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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

570–572

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rosenow, Gundula

Titel/Untertitel:

Individuelles Symbolisieren. Zugänge zu Religion im Kontext von Konfessionslosigkeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 382 S. = Studien zur Religiösen Bildung, 12. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04305-7.

Rezensent:

Emilia Handke

Theologie ist eine Vermittlungswissenschaft. Welche tiefgreifenden Konsequenzen damit in der Schulpraxis eines Kontexts mehrheitlicher, durch die DDR forcierter Konfessionslosigkeit verbunden sind, zeigt die Greifswalder Dissertationsschrift der Gymna-siallehrerin und Wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Universität Rostock Gundula Rosenow eindrucksvoll auf. Diese Arbeit, die von Heinrich Assel (Greifswald) und Martina Kumlehn (Rostock) betreut wurde, ist im Rahmen eines berufsbegleitenden Promotionsverfahrens aus den Herausforderungen der Praxis erwachsen: Seit ihrer Einführung des Religionsunterrichts auf der Insel Rügen im Jahr 2000 stieß R. in der Schulpraxis immer wieder auf die Differenz zwischen einer ablehnenden bzw. skeptischen Haltung gegenüber Kirche und Chris­-tentum auf der einen Seite und der Artikulation existentieller und durchaus auch religiöser Lebensdeutungsbedürfnisse auf der anderen Seite. Eigene Schlüsselerfahrungen führten damit zur Neukonzeption des Religionsunterrichts, welcher die existentiellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler konsequent zum Ausgangspunkt erhebt. Damit ordnet sich die Arbeit in den weiten Kontext aller subjektorientierten Entwürfe ein, welche den konstitutiven Einbezug der Biographie der Schülerinnen und Schüler und ihrer Schlüsselerfahrungen (Peter Biehl) einfordern. David Käbischs historisch sowie systematisch orientierte Dissertation zum erfahrungsbezogenen Religionsunterricht wird damit um wichtige em­pirische Einsichten ergänzt.
Die didaktisch und reflektiert aufgebaute Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. In den »Grundlegungen« (13–59) wird vor allem der Kontext der Arbeit wirkungsvoll präludiert. Neben eigenen biographischen Erfahrungen kommen auch unveröffentlichte Akten aus der ehemaligen pommerschen Landeskirche zu Wort. Aus dem vorgefundenen »Grundproblem […] der Negativkonnotation religiöser Semantik und der drängenden Erfordernis, die existentiellen Er­fahrungen der Schüler in den Unterricht einzubeziehen« (16), speist sich auch das didaktische Anliegen der Studie: die Suche nach »Modalitäten […], die den intersubjektiven Dialog über die existentiellen Erfahrungen und ihre Deutungen ermöglichen und tradierte Deutungsmöglichkeiten mit einbeziehen« (38). Es geht darum, religiöse Deutungsangebote im Unterricht überhaupt (wieder) zugänglich zu machen, um diese dann probeweise denkend übernehmen zu können (Bernhard Dressler). Die zentrale These lautet: »Individuelle Symbolisationen existentiellen Erlebens im postsozialistischen Umfeld enthalten Potentiale jugendlicher Religiosität. Die verwendeten individuellen Symbolisationen können den gleichen Verweischarakter tragen wie tradierte Symbolik.« (39) Damit ist das hermeneutische Grundanliegen der Studie betont. Nach zentralen begrifflichen Klärungen (Konfessionslosigkeit, Er­lebnis und Erfahrung, Religiosität), deren Potential für den Gegenstand der Studie nicht immer gleichermaßen weiterführend erscheint (Religiosität), folgen einige eher selektive Ausführungen zu Desideraten der Forschung. Dabei wird jedoch ebenso deutlich, wie weitgreifend manche davon sind: So fehlt bis heute ein Religionslehrbuch, welches den ostdeutschen Sozialisationskontext konstitutiv berücksichtigt.
Das zweite Kapitel widmet sich »Religionshermeneutische[n] Aspekten« (61–144) in der Traditionslinie von Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey und Matthias Jung. Bereits mit dem Aspektbegriff aus der Überschrift ist dabei die Herausforderung der Verzahnung interdisziplinärer Arbeiten angezeigt: Was die Weiterführungen von Schleiermacher im Blick auf die empirische Studie tatsächlich austragen, verbleibt an vielen Stellen eher im Allgemeinen. Dies mag auch mit dem Problem der fehlenden Kürzung der Dissertationsschrift zusammenhängen sowie deren Hauptdisziplin geschuldet sein.
Mit dem äußerst gehaltvollen dritten Teil »Religionspädagogische Dimensionen« (145–364) wird die empirische Untersuchung in Form eines anspruchsvollen zweijährigen theologisch-propädeutischen Unterrichtsversuchs dargestellt. Dabei kommen sowohl die verschrifteten existentiellen Erlebnisse der Jugendlichen (sogenanntes »erinnernd-eingebrachtes Erleben«) als auch deren unterrichtliche Werkstücke, Ergebnisse der Befragungen im Blick auf die Wahrnehmung des Unterrichtsprozesses sowie soziodemogra-phische Hintergründe zur Geltung. Konsequenterweise wird nach einer religiösen Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler erst nach dem gesamten Unterrichtsprozess, der u. a. unterschiedliche Religionsverständnisse in den Blick nahm, gefragt. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Dass die Jugendlichen in ihren eigenen individuellen Symbolisierungen kaum auf tradierte Symbolik zu­rückgreifen (können), erscheint folgerichtig und verweist darauf, die Symboldidaktik (Peter Biehl) zu einer »Symbolisierungsdidaktik« (352) zu erweitern. Dass die Jugendlichen im Verlauf des Oberstufenunterrichts jedoch zu modifizierenden weltanschaulichen Selbsteinschätzungen gelangen, beweist die Güte der geleisteten Arbeit. Der qualitative Ansatz ist dabei konsequent gewählt, das methodische Vorgehen äußerst sensibel und präzise. Ebenso ist der Versuch einer kritischen Rückbindung an den zweiten Teil der Arbeit hervorzuheben.
Diese Dissertation unterstreicht einmal mehr die essentielle Aufgabe des Religionsunterrichts im Blick auf eine religiöse Alphabetisierung der Jugendlichen (auch bei Getauften fällt der Lernort Gemeinde im Sample fast vollständig aus) und die unverzichtbare Funktion, die der Schule als geschütztem, Distanzierungsspielräume ermöglichendem Rahmen dabei zukommt. Die durch Joachim Kunstmann und Wilhelm Gräb formulierten lobenden Geleitworte nehmen vorweg, was zum Ende zu sagen ist: Dieser Arbeit gelingt Seltenes, indem sie Theorie in kontextbezogene Konkretionen überführt, um damit den Subjekten selbst und ihrer Selbstverständigung zu dienen.