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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

517–519

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Cobb, Paul M.

Titel/Untertitel:

Der Kampf ums Paradies. Eine islamische Geschichte der Kreuzzüge. Aus d. Engl. v. M. Sailer.

Verlag:

Mainz: Philipp von Zabern (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2015. 428 S. m. 13 Abb. u. 9 Ktn. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-8053-4884-3.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

»Kreuzzug« ist, wie informierte Leserinnen und Leser wissen werden, kein quellensprachlicher Begriff. Abendländische Christen benutzten vielmehr überwiegend Wallfahrtsterminologie (und sprachen z. B. von der »Wallfahrt ins Hl. Land«, so dass zur Vorgeschichte der historischen »Kreuzzüge« die Geschichte der Palästinawallfahrt ge­hört). Nun aber unterschied sich ein »Kreuzzug« von der normalerweise unternommenen Wallfahrt durch seinen kriegerischen Charakter (so dass in einer Vorgeschichte zu klären ist, wieso es auch im Christentum – trotz Mt 5,9; 26,52; Mk 12,17; Lk 22,25 f.; Joh 18,36 f. – zur Idee eines »hl. Krieges« hat kommen können). Damit dass sich Übereinstimmung darüber herstellte, dass nur ein Papst zum »Kreuzzug« aufrufen könne und den Willigen ein Sündenablass in Aussicht stehe, war schließlich das Bündel von Impulsen und Vorstellungen beisammen, das als abendländische »Kreuzzugsidee« be­zeichnet werden kann; es sorgte dafür, dass die (nach Palästina gerichteten, wiewohl keineswegs auch immer dorthin gelangenden) historischen »Kreuzzüge« von einer Serie ganz andere Ziele erstrebender Unternehmungen umgeben waren, die dennoch sämtliche Attribute eines mittelalterlichen »Kreuzzuges« aufwiesen.
Die muslimischen Zeitgenossen der »Kreuzfahrer« (und wohl die meisten ihrer Nachfahren) sahen (und sehen das bis heute) ganz anders – wie, das vermittelt erfreulicherweise nun auch der deutschsprachigen Leserschaft die hier angezeigte, gut lesbare und zugleich wissenschaftlich fundierte, außerdem so gut wie gänzlich auf den (früher kaum, zumindest aber nicht ausreichend berücksichtigten) islamischen Originalquellen beruhende Darstellung. Sie zeigt, verfasst von dem US-amerikanischen Mediävisten und Islamwissenschaftler Paul M. Cobb (Jahrgang 1967), die Begegnungen zwischen Muslimen und Christen aus muslimischer Sicht, und zwar nicht nur auf den Schauplätzen der kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch in vielen Geschichten weit abseits davon, welche den Hintergrund und die Vielschichtigkeit eines überaus komplexen Beziehungsgeflechtes allererst verständlich machen.
In neun Kapiteln, eingeleitet durch einen Prolog (»Brennpunkt Damaskus«), abgeschlossen durch einen Epilog (»Begrabene Reiter«) und immer wieder unterbrochen durch eine Vielzahl von Karten und Abbildungen, wird das Thema entfaltet (die Überschriften sind, wie sich denken lässt, fast immer den Quellen entnommen): Kapitel 1, »Das Haus des Krieges und das Haus des Islams«; 2, »Weit über das Meer«; 3, »Opfer des Schwerts«; 4, »Gegen die Feinde Gottes«; 5, »Sie sollen unsere Macht spüren«; 6, »Saladin«; 7, »Aus jedem tiefen Tal«; 8, »Wölfe und Löwen«; 9, »Lasst sie unser Lob singen«. Ein Anhang enthält außer den üblichen acknowledgements eine wichtige Anmerkung zu den Namen, eine Auflistung der wichtigsten historischen Persönlichkeiten und Dynastien, eine Aufschlüsselung der benutzten Abkürzungen, einen bibliographischen Überblick, einen umfangreichen Anmerkungsapparat und einen Einheitsindex. Es ist also alles getan, um den Inhalt einem breiteren Leserkreis zu erschließen! Der günstige Preis, einem Verlag (Philipp von Zabern) zu verdanken, der sich auch schon früher Verdienste um die Verbreitung eines zeitgemäßen Bildes von den »Kreuzzügen« erworben hat (s. den Kolloquiumsband »Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer«, Mainz 2005), tut ein Übriges.
Wichtigste Ergebnisse von C.s Darstellung sind: Auch den mittelalterlichen islamischen Quellen ist der Ausdruck »Kreuzzüge« völlig fremd; der heute oftmals gebrauchte gängige Begriff »Kreuzfahrerkriege« (al-hurub al-salibiyya) ist eine moderne Neubildung (13). Stattdessen geht es für die mittelalterlichen Muslime (und ihre Nachfahren) um die Auseinandersetzung zwischen dem (westeuropäisch-christlichen) »Haus des Krieges« und dem »Haus des Islam«. Und das heißt auch: Während für das Christentum so etwas wie »Heiliger Krieg« (Dschihad = »Krieg aus frommen Motiven im Unterschied zu den vielen weltlichen Anlässen, Krieg zu führen« [43]) lange Zeit außerhalb des Vorstellbaren lag, war das im Islam von Anfang an anders. Darum bestand anscheinend für keinen der uns bekannten islamischen Geschichtsschreiber der geringste Zweifel daran, dass die Christen die Aggressoren waren, auch wenn es um die »Befreiung« (reconquista) der vordem (weithin) christlich besiedelten iberischen Halbinsel sowie Siziliens ging.
Denn das ist ein weiterer bedeutsamer Unterschied: Während in der klassischen abendländischen Geschichtsschreibung der Aufruf Papst Urbans II. 1095 als eigentlicher Beginn und die Vertreibung der letzten Kreuzfahrer aus der Stadt Akkon 1291 als Ende der Kreuzzugsgeschichte gelten, ist aus Sicht der arabischen Quellen die Invasion des Orients im Zuge des sogenannten »Ersten Kreuzzuges« lediglich »ein Höhepunkt der europäischen Aggression, die Jahrzehnte früher begann«, und zwar »in Spanien und Sizilien«; und diese Welle rollte, derselben Sichtweise zufolge, später in Kleinasien, dem heutigen Irak, Syrien/Palästina, Ägypten, über die Inseln des Mittelmeeres bis nach Arabien und konzentrierte sich dann auf den Mittelmeerraum und Osteuropa. »Ihren glücklichen Abschluss fand sie erst mit den osmanischen Eroberungen auf dem Balkan Ende des Mittelalters« und darüber hinaus (13).
Dem wichtigen Buch sind viele aufmerksame und lernbereite Leser zu wünschen, denn es gilt vieles zurechtzurücken. C. hat wohl völlig Recht: Heute wird kaum noch jemand die historischen »Kreuzzüge« als »triumphale Episode« betrachten – »als heroischen Abschnitt des unaufhaltsamen Aufstiegs der westlichen Welt« über den »faulen, korrupten und barbarischen Osten« oder gar als Be­weis für die Macht des religiösen Gedankens im Mittelalter, als eine Gelegenheit zu kollektiver Buße und als triumphale Entfaltung des christlichen Glaubens (so A. Waas in seiner zweibändigen »Ge­schichte der Kreuzzüge«, [Freiburg 1956; Neuaufl.] Erftstadt 2005; vgl. dagegen C. F. Meyers Gedicht »Berg der Seligkeiten«: »Vom Schwert erkämpft, vom Schwert zerstört./Dies Reich hat nicht dem Christ gehört«!). Die Wurzeln dieser veränderten Sichtweise dürften in der Aufklärung liegen. Danach »waren die Kreuzzüge kein edles europäisches Abenteuer, sondern ein brutaler Angriff des fanatischen, intoleranten und heuchlerischen christlichen Wes­tens, ein Vorläufer des europäischen Kolonialismus, gerichtet ge­gen den unglückseligen islamischen Osten, der in seiner erhabenen Trägheit höchster Zivilisation, Toleranz und Weisheit unversehens konfrontiert wurde mit dem«, was – in Anspielung auf die in Frankreich gängige Rede von den antik-frühmittelalterlichen »Völkerwanderungen« als den »invasions des barbares« – der bedeutende Byzantinist St. Runciman (A History of the Crusades, Cam bridge 1951, Bd. I, XI) »als ›letzter der barbarischen Invasionen‹ bezeichnet hat. Für die meisten heutigen Menschen in Ost und West ist dies das treffende Bild der Kreuzzüge. Osama bin Laden – als Extrembeispiel – empfand die Welt, in der er lebte, als gespalten in Muslime und eine weltweite Kreuzzugsbewegung gegen sie. In ihrer Reduktion hat diese Sicht viel gemein mit der triumphalen Darstellung, an deren Stelle sie vermeintlich getreten ist« (11).