Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

545–547

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Boehm, Omri

Titel/Untertitel:

Kant’s Critique of Spinoza.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2014. XXXIV, 252 S. Geb. £ 44,99. ISBN 978-0-19-935480-1.

Rezensent:

Christian Polke

Ohne Spinoza ist die Genese der deutschen Aufklärungsphilosophie nicht zu begreifen. Das gilt, wie wir mittlerweile wissen, nicht erst, wenngleich aber verstärkt, seit jenem denkwürdigen Ge­spräch zwischen Lessing und Jacobi, das im Nachgang Furor ge­macht hat und eine Reihe von philosophisch-theologischen Streitigkeiten ausgelöst hat. Gerade deswegen erscheint es merkwürdig, dass die Einflüsse Spinozas auf Immanuel Kant und die Formierung seiner Philosophie lange Zeit von der Forschung zumeist unberücksichtigt blieben. Das hat sich in den letzten Jahren verändert, und zwar auch und gerade unter dem Blickwinkel religionsphilosophischer Fragestellungen. Gleichwohl stand, wenn es um die Hintergründe von Kants Invektiven gegen die »Dogmatiker« auf dem Feld der Metaphysik ging, der große Niederländer eher im Schatten der Leibniz-Wollf’schen Schule.
Der in New York lehrende und hierzulande nicht zuletzt dank nachdenklicher Essays (in der ZEIT und andernorts) zu israel- und kulturpolitischen Themen bekannte junge Philosoph Omri Boehm hat sich nun auf ganz eigenständige und – wie man sofort hinzufügen darf: souveräne – Weise der Ideenkonstellation von Kant und Spinoza angenommen. Für B. lässt sich Kants Entwicklung gar nicht abseits von dessen zeitlebens andauernder kritischer Auseinandersetzung mit Spinozas Metaphysik verstehen. Unter sachlichen Aspekten und an den Maßstäben einer auf die Analyse der wesentlichen Argumentationsstrukturen bezogenen Konstellationsforschung lässt sich Kants Philosophie als eine stetig fortschreit ende Abgrenzung von Spinozas Antworten auf seine eigenen Fragestellungen – hinsichtlich der Denkbarkeit Gottes und der menschlichen Freiheit, von Teleologie und Moralität – begreifen. Dabei stehen vor allem zunächst Theoriedesign und Rationalitätsmodell sowie der Argumentationsstil Spinozas im Zentrum von Kants Interesse, und zwar auch dann, wie B. betont, wenn der Na­me Spinoza zumeist gar nicht fällt. B. geht, wie er einleitend betont, nicht mit der gängigen Forschung überein, wonach Spinoza für Kant erst nach dem Ausbruch der »Jacobisch-Mendelssohnschen Händel« (nach 1781 bzw. 1785) philosophische Relevanz erlangte. Und so traut B. auch Kants eigenem eher rhapsodisch-ironischen Urteil im Grunde nicht, wonach er, Kant, Spinozas Metaphysik nie recht verstanden habe.
Beides hat gute Gründe, und das zeigt der Aufbau des Buches von B.: So gelingt ihm in einem ersten Kapitel (vgl. 15–67), anhand der Beweisschrift zu zeigen, dass Kant nicht nur hinsichtlich der Beweisbarkeit des Daseins Gottes, sondern überhaupt mit Blick auf die reine, theoretische Vernunft und ihre Möglichkeit, Dinge zu bestimmen und darin zu erkennen, ganz auf den Bahnen spinozistischer Metaphysik argumentiert. – Das hatte, wie B. zu Recht mehrmals betont, auch Jacobi gesehen, dessen Inspiration für die Beschäftigung mit Spinoza sich der Lektüre genau jener Kant-Schrift verdankte. Insofern ist auch der Umgang B.s mit diesem großen Außenseiter deutlich fairer als in der Forschung gemeinhin üblich.
Allerdings wird spätestens in der Kritik der reinen Vernunft dieser Spinozismus für Kant zu einem Problem, weil er als dogmatischer Ansatz zwar, und auch darin konvergieren Jacobi und Kant bekanntlich, der metaphysisch konsequenteste ist, aber eben damit zugleich mit allen Problemen behaftet bleibt, die eben solche Theoriedesigne mit sich bringen. Allenfalls als ein »regulative Spinozism« (7.15 u. ö.) könnte man demgegenüber das Vorgehen Kants, schon in der Beweisschrift – so die Lesart B.s – werten. Warum dies? Weil Kant im Grunde genommen schon dort Abstand genommen hatte vom Aufweis einer alles umfassenden und als deren Grund sich erweisenden (göttlichen) Realität. Das »ens realissimum« als »Spinozas Gott« kann zwar noch als regulative Vernunftidee postuliert werden, aber schon in den Antinomien, vor allem der ersten und der dritten (vgl. die detaillierten Analysen: 68–107.108–149), demonstriert Kant dann, warum die Geschlossenheit des spinozis­tischen Welt- und Wirklichkeitsmodells an der Überhebung der spekulativen Vernunft scheitert. Mehr noch, B. interpretiert auf überzeugende Weise, dass die Kritik des ontologischen Gottesbeweises nicht einfach nur ein Implikat der Destruktion überkommener Inhalte rationaler Metaphysik (Psychologie, Kosmologie und Theologie) bildet, sondern dass darin mehr noch die beiden Basisannahmen spinozistischer Metaphysik destruiert werden: die Figur der »causa sui« und das Prinzip des (bei Spinoza stärker noch als bei Leibniz in Anschlag gebrachten) zureichenden Grundes (vgl. das zentrale Kapitel 4: 150–189). Beides scheitert bei Kant daran, dass durch sie die Grenzen der Vernunft überschritten werden, die Erkenntnis ihren Anhalt an der in freier Tätigkeit vorgenommenen Wirklichkeitskonstruktion leugnet und damit nicht zuletzt der Perspektivendualismus aus noumenaler und phänomenaler »Realität«, die jeder Erkenntnisleistung imprägniert ist, unterlaufen wird. Was scheinbar als Vorzug monistischer Metaphysik bei Spinoza gewertet werden darf, bedeutet im Grunde das Unterlaufen kritischer Philosophie. Nirgendwo anders stehen Nähen und Differenzen zwischen Spinoza und Kant für B. deutlicher nebeneinander wie an diesem Punkt:
»The rationalist code to believe nothing without sufficient grounds – a code embraced by both Spinoza and Kant – was on a normative decree rather than on theoretical justification. The Source of Spinoza’s adherence to the PSR [sc. Principle of Sufficient Reason; C. P.] is the assumption that this principle can serve as an effective criterion, liberating thought from foreigne, fake authorities. But in crowning this principle, using it to critizes dogmatic understanding, Spinoza fails to notice that this principle must itself subjected to its own criterion – critized by the standard that what cannot be understood should be rejected. This is exactly Kant’s position, of course, and the sense in which his Critique of Pure Reason is Spinozist in spirit: it fights against dogmatism by doing to reason what Spinoza himself had done to revelation. This is the sense in which Kant´s Critique of Pure Reason is a critique of Spinoza.« (182 f.)
In diesem Sinne liest B. Kants Kritik am transzendentalen Realismus und sein Plädoyer für den transzendentalen Idealismus (verbunden mit einem empirischen Realismus) auch als die von breiter Seite gewünschte Antwort auf die mit dem Pantheismusstreit verbundenen Auseinandersetzungen um die Vernunft und ihre Reichweite. Die für die zweite Auflage geschriebene Vorrede zu diesem Werk benennt die neuen Frontlinien klar und deutlich: Atheismus, Materialismus und Fatalismus auf der einen, Schwärmerei und Aberglaube auf der anderen Seite (vgl. dazu insgesamt: 190–236).
Von hier aus wird der schon in der Einleitung (1–14, hier: 10) benannte Fluchtpunkt der Zielsetzungen B.s hinreichend deutlich: Was bedeutet es eigentlich, wenn man vor dem Hintergrund einer dergestalt an Spinoza geschliffenen und konturierten Theorie von Vernunft in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu lesen bekommt: »Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen.« (Kant)? Für B. heißt dies zweierlei: einmal in negativer Hinsicht die Destruktion jeglicher Form von geschlossen auftretender Metaphysik (vgl. 226–227) und dabei zugleich den Aufweis, dass es in positiver Hinsicht der Vernunft weiterhin möglich ist, einen ihr gemäßen Glauben (»rational faith«) zu erkennen und zu bestimmen. Diese positive Auseinandersetzung Kants mit Themen, die von Spinoza auf scharfsinnige Weise gleichsam ad acta gelegt wurden – Moralität, Werthaftigkeit (»purpose«), Theologie und Teleologie, findet nach B. freilich erst in der Kritik der Urteilskraft und den Spätschriften statt. Spätestens daran erkennt man, warum man Kant nicht als Nachfolger, sondern auf eminent konstruktive Weise als radikale Alternative zu Spinoza und allen ihm nachfolgenden Theorien verstehen sollte. B. hat schon angekündigt, sich diesen Folgegängen in einem »next book« (10) zu widmen. Wir dürfen uns darauf freuen.