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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

97–99

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Morath, Reinhold u. Wolfgang Ratzmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Herausforderung: Gottesdienst.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1997, 256 S. 8 = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 1. Kart. DM 29,80. ISBN 3-374-01653-7.

Rezensent:

Karl-Heinrich Bieritz

Seit 1994 unterhält die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig ein Liturgiewissenschaftliches Institut, das mit dem vorliegenden Band - hrsg. von Wolfgang Ratzmann, dem Leiter der Einrichtung, und Reinhold Morath, von 1994 bis 1996 wissenschaftlicher Geschäftsführer - eine hauseigene Reihe eröffnet. Die Broschüre dokumentiert Vorträge, die im Rahmen einer Ringvorlesung im Wintersemester 1995/96 an der Theologischen Fakultät Leipzig gehalten wurden.

Das Vorwort der Herausgeber läßt keinen Zweifel daran, wie der Titel gemeint ist: ’Herausgefordert’ wird der Gottesdienst nicht nur durch die "symbolische Faszination", die "von unwirklichen medialen Konstrukten und Inszenierungen" - instruktives Beispiel: ein Auftritt Michael Jacksons - ausgeht. ’Herausgefordert’ ist er auch durch die prekäre Situation "einer klein gewordenen und wohl noch kleiner werdenden Kirche", deren Gottesdienste kaum noch "eine Ausstrahlungskraft nach außen" zu entwickeln vermögen (9). Das nimmt unzweideutig Bezug auf die kirchlich-gesellschaftliche Landschaft, in der das neue Institut seinen Sitz hat. Und Detlef Pollack, der sich zum "Gottesdienst in der modernen Gesellschaft" äußert (47-63), liefert keine Daten, die dieses prekäre Bild entscheidend aufzuhellen vermöchten. Sein Beitrag gipfelt in der Feststellung, daß christlicher Gottesdienst das, was er - auch und gerade aus religionssoziologischer Perspektive! - leisten soll, "nur im Gegenüber zur Moderne, aber nicht in Übereinstimmung mit ihr verwirklichen kann." Er befürchtet zudem, daß sich im Zuge einer fortschreitenden Liberalisierung "die kultische Praxis der evangelischen Kirchen aus dem Funktionsbereich des religiösen Rituals selbst hinausmanövriert und ihre Funktion nicht mehr zu erfüllen vermag" (63).

In einem einleitenden Beitrag ("Zwischen Erlebnis und Risiko- Neue Spiritualität und alter Gottesdienst?") steckt Wolfgang Ratzmann im Anschluß an die bekannten Publikationen von Ulrich Beck und Gerhard Schulze den gesellschaftlich-kulturellen Horizont ab, durch den sich christlicher Gottesdienst gegenwärtig ’herausgefordert’ sieht (12-22). Er plädiert - bei Anerkenntnis aller risiko- und erlebnisgesellschaftlich produzierten Ambivalenzen - doch für einen "erlebnisreichen Gottesdienst", der zugleich "den einzelnen Menschen aufnimmt und annimmt", den Prozeß fortschreitender Individualisierung also gleichsam liturgisch ratifiziert (20). Merkwürdig hilflos wirkt freilich sein Aufschrei: "In der Risikogesellschaft wenden sich viele auch von der Institution Kirche und vom Gottesdienst ab. Aber sie verabschieden sich damit von einem Angebot, das ihnen zutiefst helfen könnte, an den vielfältigen Ängsten nicht [zu] verzweifeln, sondern dennoch mit ihnen leben zu können" (21).

Holger Preißler ("Kontrast oder Parallele - Gottesdienst in anderen Kulturen und Religionen heute", 23-34) zeigt am Beispiel des Islam, welche Macht auch heute noch dem gesprochenen Wort - konkret: der ’Predigt’ - innewohnt, wenn es denn in stimmiger, überzeugender Weise laut wird: Es sind "begeisternde Prediger" (34), Leute, die "über erstaunliche darstellerische Fähigkeiten verfügen und geschickt mit allen möglichen Mitteln der Sprache umgehen können" (32), denen der Islam seinen wachsenden Einfluß verdankt.

Wolfgang Fischer ("Massenmedien und Religion - Ersetzen die elektronischen Medien den Gottesdienst?", 35-46) untersucht die RTL-Show "Traumhochzeit" als "zivilreligiöses Zeremoniell". Er scheut sich nicht, dem Fernsehen als einer "gesellschaftlich relevanten Sinnagentur" (38) in diesem Sinne (zivil-) religiöse Funktionen zuzuschreiben (39 f.). Er fordert die Kirchen auf, "sich mit ihren Themen und Formen gelebter Praxis auf diesen Marktplatz [zu] begeben" (45). Wie ein solcher "Inkulturationsprozeß" (46) sich praktisch gestalten könnte, bleibt freilich offen.

Die folgenden Beiträge entfalten bestimmte geschichtliche Aspekte: Werner Vogler ("Mahlfeier oder Synagoge? Zur Herkunft des christlichen Gottesdienstes", 64-76) verweist auf die doppelte Wurzel christlicher Liturgie - eben in häuslichen Mahlfeiern und synagogaler Versammlung - und plädiert für die regelmäßige Feier des Abendmahls auch in evangelischen Gottesdiensten (75 f.). - Helmar Junghans ("Luthers Gottesdienstreform - Konzept oder Verlegenheit?", 77-92) zeichnet kenntnisreich "Luthers Konzept des Gottesdienstes" (79) nach, ohne freilich auf die neuere Literatur hierzu, insbesondere auf den von Hans-Christoph Schmidt-Lauber entfachten Disput um den ’Liturgiker Luther’, einzugehen. - Ernst Koch ("Beteiligung oder Distanz - Die Religion der kleinen Leute und der Gottesdienst der Institution Kirche", 93-106) steuert allerlei Geschichten über Kirchenschlaf und -schwatz aus dem Thüringischen im 17./18. Jh. bei und vermittelt so einen Eindruck von der gottesdienstlichen Spiritualität der "kleinen Leute" und der "distanziert anmutenden Treue", die sie bis zur Entwurzelung durch Industrialisierung und Proletarisierung ihrer Kirche bewahren (105). - Martin Petzoldt korrigiert den Eindruck, es gäbe nach Günther Stiller (1970) nichts mehr zum "Gottesdienst zur Zeit Johann Sebastian Bachs in Leipzig" zu sagen (107-120), und verweist auf die "Integration kommunaler und sozialer Anteile", die die damalige Gottesdienstpraxis auszeichnet: "Gottesdienst ist Zentrum der Christengemeinde, die zugleich Bürgergemeinde ist" (120). - Kurt Nowak (121-142) liefert - in gewisser Weise kontrapunktisch hierzu - einen höchst bedenkenswerten Beitrag zum Thema "Evangelischer Gottesdienst und Nationalgeschichte (1806-1945)", dem als Dokument die Liturgie einer "Abendfeier im Dom am Geburtstag des Führers, 20. April 1936" angefügt ist. "Wo und unter welchen Prämissen", so fragt er abschließend, "ist bei der ’Inkulturation’ der christlichen Botschaft in das Gemeinwesen die Grenze zu ziehen?" (137).

Stärker bestimmten Grund-Sätzen aktueller Gottesdienstgestaltung widmen sich die weiteren Beiträge: Ulrich Kühn ("Wort und Antwort? - Ökumenische Herausforderungen an das lutherische Verständnis des Gottesdienstes", 143-156) gibt in gewohnter Prägnanz auf wenigen Seiten eine Gottesdiensttheologie in nuce zu Protokoll, die unter den Stichworten "Wort und Sakrament", "Eucharistie" und "Opfer" der "Verschränkung des Handelns und Zusagens Gottes mit dem Handeln und Reden von Menschen" (152) nachspürt. - Helmut Hanisch ("Lust oder Langeweile - Gottesdienst mit Kindern", 157-180) erörtert Probleme, die der Kindergottesdienst aufgibt, in einem umfassenden gesellschaftlich-kulturellen und (entwicklungs-)psychologischen Kontext und listet "psychologische Voraussetzungen" auf, die dabei zu beachten sind. - Jürgen Ziemer untersucht am Beispiel der Friedensgebete das Verhältnis von "Gottesdienst und Politik" (181-199). Er unterscheidet die "kritisch-assistierende Funktion", wie sie dem Gottesdienst als solchem zukommt, von der "prophetisch-verändernden Botschaft", zu der christlicher Gottesdienst "von Zeit zu Zeit, von Situation zu Situation" herausgefordert ist (198).- Abschließend stellt Reinhold Morath in einem reich mit Literaturverweisen bestückten Beitrag ("Struktur oder Ereignis?", 200-237) die "Erneuerte Agende" vor, schildert ihre Wurzeln und ihr Werden, ihre Intentionen, ihren Aufbau, die Auseinandersetzungen um ihre Rezeption und ihre Hermeneutik - Pflichtlektüre für alle, denen jetzt der Entwurf des neuen "Gottesdienstbuches" zur Beschlußfassung vorliegt. - In einem Nachwort (246-253) faßt der neue wissenschaftliche Geschäftsführer des Instituts, Jörg Neijenhuis, die Beiträge des Bandes inhaltlich zusammen und entwickelt dabei eine durchaus eigene Sicht der Dinge. Zuvor wird noch die Liturgie eines "Musikalischen Nachtgebetes" (Entwurf, Kommentar und Orgel: Reinhold Morath; Ansprache: Wolfgang Ratzmann) dokumentiert (238-245). - Alles in allem: Ein anregender, informativer, kurzweilig zu lesender Band, dem man noch viele ebenso interessante Nachfolger wünscht.