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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

554–557

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Siep, Ludwig

Titel/Untertitel:

Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 268 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-153848-3.

Rezensent:

Jörg Dierken

Hegel zeigt Tendenzen zur Divinisierung des Staates. Die prägnante Formel vom »Staat als irdischem Gott«, mit der Ludwig Siep – Münsteraner Emeritus für Philosophie und Senior Professor am dortigen Exzellenzcluster »Religion und Politik« – seine Studie betitelt, findet sich zwar nur in Sekundärüberlieferungen, aber an ihrer Spezifik und Pointe besteht kein Zweifel. Sie hat lange Schatten im Staatsdenken geworfen. Dass der spekulative Meisterdenker in ihrem Zeichen Linien zur historisch-kontingenten Gestalt des friederizianischen Preußen gezogen hat, warf Skepsis gegenüber der Plausibilität seiner Begriffe auf. Damit wird überdeckt, dass Hegels Topos auf die Geltung der institutionellen Spitze einer Sozialphilosophie abstellt, der es maßgeblich um die Anerkennung des Menschen als Subjekt und Individuum im Verhältnis zum Allgemeinen geht. Eine in geschichtlicher Wirklichkeit verankerte Stütze solcher Geltung sollte die (protestantische) Religion nach der Aufklärung sein, insofern sie – wie alle Religion – die soziale Welt unter normativen Gesichtspunkten reflektiert und dies in ihren Symbolen kommuniziert. Wenn Religion und Sittlichkeit trotz mancher Ungleichzeitigkeit zusammengehören, dann werde in der Moderne, so Hegel, das Sittliche mit dem integrativen Gipfel des Staates zur primären Realisierungsgestalt der Religion. Als »irdischer Gott« ist der Staat mithin ebenso deren Säkularisat wie die Religion ihm unterschwellig Sakralität gewährt. Damit geht eine Stärkung des Staates einher, die ihn von der konfessionskirchlich verwalteten Machtverleihung durch Gott emanzipiert, aber auch von den Rechten der Bürger entfernt. Deren Schutz ist jedoch sein Zweck, »absolut« kann er nach S. allenfalls nur in dem Sinne genannt werden, wie er sich verfassungsrechtlich allein an sie bindet.
Das gut lesbare und materialreiche Buch erörtert in vier Hauptkapiteln die Genese der Hegel’schen Idee nach zentralen Themenkreisen, und zwar jeweils mit Blick auf die praktischen Philosophien von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Fichte und eben Hegel. Damit ist keine Vollständigkeit gegeben, die systematische Absicht dieser philosophiegeschichtlichen Studien wird vielmehr durch markante Typologisierungen entfaltet. Sie münden in systematische Überlegungen zum säkularen Staat und zu den Rechten der Person nach dem Ende des »irdischen Gottes« sowie einen knappen Schluss zur Stellung des Staates zwischen Markt und Religion.
Das erste Kapitel zu »Souveränität und Individualrechte[n]« (25 ff.) fokussiert das Prinzip neuzeitlicher politischer Philosophie: den Schutz dieser Rechte durch die gleichsam göttliche Gewalt, die im Staat monopolisiert ist. Für Hobbes und Locke wurzelt die Souveränität des Staates in dem von den Trägern des göttlichen Naturrechts auf Selbsterhaltung geschlossenen Vertrag, für Rousseau kommt noch die Bestimmung eines bindenden volonté générale hinzu. Kant geht vom kraft Menschheit angeborenen Recht in Gleichheit und Freiheit aus, das die öffentliche Rechtsgewalt in Dissensfällen durchsetzen muss – ohne die Möglichkeit eines legitimen Widerstands. Die über die Postulatenlehre und den Ge­schichtsgedanken eingeführte Religionsphilosophie versteht S. als »säkularisierte […] Eschatologie und Theodizee« (45), insofern sie eine christlich inspirierte Moralisierung des Gemeinwesens intendiere. Man könnte indes auch an eine geschichtliche Dynamisierung der invarianten praktischen Vernunft denken. Hegels Staat anerkennt und integriert zwar das Prinzip der Subjektivität in ihrer besonderen Freiheit, lässt aber Abwehrrechte gegenüber staatlichem Machtmissbrauch vermissen. Fußend auf dem gleichsam divinen Gang der Geschichte scheint die Aufopferung der Indiv iduen im Krieg unvermeidlich. Das innere Kräftegleichgewicht des Staates ist ständisch geprägt, der Monarch hat inappellable Letztentscheidungskompetenz. Auch hier lassen sich die Ambivalenzen ergänzen, dass Krieg ebenso als »Vorübergehensollendes« beschrieben und dem Monarchen ein fast übermenschlicher Verzicht auf Besonderes abverlangt wird, damit er als Einzelner ganz das Allgemeine darstellt.
Ein häufig ausgeklammertes, von S. zu Recht fokussiertes Thema ist das Ökonomische. Es ist teils mit den älteren karitativen Institutionen der Wohlfahrt verzahnt, fordert in seiner neueren kapitalistischen Ordnung den Staat aber auch permanent heraus. Das zweite Kapitel »Wohlfahrt als Staatsaufgabe« (79 ff.) beschreibt diese spannungsvolle Entwicklung. Während die englischen Staatsdenker und Kant stark auf das liberale Modell von Eigentum und Markt bei staatlicher Zurückhaltung abstellen, propagiert Rousseau eine staatlich regulierte Eigentumsverteilung, die von Fichtes staatlich durchorganisiertem Frühsozialismus noch überboten wird. Hegel sieht am deutlichsten die Ambivalenz von produktiven und destruktiven Kräften der vom Staat grundsätzlich gewollten bürgerlichen Marktgesellschaft. Ihr gegenüber setzt er verhalten auf subsidiär organisierte wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen. Dadurch soll einerseits die Abhängigkeit des Staates von religiöser caritas eingehegt, andererseits dessen Gefährdung durch wachsende Armut und soziale Desintegration gewehrt werden. Interessant wäre in diesem Kontext die Frage nach den Konsequenzen der mentalen Folgelasten des Kapitalismus gewesen, etwa dem Verlust von Selbstachtung beim ›Pöbel‹.
Mit dem dritten Themenkreis »Sittliche Erfüllung im säkularen Staat« (99 ff.) nähert sich S. der religionsnahen Dimension der Sinnstiftung. Hobbes und Locke verstehen den Staat in den Fluchtlinien des gleichsam göttlichen Naturrechts. Rousseaus Zivilreligion lehrt den republikanischen Staat als sakralisiertes sittliches Ganzes verstehen. Kants Pflicht zur Fügung des Einzelnen ins rechtliche Staatsleben fällt deutlich nüchterner aus. Dass er, wie S. betont, eine Beitrittspflicht zum moralisch gemeinen Wesen gemäß vernünftigem Religionsglauben kennt, hätte S. zum Anlass einer ge­naueren Differenzierung von Recht und Moral nehmen können. Fichte und Hegel setzen auf die durch die Reformation geprägte Nation als Erfüllungsgestalt, wobei Hegel anders als Fichte den Vernunftstaat der Nation überordnet. Wenn für Hegel dieser Staat divine Züge gewinnt, führt das nicht zum Staatskult wie in der Antike. Es gehe vielmehr um die Tendenz zur »Emanzipation ge­genüber der Religion« (132). Unterschwellig versteht S. Religion vornehmlich als Kirche, weniger als Moment des mehrdimensionalen Konzepts des Geistes. Für Hegel ist die höchste Form der Religion der durch ihre Aufhebung zu gewinnende philosophische Begriff. Er sei nach Hegel auch allererst fähig, die andere, sittliche Realisierung der Religion, die in der quasireligiösen Vernünftigkeit des Staates gipfelt, zu verstehen. Das wirft über S. hinaus Fragen nach Status und Leistungskraft von Hegels reinem philosophischen Begriff auf.
Mit der »Freiheit der Religion« wird viertens schließlich ein elementares Kriterium für den »göttlich[n] Staat« thematisch (139 ff.). S. konkretisiert es als staatliches Neutralitätsprinzip in Religionsdingen. Hobbes und Locke rufen zu Kontrolle und Toleranz auf, ein Verzicht auf den Gottesglauben aber untergrabe die Vertragstreue der Bürger. Rousseau setzt auf den zivilreligiösen Vernunftglauben und hält den Atheismus für gefährlich. Kant kennt eine nicht auf Religion gebaute Rechtsgemeinschaft, ihre Normen gelten auch ohne die zur Religion führenden Grenzbegriffe der Moral. In deren Fluchtlinien steht Kants Religionstheorie, die mit ihrer raffinierten Verbindung von Religions- und Kirchenglauben das Christentum favorisiert und umformt. S. urteilt hier zurückhaltender als im Blick auf die moralische Beitrittspflicht zum ethisch gemeinen Wesen. Für Fichte soll der Staat selbst zur ethischen Gemeinschaft werden, die sich ins Gewissen eingraviert. Für wirkliche Religionsfreiheit ist in solch religiöser Staatsdeutung kein Platz. Auch Hegel kennt keine umfassende Religionsfreiheit. Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsinstitution wird nicht gestattet, Toleranz, Gedanken- und Ge­wissensfreiheit schon, sofern sie nicht mit zentralen Rechtspflichten kollidiert. Hegels Konzept der wechselseitigen Stützung von Protes­tantismus und Sittlichkeit weist die Ambivalenz auf, sowohl mit empirischen Institutionen identifiziert als auch im Licht der transformierenden Kraft der Philosophie gelesen werden zu können – mit dem Folgeproblem, dass auch diese mitsamt ihrem Konstrukt des ›göttlichen Staates‹ soziologischer Er­dung bedarf.
S.s philosophiegeschichtlicher Durchgang mündet in systematische Überlegungen zu Menschenrechten und Staatsbegriff »nach dem Ende des ›irdischen Gottes‹« (189 ff.). Die Fundierung der Menschenrechte liege – gegenüber theistischen Begründungen und Sakralisierungen – in einer eher schwachen Vernunft. Sie soll um Autonomie und rechtliche Egalität gravitieren, aber auch anderen Begründungen im Sinne eines überlappenden Konsenses Platz einräumen. Gleichwohl stehen die Menschenrechte in irreversibler, gleichsam »heilig[er]« Letztgeltung (208). Ähnliches gilt für den Rechtsstaat, dessen Letztzweck in quasi »›instrumentelle[r]‹ Funktion« deren Schutz ist (195). Er hat an den Rechten der Person seine unübersteigliche Grenze. Gefährdungen erwachsen diesem Staat, wie S. abschließend ausführt, einerseits aus der zunehmenden Dominanz der Marktgesellschaft, andererseits aus Religionen, die kein menschenrechtskonformes Menschenbild und Institutionenkonzept haben. S. denkt exemplarisch an den Katholizismus mit seinen geschlechtsbezogenen Zugangsrestriktionen zum Amt und seine Lehre der Verdammnis Ungläubiger. Nur wenn Religionen »die Idee der Menschenrechte wirklich in ihre Idee und Praxis integrieren«, könne es eine »Übereinstimmung zwischen Religion und sittlichem Staat« im Blick auf »Werte und Aufgaben« geben (230).
Das Buch dekonstruiert in ebenso nüchternen wie informativen Analysen eine der schillerndsten Metaphern des Staatsdenkens der Neuzeit. Die historischen Schneisen durch die komplexen Gedankenarchitekturen im Grenzfeld von Politik- und Religionsphilosophie plausibilisieren die systematischen Konturen von S.s Konzept politischer Philosophie. Der Schluss zeigt indes, dass auch diese im besten Sinn aufklärende Rekonstruktion nicht die dialektischen Umkehrungen eliminiert, welche sich in jener Metapher schürzten. Religion und Politik lassen sich eben nicht einfach sortieren, ihre Differenzierung ist eine bleibende Herausforderung – und zwar auf beiden Seiten.