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Ausgabe: | November/1999 |
Spalte: | 1152–1154 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Splinter, Dieter |
Titel/Untertitel: | Theologe zwischen den Welten. Reinhold Niebuhr und die "Deutsche Evangelische Synode von Nord-Amerika", 1892-1928. |
Verlag: | Aachen: Shaker 1998. XVII, 519 S. 8 = Theologische Studien. ISBN 3-8265-2690-2. |
Rezensent: | Dietz Lange |
Die erste Lebensphase des wohl bedeutendsten amerikanischen Theologen unseres Jahrhunderts, Reinhold Niebuhr (N.) (1892-1971), von den Anfängen bis zu seinem Übergang vom Pfarramt in Detroit zur Professur am Union Seminary in New York (1928), ist von der Literatur bisher meist vernachlässigt worden - von deutschen Autoren, weil sie zunächst genug damit zu tun hatten, N. überhaupt bekannt zu machen, von amerikanischen dagegen, weil sie oft die Quellen der deutschsprachigen Einwandererkirche, in der N. aufgewachsen ist, nicht lesen konnten, vor allem aber, weil vieles von dem einschlägigen Material nicht gedruckt und zum Teil sehr schwer zugänglich ist. Erst seit der verdienstvollen Quellensammlung von William Chrystal, "Young Reinhold Niebuhr", 1977, ist die Forschung hier weitergekommen. S., der an seinem Gegenstand vor allem historisch interessiert ist (23), hat durch gründliche Archivstudien nicht nur zu N. selbst, sondern auch zur Geschichte der "Ev. Synode" (über die es schon ein paar Arbeiten gibt) viel bisher Unbekanntes zutage gefördert und unser Wissen um ein gutes Stück erweitert. Dadurch ist er auch den bisher veröffentlichten Biographien überlegen. Das gilt auch für das bekannte Buch von Richard Fox, "Reinhold Niebuhr", 1985, das zwar sehr materialreich ist, aber seinen Helden vielfach arg verzeichnet (so der Vf. mit Recht 464). Die schöne Arbeit von Charles C. Brown, "Niebuhr and His Times", 1992, hat der Vf., der inzwischen Pfarrer ist, offenbar nicht mehr rechtzeitig zu Gesicht bekommen.
S.s Buch beschreibt auf sehr instruktive Weise den deutschen Hintergrund N.s, das Milieu der Einwanderer, zu denen N.s Vater gehörte, die Probleme ihrer Kinder besonders im I. Weltkrieg und die erheblichen Generationenkonflikte in der "Ev. Synode", einer Tochterkirche der Altpreußischen Union. Das Bild kompliziert sich zusätzlich dadurch, daß der Vater, ein Verehrer Adolf von Harnacks, im Unterschied zu der eher konservativen Mehrheit seiner Kirche liberale Anschauungen vertrat, die er auch seinen Kindern vermittelte. Sein Sohn hat dann versucht, die biblische Orientierung seiner Denomination mit den starken Anregungen des Vaters (historisch-kritische Methode) und den Einflüssen der freien amerikanischen Theologie, vor allem dem Social Gospel, dem er nach seinem kirchlichen Examen während des weiteren Studiums in Yale begegnete, zu verschmelzen. Das alles wird von S. mit viel Liebe zum Detail zuverlässig beschrieben. Die Darstellung ist flüssig geschrieben und liest sich leicht, wenn auch zum Teil etwas trocken. Manchmal allerdings ist die Fülle des Materials erdrückend und führt auch zu Wiederholungen. Hier hätte eine energischer zusammenfassende Hand dem Ganzen gut getan.
Immerhin liegt aber in der Wiedergabe der Realgeschichte offenbar die Stärke des Vf.s. In den spezifisch theologischen Passagen des Buches tritt dagegen die geschilderte Schwäche deutlicher zutage. Hier wird streckenweise Aufsatz für Aufsatz N.s (261-266) bzw. das Buch "Does Civilization Need Religion" Kapitel für Kapitel referiert (266-275), oder die Darstellung von Aufsätzen und Predigten wird schematisch nach dogmatischen Topoi geordnet (276-282). Ganz analog werden wenig später die Einflüsse Albert Schweitzers, Max Webers, Ernst Troeltschs, Alfred N. Whiteheads und William James (287-298) additiv nebeneinandergestellt. Dadurch wird das Bild der entstehenden Theologie recht flächig; der Vf. hält sich mit eigener Gewichtung und Interpretation stark - zu stark - zurück.
So ist man am Ende etwas ratlos, wenn es gilt, das Ergebnis der Arbeit zu bestimmen. S. selbst versucht dies, indem er eine nicht weniger als 42 Seiten (308-350) umfassende Zusammenfassung bietet. Sie ist in dieser Länge leider ziemlich nutzlos, zumal sie viele Details wiederholt, so daß der Leser sie entweder überschlagen oder aber die Lektüre auf diese Zusammenfassung beschränken wird. Trotz dieser methodischen Ungeschicklichkeit kann man aber sagen, daß das Buch ein differenzierteres Bild von der Frühzeit N.s und damit auch einen besseren Einblick in die Genesis seines Denkens vermittelt, als wir bisher hatten. Dies gilt für den Fachmann, der die fehlenden oder zu schwach ausgebildeten Akzentuierungen selbst setzen kann. Für alle anderen Leser dagegen wird der Hauptgewinn darin liegen, daß sie ein anschauliches Bild von den Verhältnissen und der Atmosphäre der ersten Lebenshälfte N.s und darüber hinaus einen guten Eindruck von den kirchlichen Zuständen in der Ev. Synode sowie von den Problemen der deutschstämmigen Amerikaner in dieser Zeit bekommen.
Sehr nützlich ist das Literaturverzeichnis, zumal es manches aufführt, was in der bisher maßgeblichen Bibliographie von D. B. Robertson noch nicht enthalten war. Eine Fundgrube ist die Liste der ungedruckten Quellen wie Predigtentwürfe, Briefe, Notizen, Akten (453-462), komplett mit Fundort und, wo nötig, Archivnummer. Die nahezu uferlose Sekundärliteratur ist ausführlich gesichtet und, soweit es sich um Monographien handelt, zu Beginn (6-23) in einem Forschungsüberblick nach thematischen Gesichtspunkten katalogisiert, am Schluß (465-497) in einer rasterartigen Tabelle einzeln mit jeweils zwei kommentierenden Sätzen vorgeführt worden. Dafür hat der Vf. auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihr in den Anmerkungen weitgehend verzichtet.
Man kann sich fragen, ob es nicht doch genügt hätte, diese Literatur einfach aufzulisten, so viel bewundernswerter Fleiß auch in Katalogisierung und Kommentierung gesteckt worden ist. Denn die erstere ist doch recht schematisch und insofern nicht allzu aufschlußreich, die Kommentierung sowohl in dem Überblick am Anfang als auch in der Tabelle am Ende so knapp, daß sie in sehr vielen Fällen den betreffenden Autoren nicht gerecht werden kann. Ohnehin ist, wie der Vf. mit Recht feststellt (21 f.), ein sehr großer Teil dieser Literatur wenig brauchbar. Wäre es da nicht besser gewesen, das Wagnis einer Auswahl einzugehen und nur diejenigen Titel eigens vorzustellen (und sich dann auch mit ihnen argumentativ auseinanderzusetzen), welche die Lektüre lohnen?
Die kritisierten methodischen Schwächen des Buches wird man großenteils auf das Konto der Tatsache verbuchen können, daß es sich um ein Erstlingswerk handelt. Jedenfalls darf der Vf. für sich in Anspruch nehmen, die Forschung zu diesem wichtigen Theologen vorangetrieben zu haben; jeder, der sich diesem in Zukunft zuwenden wird, sollte das Buch für den in ihm dargestellten Zeitraum konsultieren.