie vor allem »Vorurteil« und »Antisemitismus« sowie »Neuere Entwicklungen im christlich-jüdischen Dialog« und Darlegung des Forschungsstandes (Kapitel 2), Erläuterung des Verfahrens der »qualitativen Inhaltsanalyse« sowie der intendierten Analyseschritte (Kapitel 3).
Darauf folgend werden in den Kapiteln 4–6 auf insgesamt etwa 100 Seiten die absolvierten Analysen vorgestellt; sie gelten Curricula der genannten Entitäten sowie ausgewählten Schulbüchern und sind synchron und – das ist bemerkenswerterweise dank der früheren Studien möglich – diachron angelegt. Um diese Längsschnittvergleiche zu ermöglichen, nimmt S. bewusst das Kategoriensys­tem auf, das Peter Fiedler vor mittlerweile 30 Jahren entwickelt hatte (ohne dies allerdings, etwa im Anhang, nochmals explizit darzulegen – vgl. allerdings die Erläuterungen 69–72 und 93–99). Die materialen Ergebnisse werden – anhand der Qualitätsurteile »sachgemäß«, »unausgewogen«, »tendenziös« oder »sachlich falsch« (97) – im Blick auf folgende Themenkreise präsentiert: »Verhältnis Jesu zu Pharisäern«, »Verantwortung für Jesu Tod«, »Alte[s] Testament als Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums«, »jüdische[s] Verständnis der Tora«, »Staat Israel«, »jüdische Geschichte zwischen 70 n. Chr. und der Schoah«, »die christliche-jüdische Verhältnisbestimmung« (Kapitel 7, 203–225).
Weil das – von S. verwendete – Kategoriensystem Peter Fiedlers inzwischen erzielte fachwissenschaftliche Fortschritte und Entwicklungen des christlich-jüdischen Gesprächs naturgemäß nicht schon antizipieren konnte, entwirft S. anschließend am Beispiel des Themas »Jesu Verhältnis zu Pharisäern« eine Fortschreibung einzelner Kategorien (Kapitel 8 und 9), ehe sie am Ende das ganze Unternehmen resümiert (Kapitel 10).
Das Ergebnis der Studie ist ambivalent – S. kann etliche Fortschritte verzeichnen, muss aber auch ein Fortbestehen von (zu­mindest tendenziell) antisemitischen Phänomenen konstatieren: »In den fast zwanzig Jahren nach der letzten umfassenden Studie aus dem Jahr 1995 [wurden] in vielen Lehrplänen und Schulbüchern weitere Anstrengungen unternommen […], die Tradierung von Vorurteilen gegen Jüdinnen zu vermeiden« (287), die jedoch alles in allem nur zu »punktuell[en] Nachbesserungen« geführt haben: »Es fehlt insgesamt nach wie vor an einem umfassenden Konzept, das eine angemessene Darstellung des Judentums und des christlich-jüdischen Verhältnisses grundsätzlich im christlichen Religionsunterricht verankert.« (288) Die Aufgaben, bei Religionslehrern wie ihren Schülern ein Sensorium für Antisemitismen zu entwickeln, Darstellungsmöglichkeiten für das Verhältnis von Judentum und Christentum zu finden, die nicht antisemitisch sind, und publizierte Materialien für diverse Unterrichtsformate immer wieder (selbst-)kritisch zu analysieren, bestehen somit fort.
Die Analysen sind so sorgfältig dokumentiert, dass dieses Ergebnis ohne Wenn und Aber als zutreffend zu akzeptieren ist – es besteht kein Anlass anzunehmen, dass die Materialien anderer Bundesländer gänzlich andere Befunde zeitigen würden. Das ist er­nüchternd und gibt sowohl Anwältinnen des christlich-jüdischen Dialogs als auch Anwälten guten Religionsunterrichts zu denken. Es gilt Mt 9,37 »Die Ernte ist groß, die Arbeiter aber sind wenige.«
Zugleich wirft die Vorgehensweise S.s Fragen auf, die teils kritisch ihr Vorgehen betreffen, teils – meines Erachtens zumindest – weiterführend sind. Zwei seien exemplarisch benannt: Die kritischen Rückfragen setzen an der Beobachtung an, dass S. weithin referiert – etwa die Geschichte des Antisemitismus anhand einer Publikation Wolfgang Bergmanns, etwa den Ertrag des christlich-jüdischen Gesprächs anhand der EKD-Studien »Christen und Juden I–III«, etwa die Vorgänger-Untersuchungen von Fiedler u. a. Sie fasst diese Literatur durchaus knapp und für ihr weiteres Vorgehen funktional zusammen, doch bleibt die Darlegung insbesondere der theologischen Sachverhalte recht dürr und ohne erkennbar weiterführendes Interesse, etwa an theologischen Themen des christ-lich-jüdischen Gesprächs, die für Schülerinnen und Schüler der verschiedenen Altersstufen relevant sein könnten – obwohl der-gleichen ja verschiedentlich bereits angedacht worden ist (z. B. in Publikationen von Ingrid Grill-Ahollinger, Karlo Meyer u. a.).
Fraglos ist die Prüfung von Unterrichtsmaterial daraufhin, ob es dem Stand fachwissenschaftlicher Einsicht und dem Stand des christlich-jüdischen Gesprächs entspricht, notwendig – die Frage ist jedoch, ob diese Prüfung auf Richtigkeit vor allem in didak-tischer Hinsicht zureichend ist, geht es doch für Christen im Um­gang mit dem Judentum letztlich darum, Entdeckungen am religiösen und kulturellen Reichtum des Judentums machen zu können, um gewissermaßen von innen heraus zu erfahren, dass das Christentum um des besseren, ja, überhaupt nur angemessenen Verstehens seiner selbst willen auf Zwiesprache mit und Bezugnahme auf das Judentum angewiesen ist. Lernprozesse mit Kindern und Jugendlichen sollten diesen Entdeckungsprozess initiieren und dazu motivieren. Dieser Spur geht S. indes mit keiner Silbe nach – im Gegenteil, ich fürchte, die bloß an Richtigkeit orientierte Prüfung von Material entfaltet für Multiplikatoren, die zukünftig solches Material entwickeln, eher demotivierende Funktion, und auch einen Unterricht zu dieser Thematik, der in erster Linie darauf bedacht ist, nichts falsch zu machen, stelle ich mir wenig einladend vor. Anders: Die didaktische Frage nach einem Religionsunterricht, der Judentum wie christlich-jüdisches Verhältnis sachlich angemessen, schülerorientiert und abwechslungsreich in der Wahl seiner Lernarrangements (bis hin zur »Kooperation« mit jüdischem Religionsunterricht) erschließt, bleibt drängend.
Gleichwohl gebührt S. Dank, die mühselige Analysearbeit er­neut geleistet und Vorschläge für eine Verfeinerung des analytischen Instrumentariums vorgenommen zu haben.