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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

537–539

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kuhn, Thomas K. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paul Wernle und Eduard Thurneysen. Briefwechsel 1909–1934.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 410 S. m. 4 Abb. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-55092-2.

Rezensent:

Konrad Hammann

Im Juli 1924 äußert der Basler Kirchenhistoriker Paul Wernle ge­genüber seinem früheren Studenten Eduard Thurneysen starke Vorbehalte hinsichtlich dessen Verständnis der Bibel: »Die schroffe Gleichsetzung von Offenbarung und Schrift hat mich geradezu erschreckt und ist sogar gegenüber Calvins Institutio eine arge Verengung.« (362) Thurneysen nehme nicht hinreichend ernst, »dass jede ehrliche geschichtliche Lektüre der Bibel bei der Erkenntnis gewaltiger Unterschiede, ja Gegensätze in der Bibel endigen« müsse. Er vernachlässige zumal mit seiner Theorie vom biblischen Kanon allzu sehr die komplexen historischen Probleme: »Sie […] tun da einen Sprung in die Orthodoxie hinein, um den ich Sie wahrlich nicht beneide.« (363)
Danach wechselten Wernle und der inzwischen längst im Pfarrdienst tätige Freund Karl Barths nur noch wenige Briefe miteinander. Freilich dürfte der auffällige Rückgang des Austausches zwischen den beiden Schweizer Theologen nach 1924 weniger an ihrem sich schon lange vorher abzeichnenden theologischen Dissens als vielmehr an Wernles schwerer Erkrankung gelegen haben; Letztere führte im Laufe der Zeit zu einer erheblichen Beeinträchtigung seiner Arbeits- und Kommunikationsfähigkeit (81). Die gesamte Korrespondenz zwischen den beiden Theologen, die sich über den Zeitraum von 1909–1934 erstreckt, lässt sich entsprechend dem plausiblen Vorschlag des Herausgebers in drei Phasen aufteilen (14). Knapp die Hälfte der 152 Briefe entfällt auf die Zeit des Studiums und der Anfänge des pfarramtlichen Wirkens Thurneysens (1909–1914), weitere 49 Briefe sind aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erhalten und aus dem Zeitraum zwischen November 1918 und 1934 stammen nurmehr 24 Briefe.
Nachdem Thurneysen in seinen ersten Studiensemestern in Basel außer bei dem Alttestamentler Bernhard Duhm besonders bei Paul Wernle mit Gewinn Kollegs besucht hatte, verwickelte er seinen neutestamentlichen und kirchengeschichtlichen Lehrer ab 1909 von Marburg aus zunächst in einen Dialog über die ihm durch die dortige liberale Theologie und den Marburger Neukantianismus neu eröffneten theologischen Fragen, wie sie in paradigmatischer Differenz Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch diskutierten. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz und nach seinem Ersten theologischen Examen im Herbst 1911 rückte Thurneysen mehr und mehr die soziale Frage in den Mittelpunkt seines Dialoges mit Wernle. Durch die persönliche Begegnung mit Hermann Kutter und Leonhard Ragaz sowie die Lektüre von Troeltschs »christlichen Soziallehren« erweiterte sich Thurneysens Perspektive (vgl. 125–132), so dass er sich ermutigt sah, zwischen Wernle und den Religiös-Sozialen gewissermaßen zu vermitteln. Freilich wollte Wernle davon nichts wissen (vgl. 137 f.149), auch wenn er dem Anliegen Kutters und Ragaz’ eine partielle Berechtigung nicht absprechen mochte. Thurneysen wiederum fand in den Anstößen der Religiös-Sozialen durchaus Neues und erkannte in ihrer »Schärfung des Gewissens für die sozialen Probleme« eine »Verlebendigung alten religiösen Gutes« (158), ohne aber damit Wernle von dessen reservierter Haltung zur Umsetzung der Reich-Gottes-Erwartung in sozialen Programmen abbringen zu können. Ansonsten berichtete Thurneysen, nachdem er 1913 in Leutwil seine erste Pfarrstelle angetreten hatte, seinem Lehrer ausführlich von seinen Erfahrun gen und manchen Herausforderungen in der Gemeindearbeit. Auch Wernle ging in seinen Briefen nun verstärkt auf die Frage nach dem Lebensbezug der akademischen Theologie ein und ge­stand dabei, gelegentlich komme ihm seine wissenschaftliche Arbeit »als fast wertlos« vor, »weil sie direct eigentlich gar niemand hilft & kaum irgendwo Fühlung hat mit unserem Gegenwartsleben« (213).
Zum Ersten Weltkrieg und den Debatten über den Krieg im eidgenössischen Protestantismus sowie zu dessen Verhältnis zum kriegführenden Deutschland gibt die Einleitung instruktive Hintergrundinformationen, die das Verständnis der Positionen Wernles und Thurneysens fördern (29–31). Während Wernle den Kriegsausbruch als »eine Probe für unser Gottvertrauen« auffasste (230), äußerte Thurneysen von Anfang an sein tiefes Befremden über die chaotischen Mächte des Bösen, die sich skrupellos der Waffen bedienten – und auch über die »Christliche Welt« mit ihrer »wenig christlich-neutralen deutschen Militärreligion« (232). Während Wernle den Patriotismus und den Waffendienst als eine von Gott gebotene sittliche Verpflichtung betrachtete (271 f.), konnte Thurn­eysen den Willen Gottes in den konkreten Realitäten des Krieges nicht ohne Weiteres ausmachen; gegenüber seinem Lehrer beharrte er auf der eschatologischen »Spannung zwischen Evangelium und Welt« (279). Beide hielten aber trotz dieser Meinungsverschiedenheiten an ihrer freundschaftlichen Gesinnung füreinander fest; dies umso mehr, als der der historisch-kritischen Exegese zunehmend distanziert gegenüberstehende Thurneysen das Jesus-Buch Wernles von 1916 euphorisch aufnahm (289).
Vollends deutlich wird der theologische Dissens dann in den nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewechselten Briefen. Thurn­eysen betont, »dass das Neue Testament jedenfalls die weltlichen Entwicklungen und das Kommen der neuen Welt von Gott her in unmissverständlicher Weise« auseinanderhalte (330), und möchte im Sinne von Barths erstem Römerbrief-Kommentar (vgl. 336 f.) nicht nur destruktiv wirken, sondern »den dialektischen Prozess fördern, der die wahre Position ans Licht« bringe (343). Doch Wernle reagiert abweisend etwa auf eine Predigt, in der er Thurneysen »ein konstruiertes, künstliches, von der wirklichen religiösen Er­fahrung abseits liegendes Evangelium« verkündigen sieht, be­dauert Thurneysens »Kirchgenossen«, die »Sonntag für Sonntag […] dieselbe Melodie, dass[elb]e Evangelium der Unmenschlichkeit anhören« müssten (344), und empfiehlt seinem Schüler, sich an Jesu Umgang mit den Menschen zu orientieren statt sich als theoretischer Konstrukteur von der Erfahrung und dem Leben zu entfernen. Jedoch versicherten beide Korrespondenzpartner einander wiederholt, unbeschadet ihrer unüberbrückbaren theologischen Differenzen an dem vertrauensvollen persönlichen Verhältnis zu­einander festhalten zu wollen und zu können.
Die Edition des auch menschlich anrührenden Briefwechsels stellt die späte Frucht der Basler Lehrtätigkeit Thomas K. Kuhns dar. Er hat die Korrespondenz mustergültig ediert und mit ebenso hilfreichen wie erfreulich knappen Erläuterungen kommentiert. Darüber hinaus gibt K. in seiner Einleitung (13–81) weitere wertvolle Informationen zu diesem Briefwechsel und seinem historischen Kontext sowie zwei gelungene biographisch-theologische Porträts Paul Wernles und Eduard Thurneysens. Der Abdruck eines Curriculum vitae Thurneysens aus dem Jahre 1911 (82–86) sowie Biogramme der in der Korrespondenz erwähnten Personen (368–385) tragen ebenfalls zum Verständnis der von Wernle und Thurneysen berührten Themen und Konstellationen bei. Ein Abkürzungsverzeichnis sowie drei Register (zu den Personen, Orten und Sachen) erschließen einen Band, der vorzüglich in die zu Beginn des 20. Jh.s im schweizerischen Protestantismus geführten theologischen und politischen Debatten, die persönliche Beziehung zwischen zwei bekannten Vertretern der zeitgenössischen Theologie sowie nicht zuletzt das kontroverse Gespräch zwischen der liberalen Theologie und der frühen Dialektischen Theologie einführt.