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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

523–524

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Möhle, Hannes

Titel/Untertitel:

Albertus Magnus.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2015. 248 S. = Zugänge zum Denken des Mittelalters, 7. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-402-15675-9.

Rezensent:

Ludger Honnefelder

Die letzte monographische Einführung in das Denken Alberts des Großen liegt mehr als drei Jahrzehnte zurück. Seitdem hat eine breite und höchst folgenreiche Albert-Rezeption eingesetzt: In der kritischen Editio Coloniensis sind wichtige Werke Alberts erschienen; das Interesse der internationalen Forschung an Alberts Werk hat erheblich zugenommen und eine Reihe der wichtigen Schriften Alberts haben eine Würdigung durch zweisprachige Ausgaben mit detaillierten Einleitungen und Kommentierungen erfahren. Das so entstandene neue Bild Alberts verlangt dringend nach einer Einführung, die dem Stand der Forschung entspricht und dieses Bild durch eine relecture der relevanten Texte vorstellt. Eine solche Einführung ist nun in »Zugänge zum Denken des Mittelalters« aus der Feder von Hannes Möhle erschienen, der als Leiter des Bonner Al­bertus-Magnus-Instituts mit der Arbeit an der Editio Coloniensis ebenso wie mit der umfangreichen Forschung bestens vertraut ist.
M. wählt für die Einführung einen für Alberts Werk besonders geeigneten Weg: zum einen folgt er mit seiner Rekonstruktion der Lehre Alberts den Feldern, auf denen Albert im Lauf seines (ungewöhnlich langen) Lebens und Wirkens markante Weichenstellungen eingeleitet hat: der Wissenschafts- und Universitätsentwicklung, der Ordens- und Kirchenpolitik, der Herrschaftsstrukturen in der aufkommenden Bürgergesellschaft sowie der durch den christlichen Glauben eröffneten spirituellen Lebensform; zum an­deren entwickelt er seine Rekonstruktion am Leitfaden ausgewählter Schlüsseltexte, deren (meist von ihm selbst erstellte) deutsche Übersetzung in den Fußnoten von dem lateinischen Text begleitet ist. Dieses an Arbeitsfeldern und Schlüsseltexten orientierte Vorgehen erlaubt ihm nicht nur, die Forschungsfortschritte bzw. -kontroversen der neueren Albertforschung im Gefolge dieses Leitfadens darzustellen und zu würdigen, sondern auch die in ihrer Bedeutung bislang übersehenen und völlig unterschätzten Ar­beitsfelder Alberts wie die praktische Philosophie eigens zur Sprache zu bringen, Alberts theologische Weichenstellungen in ihrem Zusammenhang mit seinem philosophischen Denken (und – wie etwa in Bezug auf die Frage der Transsubstantiation – in ihrer Bedeutung für die Theologiegeschichte) zu würdigen und Forschungspositionen, die sich an isolierten Textbeständen orientieren, überzeugend in den Gesamtduktus der Texte einzuordnen. Dabei greift M. im Fall von Texten, die noch nicht kritisch ediert sind – wie bei der für die Einordnung der spezifischen Intellektlehre Alberts wichtigen Schrift De intellectu et intelligibili –, auf einen jeweils an den besten Handschriften korrigierten Text zurück.
Den Leitfaden, nach dem Alberts Denken zu rekonstruieren ist, sucht M. nicht in spekulativen Überlegungen, sondern sieht ihn in dem hermeneutischen Schlüssel, den Albert selbst wählt, nämlich den der wissenschaftstheoretischen Struktur, deren Paradigma Albert in den Zweiten Analytiken des Aristoteles vorgebildet sieht und mit deren (über die arabischen Vorgänger hinausgehenden) Weiterführung bei Albert sich M. in anderen Arbeiten intensiver beschäftigt hat. Wie nicht nur Alberts Kommentar zu den Analytica Posteriora und die ersten Distinktionen seines Sentenzenkommentars, sondern vor allem die Prologe und Digressionen zeigen, mit denen er seine Aristoteles-Kommentierungen versieht, be­trachtet Albert die aristotelischen Schriften als Paradigma für den Versuch einer auf das Ganze ausgerichteten, aber endlichen Vernunft, dieses Ganze und seinen Ursprung in Form einer Mehrheit von scientiae zu begreifen. Mit dem Prinzip wissenschaftstheoretischer Differenzierung kann Albert, so M., den bis dato (auch von Albert selbst) verfolgten Zugang zur Einheit des Ganzen von dessen transzendentem Ursprung her durch einen Zugang zur »Einheit durch Differenzierung« ersetzen. Wie M. durch einen eindrucksvollen Vergleich Alberts mit Vinzenz von Beauvais zeigt, versteht Albert die Erkenntnis des Ganzen nicht mehr wie Vinzenz als Kumulation der Inhalte, die in der Theologie die überwölbende Spitze hat, sondern als Resultat eines Netzwerks differenter und zugleich aufeinander bezogener epistemischer Zugänge – womit Albert auf den Begriff bringt, was mit der um 1200 in Paris entstehenden Einrichtung der Mehrfakultäten-Universität zum neuen Paradigma von Wissenschaft und Forschung zu werden beginnt.
Der wissenschaftstheoretische Zugang zur »Einheit durch Differenzierung« erlaubt Albert, die Philosophie (wieder) als eine eigenständige Disziplin zu begreifen, die Theologie (erstmals) als eine Wissenschaft (sui generis) zu verstehen und den Naturwissenschaften eine eigene Erkenntnisleistung zuzuordnen. In genauer Analyse zeigt M., wie Albert die Differenzierung einsetzt, um die spezifische Erkenntnisleistung jeder der Wissenschaften zu erklären: für die Metaphysik durch die strukturelle Verbindung von epistemischer und kausaler Analyse (die es erlaubt, eine als Transzendentalwissenschaft verstandene Erste Philosophie mit einer ab­schließenden Philosophie des transzendenten Ersten zu ver­binden), für die Theologie durch den Wechsel von einer bis dato am Schema von res et signa orientierten Konzeption der doctrina christiana zur Theologie als prinzipienorientierter und von ihrem Ziel her »affektiver«, d. h. auf definitiven Lebenssinn bezogener scientia, für die Naturwissenschaft durch die Verschränkung von empirischer Beschreibung und kausaler Erklärung.
Auch Alberts Deutung der Leistungen der praktischen Vernunft verdankt, wie M. zeigt, ihre Innovativität dieser Strukturierung. Das zeigt sich an der neuen Zuordnung von Vernunftethik und göttlichen Geboten, mit denen Albert in seinen (von der neueren Forschung näher behandelten) Schriften zur Ethik auf die Herausforderung der säkularen Ethik der philosophi reagiert. Sie wird eindrucksvoll auch in der Politologie sichtbar, die Albert in seinem Politik-Kommentar, seinen Predigten über die Stadt und seinen Streitschlichtungen entwickelt und in der er eine bürgerschaftliche Partizipationsstruktur beschreibt, die das Konzept der aristotelischen polis in Richtung der modernen Stadt weiterentwickelt.
M.s Einführung zeigt, dass Albert weder – wie in der älteren Literatur – als der universale (besonders den Naturwissenschaften zugewandte) Gelehrte hinreichend zu beschreiben ist, der als Kompilator und Vermittler des schon vorhandenen Wissens wirkt und dessen Bedeutung in der eines Vorläufers besteht, der noch zu Lebzeiten von den ihm Nachfolgenden (wie vor allem seinem Schüler Thomas von Aquin) übertroffen wird, noch hinsichtlich seiner Innovationen auf einzelne – in neueren Studien behandelte – Lehren beschränkt werden kann. Auf nahezu allen Feldern zeigt sich vielmehr Albert als der konzeptionelle Kopf, der die mit der Aristoteles-Rezeption (und dem zivilisatorischen Wandel) heraufziehenden Herausforderungen er­kennt und richtig einschätzt, die Weichen neu stellt und damit zu der eine neue Epoche heraufführenden Schlüsselgestalt wird.
Auf 250 Seiten hat M. eine Einführung vorgelegt, die das neu gewonnene Albertbild nicht nur in genauer und höchst lesbarer Weise vor Augen führt; durch die Berücksichtigung aller relevanten Textgruppen, die Auslegung am Leitfaden der Schlüsseltexte und die an ihnen erfolgende Einordnung der jüngeren Forschung ist ihm eine Darstellung gelungen, die für den Einstieg in die Forschung geradezu unverzichtbar ist, gibt sie doch nicht nur den gegenwärtigen Stand zuverlässig wieder, sondern lässt auch erahnen, was die erweiterte Textlage und die neuen Einsichten in Alberts Schlüsselrolle von der zukünftigen Forschung erwarten lassen.