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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

526–528

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hager, Angela

Titel/Untertitel:

Freimut. Hermann von Loewenich. Kirchenreformer und Landesbischof. Eine Biographie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 400 S. m. 30 Abb. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-374-04429-0.

Rezensent:

Gert Haendler

Angela Hager war in ihrer Doktorarbeit »Reformgruppen in der Bayerischen Landeskirche 1966-1976« mehrfach Hermann von Loewenich begegnet. Persönlich hatte sie ihn nur kurz gesehen, aber sie kannte Dokumente. Die Familie, Zeitgenossen und die Landeskirche unterstützten die Arbeit.
Der Titel »Freimut« meint das neutestamentliche Wort Parrhesia, das L. selbst oft mit »Freimut« übersetzt hatte. Kapitel 1) »Inmitten der Wirren jener Zeit« über Kindheit und Jugend 1931–51 erinnert an die Faszination des NS-Regimes, verbunden mit Schuldgefühl. Die Kirche hatte damals zu wenig ihre Stimme für Verfolgte erhoben. Hier liegt eine Wurzel für »Freimut«. Sein Vater Wilhelm von Loewenich war als Wehrmachtspfarrer in Stalingrad bis zuletzt bei den Soldaten geblieben trotz anderer Möglichkeiten (18). 1951 bestand L. das Abitur. Kapitel 2 beschreibt den Weg zum Pfarrberuf. L. trug sich in Erlangen zum Studium ein, sein Onkel Walter von Loewenich beriet ihn. Besonders beeindruckte ihn Paul Althaus (55–58). Politisch gehörte er zur »Front gegen den Osten« (59). 1953 trat er in die CSU ein, 1962 trat er beim Eintritt in den kirchlichen Dienst aus der Partei aus. In Kapitel 3 »Mut zum Exodus« kriti-sierte L. den restaurativen Weg seiner Kirche, z. B. die Agenden der VELKD und die Fixierung führender Männer auf Kirchenkampfer fahrungen. Seit 1958 lebte L. als Inspektor am Predigerseminar Nürnberg in Gemeinschaft mit Kandidaten, die oft ähnlich empfanden. 1962 zeigte L. seine Verlobung dem Landeskirchenrat an: Ein Pfarrer musste »eine Referenz über die künftige Pfarrfrau einreichen« (90). Die Vorschrift galt bis 1972. L. wurde 1962 Studentenpfarrer: Gemeinde im »Halbkreis« (92). Bei Unruhen 1968 mahnte L. »Habt Mut, auf dem Weg der Hoffnung zu bleiben«. Er erinnert an Jesus: »Wartet nicht ab, sondern versucht den Willen Gottes zu tun, der eben auf jenes Reich der Liebe und Freiheit zielt, in dem unsere Entfremdung und Unfreiheit aufgehoben wird« (109).
Kapitel 4 »Kirche für die Welt« zitiert aus einer Einladung 1967: »Viele von uns begleiten den Weg unserer Kirche mit zunehmender Sorge. Immer mehr scheint sich dieser Weg in der Sackgasse der Restauration und Introvertiertheit zu verlieren.« Damit verfehlt die Kirche in unserer Zeit ihren Auftrag, »Kirche für die Welt zu sein«. Etwa 30 bayerische Theologen gründeten den Arbeitskreis Evangelische Erneuerung. Für Bayern war es neu, »dass eine kirchliche Gruppe in diesem Maß das Gespräch mit der Öffentlichkeit suchte« (134). Ende 1968 zählt die AEE rund 400 Mitglieder. Bonhoeffers »Kirche für andere« sollte Wirklichkeit werden mit mehr Einsatz für die Welt und einer Sensibilisierung für gesellschaftliche Dimensionen des Glaubens. Der AEE erstrebte eine Demokratisierung der Kirche (123). Das führte in die Politik: 1972 unterstützte man die Ostverträge, »bei denen sich der AEE deutlich in der Nähe der SPD positionierte« (134). Im Kampf für die Frauenordination stritt man mit Landesbischof Dietzfelbinger. Ein Flugblatt nannte die problematische Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat, die der Glaubwürdigkeit der Kirche schade (129). 1970 begann der Weg über Kirchenwahlen. Die Wahl am 7. November 1971 verjüngte die Synode, der Anteil der Frauen war gewachsen (u. a. Hildegard Hamm-Brücher). L. war Synodaler geworden und erklärte: Kirche für andere könne man nur sein, wenn man die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Situation und ihren Bedürfnissen nach Halt und Ordnung akzeptiere. Das führte zur alten Formel »Ecclesia semper reformanda«. Im Anfang hatte die AEE die Volkskirche kritisiert, jetzt legte L. ein Wort für sie ein (135).
Er wurde Sprecher der Gruppe »Offene Kirche«. Der Kampf für die Ordination von Frauen war (mit Abstrichen) 1975 erfolgreich. Die AEE verfasste 1983 eine »Nürnberger Erklärung«, die über die Denkschrift der EKD hinausging: Zur Ablehnung der »atomaren Abschreckung« sagte L.: Der Staat pervertiert mit der atomaren Abschreckung »den von Gott gesetzten Schutzauftrag« (145). L. erinnerte an den Überfall auf die Sowjetunion. Es belaste ihn, »dass nun Raketen auf deutschem Boden aufgestellt werden sollen, die direkt in die Sowjetunion reichen« (145). 1985 wurde L. in die Leitung der VELKD gewählt (151).
Kapitel 5 schildert die Jahre als Dekan in Kulmbach 1969–76 »Kirche gibt es nur im Wir-Stil«. L. erregte Erstaunen, als er einer Einladung der Jungsozialisten folgte (168). 1972 begann seine Schriftenreihe »Evangelisch in Kulmbach« (170). Er setzte sich ein für eine Patenschaft in Neu-Guinea, für arbeitende Menschen in bestimmten Bereichen. Aufsehen erregte ein Krankenhausseelsorger, der sich in einer Predigt für einen jungen Arzt eingesetzt hatte, dem nach Kritik an Chefarztgehältern gekündigt worden war. Die Schlichtung legte fest: Jener Pfarrer werde keine Gottesdienste mehr im Krankenhaus halten, ein Hausverbot gegen ihn wurde aufgehoben (181). L. spürte, dass die Probleme nicht erledigt waren (183).
Bei einem Misstrauensantrag der CSU gegen Willy Brandt 1972 brachte die AEE für die Ostverträge über 3000 Unterschriften zusammen, die L. dem Rat der EKD und den Bundestagsfraktionen zuleitete (184). Kapitel 6 »Kirche in der Großstadt« schildert L. als Stadtdekan in Nürnberg. Den Kirchentag 1979 empfand L. als Hö­hepunkt für ein selbstbewusstes Miteinander von Bürgergemeinde und Christengemeinde (200). Seine Pfingstpredigt nennt Grenzen: »Wir sind nicht Macher des Geistes Gottes. Aber wir leben von seinen Verheißungen« (204). L. wollte die Öffnung zur »Bürgergemeinde«, zu den Menschen, die sich von der Kirche entfernten (207). Zum Kirchentag befürchtete Walter Künneth einen »unverbindlichen Lehrpluralismus« (227). Aber Dorothee Sölle wirkte auf 5000 Menschen eher meditativ (230). Man kritisierte Paul Althaus und die Erlanger Fakultät bei der Einführung des Arierparagraphen in die Kirche. Hier fehlt die Althaus-Biographie von Gerhard Jasper 2013. Hohe Wellen schlug 1981 ein Streit um das selbstverwaltete Kommunale Wohnungszentrum (KOMM). Nach einer Demonstration verhaftete die Polizei 141 der 168 Bewohner, die sie bis zu 14 Tage festhielt. Das Evangelisch-Lutherische Dekanat Nürnberg erklärte sich »betroffen«, zumal der Umgang mit Eltern von Verhafteten mit der bayerischen Verfassung unvereinbar sei (242). Gegen 66 Angeklagte wurde ein Prozess eröffnet – und bald eingestellt (252). 1985–94 wirkte L. als Nürnberger Kreisdekan, doch haftet dieser Zeit »in Relation zu anderen Stationen seines Lebens etwas Zurückhaltendes an«. Er betonte »die spirituelle Dimension des Glaubens« (257). Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 erklärte L.: »Der Umgang mit der Kernenergie erlaubt keine menschlichen Fehler, er setzt den perfekten Menschen voraus. Insofern überschreitet diese Technologie das menschliche Maß« (281). Zur Flüchtlingsfrage stellte er fest: »Menschlichkeit kann nicht zur Disposition gestellt werden« (281). In der Wende 1989 sah er ansatzweise eine Verwirklichung der Bergpredigt »Selig sind die Friedensstifter«. Der große Aufbruch der Kirchen im Osten blieb freilich aus (286).
Es schien so, als ob L. sich auf das Ende seiner Amtszeit einstelle. Es folgten aber noch »Bischofsjahre« 1994–1999 (Kapitel 7). L. war »für Konservative und Progressive zu einer Integrationsfigur geworden« (293). Diplomat wurde er freilich nicht – weder in Beziehung zur Staatsregierung noch zur katholischen Kirche (307). Umstritten war sein Versuch, ein Zukunftspapier für die Landeskirche von McKinsey einzuholen. L. berief sich auf den Rat Jesu, von den Kindern dieser Welt zu lernen (321). Im Herbst 1989 warnte er jedoch, das »sola fide« durch ein »sola structura« zu ersetzen. 1994 hatte die Kirche als Ausgleich zur Pflegeversicherung auf den Buß- und Bettag verzichtet. L. versuchte zuletzt noch gegenzusteuern. Im Streit um Kruzifixe in Schulräumen 1995 war er »schockiert«, dass das Kreuz »nach der Verfassungsbeschwerde einer einzigen Familie in den Schulzimmern Bayerns keinen Platz mehr haben sollte« (333). Sein Engagement zusammen mit der katholischen Kirche wurde auch kritisiert: L. sei ein »Anhängsel der Papstkirche«. Das »Kirchenasyl« war für Innenminister Günther Beckstein – einen aktiven Synodalen der evangelischen Kirche – eine »Straftat nach dem Ausländergesetz« (340). L. beklagte, dass »asylsuchende Menschen mit aller Härte des Gesetzes verfolgt und abgeschoben werden, andererseits zum Beispiel Steuerflucht und Wirtschaftskriminalität in Milliardenhöhe unbestraft bleiben« (344). Sein Einsatz wurde anerkannt, aber helfen konnte er kaum (348). 1998 verabschiedete die Synode ein Wort »Christen und Juden«, das für neues Vertrauen dankt, das aber den Verzicht auf eine Mission unter Juden feststellt.
Bei aller Kritik an Hans Meiser will L. nicht zum »Richter unserer Väter« werden (353). Die Verabschiedung aus dem Bischofsamt am 31. Oktober 1999 fiel zusammen mit der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre in Augsburg«. L. sah darin einen »Zuspruch, dass auch ein Bischof nicht durch sein Tun und Werken gerechtfertigt ist« (358). Kapitel 8 »Der lange Abschied« geht auf die Krankheitszeit seit 1999 ein.
Das Buch ist mit viel Anteilnahme geschrieben. Neben dem Gewinn für die Regionalgeschichte Bayerns bietet die lebendige Darstellung der damaligen Probleme von einer leitenden Person her eine nützliche Bereicherung für die Kenntnis der deutschen Kirchengeschichte im 20. Jh., für die zu danken ist.