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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

519–521

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Reformation und ihr Mittelalter.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2016. VII, 478 S. m. 6 Abb. = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 14. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2690-0.

Rezensent:

Martin Keßler

Der Sammelband stellt 19 Aufsätze zusammen, die aus der Brettener Tagung »Die Reformation und ihr Mittelalter – Wertung, Wirkung, Perspektiven« vom Oktober 2013 hervorgingen. Das »Vorwort« (1 f.) benennt diesen Anlass und bietet eine forschungsstrategische Schilderung der fachlichen Ausgangssituation. Demnach würden mediävistische Forschungsperspektiven im deutschen Sprachraum noch immer mit einem negativ konnotierten Mittelalterbild konfrontiert, da die Annahme eines radikalen Bruchs zwischen Reformation und Mittelalter »höchst beliebt« und »weit verbreitet« sei. Gegen diese Geschichtsvergessenheit gelte es die »Voraussetzungen der Reformatoren in ihren mittelalterlichen Be­zügen« und die »Entwicklung der westlichen Rationalität« seit dem 12. Jh. zu erhellen, um zu einer »Überwindung der vielfach apologetisch und nationalkonservativ bestimmten Deutung dieser Kluft z wischen der Reformation und ihrem Mittelalter« beizutragen. Dem »Vorwort« scheint eine doppelte Funktion zuzukommen. Zum einen verzichtet es auf zusammenfassende oder weiterführende Erläuterungen und lässt die Beiträge für sich sprechen. Zum anderen hat es wohl den Wortlaut des »Einladungsschreibens der Veranstalter vom Mai 2012« aufgenommen, das in einem der Aufsätze zitiert wird (407). Erhellend dokumentiert das »Vorwort« damit Anlass und Aufgabe der Tagung. Die Auswahl der Autoren ist auf eine fach- und konfessionsübergreifende Stimmenvielfalt an­gelegt. Die Beiträge evangelischer Kirchenhistoriker beschränken sich auf weniger als ein Drittel. Hinzu kommen Studien aus den Fachbereichen der Philosophiegeschichte, der katholischen Reformationsforschung, Dogmatik und Liturgiewissenschaft, der historischen Mediävistik und Frühneuzeitgeschichte, des Mittellateinischen und der historischen Methodologie.
Wie gehen die Autorinnen und Autoren mit der aufgegebenen Themenstellung um? Die meisten Beiträge erweisen sich als sensibel gegenüber der perspektivisch gebrochenen Konstruktivität von Periodisierungskonzepten, indem sie epochenübergreifende Kontinuitäten schildern. Vereinzelt begegnen Überlegungen, wie die jeweilige Zeitspezifik terminologisch eingeholt werden könne. Volker Leppin setzt für die Reformation »Moment[e] von Origina-lität und damit letztlich auch einen Rest an Unableitbarkeit« voraus (113). Am Beispiel von Luther demonstriert er, dass bei diesem kein expliziter Mittelalterbegriff begegne, seine welt- und heilsgeschichtliche Gesamtschau aber dreistufige Geschichtskonzeptionen mit defizitären Zwischenphasen voraussetze. Der gewichtigste Beitrag zur Epochendiskussion stammt von Ulrich Muhlack, der an Kontinuität als »Grundkategorie des historischen Denkens« erinnert, die mit »Veränderung« einherginge, zu der auch Brüche zählen könnten (408). Nach begriffs- und kulturgeschichtlichen Ausführungen zum Epochenkonzept der Renaissance votiert er dafür, »die Reformation als Teilabschnitt oder Etappe eines alle Kultur-phänomene erfassenden Modernisierungsprozesses« zu verstehen, der unter dem »Begriff der Renaissance […] das ganze okzidentale Europa« zu erfassen imstande sei (437).
Unter den Aufsätzen, die kulturhistorisch vergleichend nach konfessionellen Spezifika fragen, ragt die Studie von Tarald Rasmussen material und interpretativ heraus. Er dokumentiert für Sachsen Entwicklungen in der Sepulkralkultur, die signifikante Unterschiede und strukturelle Gemeinsamkeiten in der Gestaltung reformatorischer und altgläubiger Epitaphien verdeutlichen. Die Überlegungen zu »funktionalen Parallelen« (285) sind theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich fundiert. Einen in seinem Materialreichtum beeindruckenden Beitrag steuert der katholische Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal bei, der Stundengebete in evangelischen Klöstern und Klosterschulen Württembergs bis ins frühe 19. Jh. verfolgt. Der allgemeinhistorische Mediävist Jan-Hendryk de Boer schlägt vor, die ereignisgeschichtliche Dynamik der frühreformatorischen Entwicklung aus einem »Funktionsverlust der institutionellen Mechanismen« (222) zu erklären, die in den vorherigen Jahrhunderten und Jahrzehnten »Gelehrtenkonflikte« reguliert hatten (223).
Eine Reihe von Autoren untersucht argumentative oder materiale Rückgriffe von Akteuren des 16. Jh.s auf mittelalterliche Überlieferungen. Arno Mentzel-Reuters fragt nach den handschriftlichen Vorlagen für Luthers Edition der »Theologia deutsch« und die 1525 erschienenen Annalen des Lampert von Hersfeld. Martina Hartmann arbeitet den selektiven Zugriff von Matthias Flacius Illyricus am Beispiel des Hinkmar von Reims heraus, der vor allem »das Funktionieren der fränkischen Kirche im 9. Jahrhundert« (372) ohne den Papst habe belegen sollen. Matthias Pohlig illustriert neben positionellen Interessen gelehrte Praktiken, intertextuelle Bezüge und kompilatorische Ansätze in der »konfessionellen Geschichtsschreibung« (78) der Frühen Neuzeit. Ueli Zahnd untersucht die Vorrede und einzelne Grundzüge des Sentenzenkommentars des französischen Calvinisten Lambert Daneau. Wirkungsgeschichtlich möchte Zahnd wahrscheinlich machen, dass sich Caspar Peucers Binnendifferenzierung der Scholastik Daneaus verdankt (281).
Theologie- und Philosophiegeschichte verschränken sich in weiteren Beiträgen. Günter Frank befragt die einheitsstiftende Vorstellung von »articuli fidei« aus der lutherischen Bekenntnis- und melanchthonischen Lehrtradition auf altkirchliche und scholas-tische Grundlagen. Theodor Dieter widmet Luthers sogenannter »Disputatio contra scholasticam theologiam« eine magistrale Un­tersuchung des Aufbaus und der Inhalte, für die er auf die berührten Bezugstexte von Biel eingeht und die Vielfalt der von Luther nicht herangezogenen scholastischen Überlieferung be­tont. Jorge Uscatescu Barrón tritt dafür ein, in dem spanischen Dominikaner Domingo de Soto, der sich kritisch mit Schriften Luthers auseinandergesetzt hatte, den »Urheber des […] Theologumenon der natura pura« zu identifizieren (26). Den niederländischen Theologen Antonie Vos und den Philosophen Günther Mensching verbindet ihre Wertschätzung des Nominalismus, während der Philosophiehis­toriker Henrik Wels nach gedanklichen Kongruenzen und Divergenzen im Umgang mit der Erbsündenlehre sucht.
Hervorzuheben sind zwei ambitionierte Studien der katholischen Theologie. Augustinus Sander profiliert Georg von Anhalt im Sinne einer »vor-konfessionellen Rezeption der Wittenberger Re­formbewegung« als Beispiel einer »[k]onfessorischen Katholizität« (51), während Johanna Rahner das ökumenische Verbindungspotential von Luthers nominalistisch fundierter und mystisch akzentuierter Christozentrik sondiert. Hinzu kommen zwei forschungsgeschichtliche Beiträge. Eine Miniatur zu Ebelings Scholastikverständnis bietet Risto Saarinen. Bewundernswerte Pionierarbeit zu Polycarp Leyser IV. und dessen literaturgeschichtlicher Aufwertung des Mittelalters zu Beginn des 18. Jh.s leistet der Mit­tellateiner Bernd Roling.
Der Band ist sorgsam redigiert; einzelne Querverweise wären in den Anmerkungen noch zu aktualisieren gewesen. Die verdienstvolle Indizierung von Namen, Orten und Sachen scheint sich auf den Haupttext zu beschränken; manche Zentralbegriffe (darunter Reformation) vermisst man, nachdem mehrere Lemmata (wie Mittelalter) sogar binnendifferenziert sind. Der Sammelband stellt den dankenswerten Versuch dar, den Austausch zwischen evangelischen Kirchenhistorikern und der mediävistischen Forschung in ihrer interdisziplinären Vielfalt zu befördern. Fachvertretern der verschiedenen historischen Disziplinen ist er entsprechend zu empfehlen.