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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1150–1152

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Iwand, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Kirche und Gesellschaft. Bearb., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von E. Börsch.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 349 S. gr.8 = Nachgelassene Werke, N.F. 1. Lw. DM 148,-. ISBN 3-579-01845-0.

Rezensent:

Werner Brändle

1. Nachzulesen, wie ein eigenständiger und kluger Theologe nach dem Ende des II. Weltkrieges das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft neu bestimmen und theologisch begründen will, ist spannend und kann nicht nur von historischem Interesse sein. Es ist deshalb nur zu begrüßen, daß die H.-Iwand-Stiftung bzw. E. Börsch gerade jetzt - in Zeiten des Übergangs- den ersten Band mit der Vorlesung ,Kirche und Gesellschaft’ (vom Sommersemester 1951 in Göttingen) herausgegeben hat.

Um diese Aufgabe sachgemäß zu lösen, versuchte der Her-ausgeber, die Vorlesung aus dem teilweise noch vorhandenen Originalmanuskript als auch aus vielen Mitschriften zu rekonstruieren; allerdings nicht im Sinne einer strengen historisch-kritischen Edition, sondern vielmehr sollte "die Theologie Iwands dokumentiert" (334) werden. Im Anhang sind denn auch zusätzlich schon veröffentlichte Aufsätze I.s abgedruckt, um so die Thematik einerseits zu ergänzen als auch andererseits die Seriosität des Unternehmens zu stützen. Wenngleich dankenswerterweise eine Mischung von Vorlesungsmanuskript und Nachschriften vermieden wurde, so wird - trotz Editionsbericht- nicht immer deutlich, wo und wann der Herausgeber dem Manuskript I.s und wo und wie er den Nachschriften gefolgt ist. Der beigefügte Editionsbericht (330-335) beläßt den Leser in dieser Hinsicht in einer ,vagen Genauigkeit’. Dennoch: das Ergebnis der Editionsarbeit kann sich sehen lassen bzw. der eingeschlagene Weg zwischen textkritischen Hinweisen zu den Varianten und der Wiedergabe (?) des Originalmanusskripts ist pragmatisch und sachgemäß gelöst. Anzumerken bleibt im Blick auf den Herausgeber: Das umfangreiche Nachwort (283-329) - eine kluge Paraphrase der Vorlesung - hätte auch kürzer ausfallen können.

2. Iwand hatte sich mit seiner Vorlesung die Aufgabe gestellt, die Bedeutung herauszuarbeiten, "die die Kirche in der Gesellschaft und für sie hat, wenn der Personbegriff und das Naturrecht nicht mehr der Ausgangspunkt für das Verhältnis beider zueinander sein sollen" (31). Und sein Ziel ist, zu zeigen, daß es ein "Drittes gibt und daß von der Botschaft des Evangeliums her das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft große, neue und hoffnungsvolle Ansätze bietet" (33). Dieses ,Dritte’ bekommt I. dadurch in den Blick, daß er Kirche und Gesellschaft in Relation zum kommenden Reich Gottes stellt. I. lehnt sowohl ein Nebeneinander als auch ein Gegeneinander beider Größen ab; jeder Dualismus ist ihm fremd. Worum es ihm in den vier Teilen seiner Vorlesung - Kirche und Gesellschaft als Thema der Ethik; Theologische Mitarbeit an der ethischen Frage; Kritik und Darstellung vorliegender Ansätze; Das Gebot Gottes als Gebot des Lebens - geht, ist: Kirche und Gesellschaft im Sinne der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre so zu verstehen, daß deutlich wird, Christen sind als Mitarbeiter Gottes in der Gesellschaft und für sie da und sie leben aus der Verheißung des Glaubens an Jesus Christus, gerade weil sie ständig in der Gesellschaft schuldig werden.

Es ist erstaunlich, wie klar und d. h. wie entschieden I. seine politische Ethik christologisch zentrieren und eschatologisch ausrichten kann; und in dieser Weise ruft er selbstkritisch und entschieden die Christen dazu auf, Verantwortung für die Reform der Institution Kirche (1951!) und zugleich für die Gesellschaft zu übernehmen. I.s Vorlesung ist gerade deshalb aktuell, weil er gesehen hat, daß eine Reform der Kirche nur gelingen kann, wenn die der Gesellschaft zugleich - um des Evangeliums willen - gewollt wird. Und seine theologische Begründung dazu heißt: es geht nicht darum, kirchliche oder weltliche Ordnungen oder Traditionen zu verwalten oder zu retten, sondern dem Ruf des Evangeliums Gottes gerecht zu werden. Die Kirche - so schreibt I. ihr ins Stammbuch - "darf nicht mehr sein und gelten wollen als das Wort, das sie bringt. Ihr Zeugnis, mit dem sie das Evangelium von Jesus Christus mitten in der Gesellschaft bezeugt, muß ihr Schicksal und damit auch das der Gesellschaft werden. Sie muß glauben und hoffen können, daß sie von der Gesellschaft um dieses Zeugnisses willen geliebt und getragen, gewollt und wenigstens toleriert sei" (276).

3. Neben diesen - nach wie vor - eindrucksvollen ,Predigten’ für ein politisches Engagement der Christen ist das Kapitel mit der kritischen Darstellung der sozialethischen Positionen aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s sehr interessant und äußerst lehrreich. I. bespricht von seiner Fragestellung aus und mit seiner theologischen Urteilskraft fünf Bücher bzw. Positionen: E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911); F. Gogarten, Politische Ethik (1931); E. Brunner ,Gerechtigkeit’ (1943); K. Barth, Evangelium und Gesetz (1935) und ,Gotteserkenntnis und Gottesdienst’ (1938); P. Tillich, Der Protestantismus ... (1950). I. gelingt es, die verschiedenen Ansätze auf wenigen Seiten sowohl pointiert und mutig zu beschreiben als auch ihre Stärken und Schwächen sachbezogen herauszuarbeiten. Herausgestellt seien hier nur seine hellsichtigen Bemerkungen zu Barth und Tillich. So zeichnet I. gekonnt die theologischen Wandlungen Barths von seiner "anarchischen" (113) Einstellung bis zu seinem Eintreten für einen "politischen Gottesdienst" nach. Barth wolle zeigen, daß es so etwas gibt wie eine "bildende, eine politisch bildende Kraft der Gemeinde und ihrer Ordnung auf den Staat und seine Ordnung hin"(125). Im Blick auf Tillichs Position überrascht die positive Würdigung; Tillich habe klarer als alle anderen gesehen, daß der Sozialismus eine ,geschichtsmächtige Bewegung’ sei, die freilich ihre "angestrebte Theonomie verfehlen kann, und daß dies da eintreten wird, wo die Träger des religiösen Bewußtseins ihm nicht zu Hilfe kommen" (140). Bei Tillich kritisiert er jedoch deutlich die christologischen und ekklesiologischen Defizite seines Ansatzes.

Die mit diesem Band begonnene Edition des Nachlasses von H. J. Iwand ist sinnvoll und kann für unsere Zeit lehrreich werden. I.s Aktualität liegt darin, daß er auf das Evangelium Gottes verweist und unaufhörlich einschärft, daß die Gesellschaft - "trotz allem und allem, was in ihr geschieht - sie dennoch auf diese Botschaft wartet."