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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1155–1158

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wagner, Harald [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mit Gott streiten. Neue Zugänge zum Theodizee-Problem.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1998. 155 S. 8 = Quaestiones disputatae, 169. Kart. DM 38,-. ISBN 3-451-02169-2.

Rezensent:

Walter Sparn

Dieser fundamentaltheologische Sammelband versucht, das unabweisliche Theodizee-Problem nach den Destruktionen der "Theodizee" neu zu formulieren. Gemeinsam distanzieren sich die Autoren von theologischen Reduktionsversuchen und plädieren dafür, es weiterhin als Gottesproblem zu verstehen, und dies unter Berücksichtigung der Umstände neuzeitlichen Denkens. Im Hintergrund steht die Überzeugung J. B. Metz’, daß die Fähigkeit zur Theodizeefrage die "Frömmigkeit der Theologie" ausmache; die zusammenfassende These, daß diese Frage die "nach der absoluten Zukunft" sei, widerspricht jedoch ihrer "absolute(n) Eschatologisierung" (10 f.).

Gerd Neuhaus, "Theodizee und Glaubensgeschichte. Zur Kontingenz einer Fragestellung" (11-47), lenkt die Aufmerksamkeit auf die geschichtlichen Bedingungen des angesichts des Leidens sich artikulierenden Aufschreis gegenüber Gott, um der in der Theodizeefrage liegenden Ideologiegefahr zu begegnen. Ähnlich wie H. Verweyen unterscheidet er von der Realgeschichte eine "transzendentale() Geschichte, in der sich diejenigen Urteilsmaßstäbe entwickeln, mit denen das sittliche Bewußtsein sich über die Realgeschichte zu erheben beansprucht" (18). Dies erlaubt es, die atheistische Gestalt jenes Aufschreis (G. Büchner) und ihre religiöse Gestalt (Hiob) zu parallelisieren und das Theodizeeproblem als Selbstanklage des sittlichen Bewußtseins zu fokussieren - mit der Folge, daß dieses den Absolutheitsanspruch seiner sittlichen Empörung zu einem relativen ermäßigen muß. Damit ist nicht nur eine "Theodizee des Leidens" (H. Cohen) hinfällig, es zeigt sich auch, daß es vernünftig ist, über die unbedingt absolute, d.h. atheistische Stufe der sittlichen Empörung hinauszugehen. Dort hat die Leugnung Gottes selbst noch einmal Sündenbockfunktion für das im "Sündenbockmechanismus" (24 u. ö., mit R. Girard) befangene sittliche Bewußtsein (29).

Im Vergleich zwischen A. Camus’ "Die Pest" und der biblischen Tradition der Theodizeefrage, d. h. der ambivalenten Wechselseitigkeit von Theodizeeanfälligkeit und Theodizeefähigkeit des werdenden Monotheismus, stellt der Vf. diese spezifische "Paradoxieerfahrung" heraus: das "Absurde zweiter Ordnung", die "zweite Gestalt der Ohnmacht, in der sich das sittliche Bewußtsein hinsichtlich seiner Genese als Teil jener empirischen Welt erweist, der ihr Veto doch gilt" (28 f.) - seine Geltung wird eben durch seine Genese in Frage gestellt. Die Theodizeefrage ist daher gerade in ihrer paradoxen Struktur ein Ort der Wahrheit. Die Kontingenz geschichtlicher Widerfahrnisse und die (sowohl vernünftige als auch monotheistische) Notwendigkeit der Einheits- und Ordnungsbildung fordern sich gegenseitig heraus (43 f.) - dort nämlich, wo Gott nur in seiner schweigenden Verborgenheit ansprechbar ist, d. h. nicht als Wunschvorstellung fungiert. Über Camus hinaus geht die biblische Tradition also in der Einsicht, daß Gott nicht nur Gegenstand, sondern auch Grund der Theodizeefrage ist. Der als abwesend erfahrene Gott ist jene "dritte Größe", die es erlaubt, "Widerspruchserfahrungen zu objektivieren, ohne an ihnen zu zerbrechen"; sie befähigt "zu einer Wahrnehmung des Sündenbockmechanismus, die an diesem nicht zerbricht" (46).

Noch pointierter expliziert Magnus Striet, "Versuch über die Auflehnung. Philosophisch-theologische Überlegungen zur Theodizeefrage" (48-89). Zwar stellt sich die Frage nach dem Scheitern der Theodizeen nur noch in der Perspektive des Glaubens und aufgrund einer christologisch reflektierten Wesensbestimmung Gottes (55 f.), aber gerade um des Glaubens willen muß die moralische Legitimität der Rückfrage nach Gott philosophisch begründet werden - sonst müßte er sich gegen das sittliche Bewußtsein behaupten, "wodurch die Identität des Glaubenssubjektes aufgehoben würde" (61). Der Vf. wählt daher die definitiv negative Beantwortung der Frage kraft der Autonomie sittlicher Vernunft im Argument F. Dostojewskis ("Iwan Karamasow") zum Ausgangspunkt, Vergebung oder Wiedergutmachung von Leiden käme immer zu spät. Dagegen wird jedoch eine transzendentale Analytik der Freiheit aufgeboten, die (im Anschluß an H. Krings, mit Th. Pröpper und H. Verweyen) auf die formale Unbedingtheit des sittlichen Bewußtseins und die darin liegende unbedingte Anerkennung anderer Freiheit rekurriert: In ethischer Hinsicht ist Vergebung die "größere Möglichkeit" dieser Freiheit und daher "moralische Pflicht" des Menschen, so daß der Glaube zu Recht auf einen Gott setzt, der die Versöhnung des erlittenen Leids stiftet (71).

Der Vf. ist konsequent genug zu sagen, daß die Apokatastasis, verstanden als "die Idee universaler und reziproker Anerkennungsverhältnisse" (73), eine notwendige Idee der auf ihr eigenes Wesensgesetz verpflichteten Freiheit ist. Nur in dieser Allversöhnung gelingt die Theodizee, durch Gott selbst, der die Freiheit von Opfern und Tätern uneingeschränkt achtet und der dennoch in der Macht seiner Liebe zur Bitte um bzw. zur Gewährung von Vergebung ermächtigt. Dies reflektiert zugleich die Vorgabe des Glaubens an die in Jesus Christus definitiv versprochene Treue Gottes zu seiner Schöpfung, d. h. die Hoffnung auf die Vollendung endlicher Freiheit; eine Vorgabe, die auch die bei Büchner oder Dostojewski vernächlässigte Rückfrage Gottes an den Menschen zur Geltung bringt (79). Zeitgenössische Indizien (M. Walser, D. Grünbein, U. Berkéwicz) dafür werden ins Auge gefaßt, daß die kontingenten historischen Vorgaben verblassen, auf die der reale Vollzug des Gottesglaubens, unbeschadet seiner geltungstheoretischen Vergewisserung "in der Instanz autonomer sittlicher Vernunft" (63 u. ö.), angewiesen ist. Der Vf. mutmaßt, daß das Bewußtsein der Moralität und Freiheit überhaupt verloren geht, wenn die in der Theodizeefrage implizierten "Sinnoptionen" soweit verblassen, daß nicht einmal mehr gewußt wird, daß Leiden und Tod "etwas bleibend Empörendes an sich haben" (86). Um so mehr beharrt er, gegen G. Neuhaus, darauf, daß humane Ethik nur möglich ist, wenn die Geltung des sittlichen Bewußtseins nicht an seine Genese gebunden wird - stets muß es auf Sinnvorgaben setzen, für die es selbst, faktisch nur allzu schnell an seiner Grenze, selbst nicht aufkommen kann, sondern im Postulat Gottes beanspruchen muß.

Von Dostojewskis Zuspitzung des Theodizeeproblems geht auch Karl-Heinz Menke aus, "Der Gott, der Zukunft schenkt. Plädoyer für eine christologische Theodizee" (90-130), im Widerspruch gegen G. Neuhaus und noch stärker gegen J. B. Metz, H.-G Janßen, K.-J. Kuschel (auch gegen den "eigenwilligen" Gott K. Bergers). Deren gemeinsamer Fehler sei die Eschatologisierung der Antwort Gottes auf die (stets jetzige) Theodizeefrage, d. h. der "Sprung in den Glauben an einen ganz anderen, unsere Kategorien sprengenden Gott" (98). Die hierin liegende Übernahme der Kantschen Unterscheidung von "Sinn an sich" (der ganz andere Gott) und "Sinn für mich" wiederholt nicht nur die obsolete Stockwerk-Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Vernunft, sondern widerspricht schon dem jüdischen Glauben an einen Gott, der sich durch die Tora in jede Situation des Lebens hineinspricht. Der Vf. entfaltet ein inkarnatorisches Verständnis der Tora (H. Jonas), im Gegensatz zum Zeitbegriff Augustins und Kants, als ",Hereinlassen’ der Zukunft in die Gegenwart" (98). Die Bundestora Jahwes ist die Zukunft (der ,Sinn’) jedes Augenblicks, gerade keine Vertröstung auf das Eschaton eines ganz anders denkenden Gottes, sondern die anfanghafte Erfahrung eines umfassenden Sinnes, nämlich der Gemeinschaft mit Jahwe (103 f.). Die jüdische Zeitauffassung ist auch der hermeneutische Horizont für Leben, Sterben und Auferstehung Jesu (111, mit H. Kessler, B. Klappert u. a.): Wer den Menschen Jesus als den Christus bekennt, "sucht Gott nicht nur jenseits und außerhalb von Welt und Geschichte, sondern glaubt an die Selbst-Mitteilung des Absoluten in der Geschichte" (105 f.). Wie schon jenes "Hereinlassen" ist auch dieser Glaube ein "Ankommen Gottes im Leiden und Handeln des Menschen". Jener Sinn ist daher nie einfach nur Besitz, sondern immer auch Aufgabe: "...wer den in Christus real anwesenden Gott ,tut’, erfährt ,schon’ hier und jetzt den Sinn, der alles unterfaßt" (115). Dieser "Mitvollzug der Inkarnation" (118) wird präzisiert in der Verknüpfung einer freiheitsanalytischen (H. Kessler, Th. Pröpper) und einer zeitanalytischen (F. Rosenzweig, E. Lévinas) Bestimmung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln; unzureichend wären eine kausalanalytische und erst recht die prozeßtheologische Handlungstheorie (119 ff.).

Unter dem Luther-Zitat "Crux probat omnia" stellt Harald Wagner "Anstöße zur Bewältigung des Theodizeeproblems aus reformatorischer Theologie" vor (131-150). Auch wenn die "Theodizee" ein neuzeitliches Problem darstellt, so greift doch die aufgeklärte Perspektive mit Nutzen auf die Tradition zurück, hier auf Impulse des Freiheitsverständnisses Luthers. Der Vf. stellt in Aufnahme vieler evangelischer Autoren und der einschlägigen Studie von H. Blaumeiser die theologia crucis in ihrem existentiellen, praktischen Erfahrungssinn heraus, insbesondere den Zusammenhang von promissio Gottes und Klage vor Gott als den Ort des Theodizeeproblems (133 ff.). Daß menschliches Leiden auf den leidenden Christus, somit auf die Rechtfertigung des Menschen durch Gott sub contrario, auf die vita passiva des Glaubens bezogen wird, versteht der Vf. so, daß der Mensch durch das Leiden, von Gott initiiert, in Christus hineinwächst: "Das Leiden ,vergöttlicht’ den Menschen" (139). In dieser Interpretation Luthers erscheint der Gegensatz von "Deus absconditus" und "Deus accessibilis" als menschlich vermittelt und der theologischen Vernunft zugänglich, und in dieser Vermittlung versteht der Vf. auch die Luthersche These von der Grundlosigkeit des göttlichen Willens und die ihr entsprechende Geschichtsdeutung (141 ff.). Besonders interessant ist der Hinweis auf den ekklesiologischen Aspekt des Theodizeeproblems unter dem Stichwort der ecclesia pressa bzw. des Kreuzes als eines der notae der Kirche: kontextuelle Theologie, kenotische Solidarität wie in der Befreiungstheologie (144 ff.;). Gegen eine irrationalistische Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube, aber auch gegen die "verhängnisvolle Zweipoligkeit" des traditionellen Natur-Gnade-Schemas hebt der Vf. abschließend die ökumenische Bedeutung des staurologisch gedeuteten Vernunftvermögens hervor.

In der Tat formulieren alle Beiträge profiliert römisch-katholisch das Interesse an der Vernunft des Glaubens auch angesichts des Leidens. Sie tun dies jedoch in so vielfältiger und biblisch so gesättigter Weise, daß auch die evangelische Perspektive auf das Theodizeeproblem darin einen Platz findet, der ihre Lücken und ihre Stärken auf produktive Weise verfremdet.