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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

529–530

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Pöpping, Dagmar

Titel/Untertitel:

Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 275 S. m. 17 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 66. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-55788-4.

Rezensent:

Martin Greschat

Ausgehend vom Missverhältnis zwischen den Erkenntnissen der zeitgeschichtlichen Forschung und dem tradierten Selbstverständnis der Wehrmachtseelsorger im Zweiten Weltkrieg thematisiert die Studie diese Diskrepanz. Der Schwerpunkt soll dabei auf der »Selbstwahrnehmung der Betroffenen« liegen (17). Die Darstellung ist zu Recht überkonfessionell konzipiert, weil sowohl die Voraussetzungen als auch die Zielsetzungen des Einsatzes der Pfarrer mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen als die konfessionellen Unterschiede betonten.
Die Arbeit von Dagmar Pöpping ist zusammen mit der Einleitung (9–17) und dem Schlussteil (207–217) in zehn systematische Abschnitte gegliedert. Drei beschreiben den Rahmen: die Funktion der Wehrmachtseelsorge im Krieg (18–30), die besondere Situation an der Ostfront (31–50) sowie die von den Geistlichen in diesem Umfeld sowohl zugewiesenen als auch individuell wahrgenommenen Aufgaben (51–77). Die darauffolgenden fünf Kapitel behandeln den »sozialen Raum des Krieges«, also den Tätigkeitsbereich der Pfarrer (78–118), die Thematik des Todes (119–139), das Gegen-über zum Feind (140–172), die Probleme mit der antikirchlichen und antichristlichen nationalsozialistischen Politik (173–188) und schließlich die nachträgliche Überhöhung der Leistungen der Militärseelsorge nach dem Krieg (189–206).
Eindeutig gehörten Antikommunismus und Antisemitismus, ferner das Ideal des christlichen Abendlands mitsamt dem Wunsch, innerhalb der Wehrmacht für Evangelium und Kirche zu werben, zu den geistigen Voraussetzungen dieser Männer. Im gleichen Ausmaß galt das für die Verwendung des Opfergedankens, die Konzentration der Predigten und Andachten auf das Neue Testament und die Passion Jesu. Hierzu werden zahlreiche Zitate mitgeteilt, allerdings ohne Reflexion darüber, inwieweit sie als repräsentativ gelten können. Dass die Geistlichen über die deutschen Verbrechen und Massenmorde informiert waren, lässt sich nicht bezweifeln. Diese Gräuel fanden jedoch selbst in privaten Aufzeichnungen kaum Erwähnung. Bedacht werden muss allerdings der hier nur anklingende Gesichtspunkt: Nach der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, der faktisch auch Katholiken beipflichteten, gehörten der Krieg und mit ihm die schrecklichen »Kriegsnotwendigkeiten« in den Bereich, den allein die Obrigkeit zu verantworten hatte. Der einzelne Soldat dagegen hatte sich im persönlichen Glauben und Gehorsam zu bewähren. Die hier gewählte strukturgeschichtliche Vorgehensweise neigt dazu, his­torische Konkretionen einzuebnen. Betrachtet man etwa die (allerdings weit verstreuten) brieflichen Zeugnisse von Wehrmachtspfarrern und Soldaten aus dem Kessel von Stalingrad, wird eine tiefere seelsorgerliche und humane Dimension erkennbar, die über die eingangs erwähnte Konzeption der Arbeit hinausweist.
Pointiert wird die nach 1945 aufgestellte Behauptung der »sauberen Wehrmacht« und der »unpolitischen Seelsorge« zurückgewiesen. Belege der Selbstkritik findet P. kaum. Bemerkenswert ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der sie das »Nationalkomitee Freies Deutschland« und dessen »Arbeitskreis für Kirchliche Fragen« ausblendet. Diesem Gremium gehörten als Gefangene in der Sowjetunion immerhin rund hundert Wehrmachtsgeistliche beider Konfessionen an. In ihren Veröffentlichungen wurde sehr selbstkritisch geredet. Exemplarisch dafür sei auf Friedrich-Wilhelm Krummacher verwiesen, den späteren evangelischen Bischof von Greifswald.
Manches wirkt in diesem Buch wie mit heißer Nadel genäht. Allgemeine Überblicke begegnen anstelle von Standardwerken. Nach welchen Gesichtspunkten wurden einzelne lebende Historiker im Register ausgewählt? Warum fehlen bei verschiedenen Personen aktualisierte Angaben? Zu Thielicke erfährt der Leser z. B. nur, dass er 1945 Professor in Tübingen war, jedoch nicht, dass er seit 1954 in Hamburg wirkte. Man wird solche Schönheitsfehler nicht überbewerten wollen. Insgesamt bietet diese Arbeit einen anregenden Einblick in einen immer noch weitgehend unerschlossenen Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte.