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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1154 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Haigis, Peter

Titel/Untertitel:

Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur.

Verlag:

Marburg: Elwert 1998. XI, 207 S. gr.8 = Marburger Theologische Studien, 47. ISBN 3-7708-1095-3.

Rezensent:

Werner Schüßler

"Wo immer sich Theologie auf die Kultur einläßt, erscheint sie ihr Eigenes zu verlassen und sich um Fremdes zu kümmern. Sie kreist nicht mehr um die Rede von Gott, Offenbarung und Erlösung ..., sondern fragt nach dem Menschen ... Somit steht es zumindest in Frage, ob Theologie in diesem thematischen Kontext noch ihre eigentliche Funktion erfüllt." (1) Mit dieser einleitenden Feststellung ist das in Frage stehende Thema der Untersuchung fest umrissen. Es tut sich damit letztlich die Dichotomie von Kulturtheologie auf der einen Seite und Kirchentheologie auf der anderen auf. Das führt zu der Frage: Leistet Tillich mit seiner Kulturtheologie nicht gar der Säkularisierung (Profanisierung) Vorschub? Die dialektische Theologie mußte das sicherlich so sehen. Aber ist dieser Vorwurf wirklich berechtigt?

Die Untersuchung von H. ist zeitlich eingegrenzt auf das Frühwerk, sie erstreckt sich also bis zum Jahre 1933. Nach einer "Problemanzeige, Anfragen, Tendenzen" in einem ersten Kapitel befaßt sich H. in einem zweiten mit "Deutungsperspektiven zu Tillichs Kulturtheologie". Hier werden ausführlich die Arbeiten von Eberhard Amelung (20-30), John P. Clayton (30-38), Michael Palmer (38-46) und Hannelore Jahr (47-55) diskutiert. Im dritten Kapitel (57-171) wird die Rekonstruktion von Tillichs Theologie der Kultur dann näherhin entfaltet, indem H. in einem ersten Anlauf ihre wesentlichen Grundzüge anhand des programmatischen Aufsatzes von 1919 herausarbeitet, um diese dann mit den wissenschaftstheoretischen Anschauungen Tillichs im System der Wissenschaften von 1923 und den religionsphilosophischen aus der Religionsphilosophie von 1925 zu vergleichen. In einem weiteren Schritt zeigt H. am Beispiel der Marburger Dogmatik von 1925 auf, daß Tillichs kulturtheologische Reflexionen letztlich in einer Kirchentheologie zu verorten sind. Ein letzter Schritt bringt - ausgehend von der bekannten Schrift zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 - Beispiele für Tillichs kulturtheologische Deutung: zum einen seine Sicht der Jugendbewegung, zum anderen seine Bestimmung der Moderne. In einem vierten und letzten Kapitel (173-178) wird schließlich ein kritisches Resümee gezogen.

Als Ergebnis der Untersuchung ist festzuhalten, daß in Tillichs scheinbar so symmetrischer Entfaltung des Verhältnisses von Kultur und Religion letztlich eine gewisse "Asymmetrie" festzustellen ist. D. h. Kulturtheologie ist letztlich Kultur-Theologie. Noch genauer: Tillich treibt gar protestantische Kulturtheologie. Kulturtheologie muß bei Tillich also in letzter Konsequenz "als religiös-christlich-protestantisches Verstehen eines bestimmten Ausschnitts von Weltwirklichkeit" verstanden werden (7). Dies zeigt sich u.a. daran, daß Tillich Aspekte der Religionskultur, die ihm als untauglich erschienen, den Herausforderungen der Profanität zu begegnen, einfachhin ausblendet. "Das Bündel zurrt sich immer enger zusammen, bis am Ende nur noch - außerkirchlich - die religiös-sozialistische Bewegung und - innerkirchlich - der moderne Protestantismus übrigbleiben" (170).

H. kritisiert an Tillich aber weniger, daß seine Auswahl aus dem Kulturleben selektiv ist, sondern vielmehr, daß er "über die prinzipielle Fragmentarität seiner Beobachtungen zu wenig reflektierte Rechenschaft abgelegt" habe (174). D. h. Tillich hat es H. zufolge versäumt, seine "basic beliefs" offenzulegen. Mit einer solchen Offenlegung hätte er zwar zweifellos mehr Angriffsfläche geboten, aber auch gleichzeitig mehr Profil gewonnen (176). Daß Tillich Dinge ausblendet, ist also nicht so sehr das Problem; dieses besteht vielmehr darin, daß er das nicht ausdrücklich sagt. Damit ist "der alte Verdacht der heteronomen Dominierung und Domestizierung autonomer geistiger Prozesse geschürt" (175), wie er ja auch analog in bezug auf Tillichs Methode der Korrelation geäußert wird.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Arbeit ist die Einsicht, daß Theologie der Kultur ihre Aufgabe immer nur "im Horizont der Zeit" leisten kann, wie ja auch schon der Obertitel der Untersuchung andeutet. D. h. es darf nicht versucht werden, die geschichtlich gewachsene Kluft zwischen Religion und Kultur "auf einer tieferen oder höheren Ebene zu schließen", wie das Tillich zu Anfang vielleicht selbst noch für möglich gehalten hat (177).

Das Gesamtergebnis der Untersuchung ist damit recht ernüchternd. Trifft dies aber auch auf die amerikanische Zeit zu? Ein Blick nicht nur auf die Systematische Theologie, sondern ebenso in einschlägige Vorlesungsmanuskripte dieser Jahre zum Thema wäre hier interessant und aufhellend gewesen. Die Begrenzung auf die deutsche Zeit ist zwar arbeitstechnisch nachvollziehbar, aber sachlich wohl weniger begründet. So sind die Analysen, sieht man von den interessanten Bemerkungen über Troeltsch und Simmel einmal ab (8-15), Tillich-immanent, was aber nicht unbedingt ein Nachteil sein muß. Allerdings hätte die Arbeit durch die Einbindung von Tillichs Kulturtheologie in den noch größeren Rahmen einer Kulturphilosophie, wie sie sich in diesen 20er Jahren - nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges - herausgebildet hat (ich denke dabei an Namen wie Karl Jaspers, Peter Wust u. a. m.), sicherlich noch gewonnen. Dessen ungeachtet stellt die vorliegende Untersuchung aber ohne Zweifel eine wesentliche Bereicherung der Tillich-Forschung dar, zeigt sie doch - im Gegensatz zu anderen Arbeiten - nicht nur den Wert, sondern auch die Grenzen von Tillichs kulturtheologischem Ansatz kritisch auf.